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Ein Schaufensterbummel kann etwas Herrliches sein: entspannt durch die City flanieren, hier gucken, da schauen – und vielleicht irgendwo ein Schnäppchen machen, ein besonders hochwertiges Stück ergattern oder gepflegt einen Kaffee trinken. Ähnlich erging es mir mit dem US-amerikanischen Röhrenvollverstärker VTL IT-85 ( 8.690 Euro | www.audio-reference.de), der seine Glimmkolben hinter einer getönten Scheibe versteckt. Ich entdeckte alte und neue Songs in einem anderen Licht und schlenderte quer durch meine Musiksammlung. Begleiten Sie mich doch ein Stückchen …
Daran, wie man sich an einer Schaufensterscheibe fast die Nase plattdrückt, weil man etwas Interessantes erspäht hat, erinnert mich auch mein erster Blick auf die Röhren hinter der Glasscheibe des VTL IT-85. Das Konzept ist eher ungewöhnlich: Während die allermeisten Hersteller von Röhrenverstärkern die Glimmkolben nach vorne ins zentrale Blickfeld des Hörers stellen, versteckt sie VTL lieber hinter einer abgedunkelten Scheibe. Dort kann man sie nur erahnen. Doch es gibt einen Ausweg: einfach den mit wenigen Schrauben montierten Röhrenkäfig abnehmen. Dann sieht man das Röhrenglühen zumindest von oben, wenn man sich vor den Verstärker stellt und herabschaut. Die Schutzscheibe hat jedoch den Vorteil, dass sich niemand so schnell an den heißen Röhren verbrennen kann.
Handarbeit aus Kalifornien
Das schnöde Akronym VTL des Firmennamens steht nicht etwa für „Vermeidung transistorisierter Lösungen“, sondern „Vacuum Tube Logic“. So oder so haben die Amerikaner also Röhren unter dem Kissen, wenn sie einschlafen, und Röhren in den Cornflakes, wenn sie wieder aufstehen. Entwicklung und Herstellung finden in Kalifornien statt, genauer gesagt im 90.000-Seelen-Städtchen Chino. Die Wurzeln der Firma reichen bis ins Jahr 1980 zurück, als der Aufnahme- und Filmtechniker David Manley in Südafrika erste Prototypen für Aufnahmestudios baute. Über den Umweg England landete Manley zusammen mit seinem Sohn schließlich in den USA, wo sie 1987 begannen, dort zu produzieren. Mittlerweile stehen die VTL-Geräte nicht nur in Tonstudios, sondern vor allem auch in Wohnzimmern von High-Endern. Ganz preiswert sind die Produkte der Kalifornier allerdings nicht, der IT-85 gilt mit 8.690 Euro als günstigster Einstieg in die Welt der Glühkolben.
VTL setzt in erster Linie auf Vor- und Endstufen-Kombis in Handarbeit, während wir es beim IT-85 mit einem integrierten Amp, sprich Vollverstärker zu tun bekommen, der bis zu 60 Watt an 5 Ohm pro Kanal leistet. Wobei sich VTL auch beim IT-85 bemüht, Vor- und Endstufensektionen so gut wie möglich voneinander zu trennen, um gegenseitige Beeinflussungen auszuschließen, etwa durch maximal mögliche räumliche Trennung, hochwertige Bauteile und massive Abschirmungen.
Rein und wieder raus – die Schnittstellen
Man merkt diese „Auftrennung“ innerhalb eines Gehäuses auch daran, dass die Vorverstärkersektion über einen gepufferten Pre-Out verfügt, der einen Subwoofer oder eine weitere Endstufe mit Signalen versorgen kann. Zudem ist es möglich, den Vorverstärker des VTL IT-85 zu umgehen, indem der „Processor“-Schalter auf der Vorderseite eingeschaltet wird. Hängt dann hinten an den „Proc/Amp In“-Cinchbuchsen beispielsweise ein Surround-Prozessor eines Heimkinosystem, übernimmt dieser die Pegelregelung. Auffällig ist zudem die Form des Verstärkers: Mit 20 Zentimetern ist er ziemlich hoch, während die Tiefe mit nur rund 28 Zentimetern eher gering ausfällt.
Auf der Rückseite des 23 Kilogramm schweren Amps finden fünf weitere Quellen allesamt per Cinch Anschluss, XLR-Buchsen suchen Freunde symmetrischer Signalführung vergeblich. Auf der Vorderseite befindet sich neben einem Mute-Schalter, dem Lautstärkedrehregler sowie Eingangswahlschalter noch ein Kopfhörer-Umschalter in direkter Nachbarschaft zur 6,35-mm-Köpfhörerbuchse. Laut VTL handelt es sich bei der Kopfhörerverstärkung um kein lästiges Nebenprodukt, sondern um eine ernstzunehmende Lösung, bei der die Röhrenausgangsstufe und der Ausgangstransformator der Leistungsverstärkersektion im Spiel seien. O-Ton: „Purer Röhrenkopfhörerverstärker für Headphone-Enthusiasten.“ Mehr dazu später beim Hörtest.
Keine Experimente
Eine kleine Fernbedienung liegt auch bei, mir ihr lässt sich die Lautstärke regeln und der Verstärker stummschalten, mehr nicht. Sie besteht aus Plastik und wirkt optisch eher billig, da darf man in dieser Preisklasse mehr erwarten. Die Verarbeitung ist in Ordnung, im Vergleich finde ich aber meinen Röhrenvollverstärker PrimaLuna EVO 300 (4.890 Euro) einen Hauch hochwertiger und liebevoller gestaltet. Sehr schön finde ich jedoch die in Silber oder Schwarz erhältliche Frontplatte aus stranggepresstem, gefrästem Aluminium in Kombination mit dem getönten Fenster. Beifall verdient auch das rückseitig abgewinkelte Gehäuse, das den Anschluss der Lautsprecherkabel vereinfacht, wenn man sich von vorne über das Gerät beugt.
Apropos Lautsprecheranschlüsse: Hier findet sich nur eine einzige Option pro Lautsprecher, was keinen Raum für Experimente lässt. Das kommt bei Röhrenverstärkern selten vor, die meisten bieten zwei (4 und 8 Ohm) oder drei Abgriffe (zusätzlich 16 Ohm) für verschiedene Boxenimpedanzen. In Kalifornien setzt man hingegen auf einen universellen 5-Ohm-Abgriff, der sich in der Praxis für die allermeisten Boxen eignen soll. Meine Sonus Faber Olympica Nova 3 (13.400 Euro) und Canton Reference 7 (6.000 Euro) trieb der VTL dann auch völlig problemlos an – bis hin zu hohen Pegeln. Großartig einspielen musste ich das Testexemplar nicht, die leichten Gebrauchsspuren am Gerät zeigen bereits, dass es schon gewisse Stunden und Stationen auf dem Buckel hat.
Die Röhrenbestückung
Für die 60 Watt Ausgangsleistung sorgen ab Werk pro Kanal je zwei klassische, weit verbreitete EL34-Pentoden-Röhren von Electro Harmonix in Push-Pull-Schaltung. Hinzu kommen insgesamt zwei 12AU7-Vorverstärker-Doppeltrioden sowie vier 12AT7-Doppeltrioden (allesamt von JJ Electronic), die als Phasensplitter und Puffer zu den Ausgangsröhren fungieren. Allen Röhren wird ein tendenziell sehr musikalischer und eher weicher Sound nachgesagt (mehr dazu im Hörtest). Eine Umschaltmöglichkeit zwischen Ultralinear- und Trioden-Betrieb gibt es beim VTL IT-85 nicht.
Der VTL bietet also nicht so viele Spielmöglichkeiten (bis auf das Tube Rolling) wie manch andere Röhrenverstärker, in Kalifornien ist man sich also sehr sicher, genau das Richtige zu tun. Mittels der leicht zugänglichen Mess- und Einstellpunkte für die individuelle Ausgangsröhrenvorspannung auf dem Oberdeck sollte hier einmal im Jahr per Multimeter überprüft werden, ob alles noch stimmt.
VTL IT-85 – Hörtest & Vergleiche
Nach einer kurzen Kennenlernphase, in der ich nicht bewusst hörte, ging es los – mit Heißgetränk in der Hand und Knabbereien. Und was soll ich sagen: großes Kino! Man muss keine geübten Ohren besitzen, um zu realisieren, dass der Amerikaner ein besonderer Verstärker ist.
Der richtige Hochton für ein gutes Gläschen Wein
Zum Beispiel bei den Höhen, die zwar viele Informationen liefern, aber zu keiner Zeit aufdringlich oder gar spitz oder scharf klingen. Vielmehr haftet dem Hochton eine gewisse Seidig- und Geschmeidigkeit selbst bei arg verzerrten E-Gitarren an, die diese nie unangenehm werden lassen. Das soll aber nicht heißen, dass der VTL IT-85 die hohen Frequenzen merklich glattbügelt und abrundet, sondern einfach eine etwas mildere und damit sehr langzeittaugliche, pegelseitig nur leicht zurückgenommene Abstimmung bietet.
In dieser Hinsicht unterscheidet er sich übrigens schon von seinem Röhren-Konkurrenten PrimaLuna EVO 300, der im Hochton (zumindest im Ultralinear-Betrieb) etwas forscher und frischer vorgeht, wie ein besonders prägnantes Musikbeispiel zeigt: das aktuelle Filter-Album The Algorithm. Hier hatte der Produzent einen schlechten Tag oder einen in der Krone (oder beides), da alle Stücke der Industrial-Rock-Helden zu hell, blechern, dünn und aggressiv klingen. Mit den meisten Verstärkern macht beispielsweise das hymnische „Summer Child“ gerade bei höheren Lautstärken so gar keinen Spaß mehr, während es mit dem VTL IT-85 noch halbwegs erträglich ist. Ein kleiner Bombenentschärfer, der mich mit Blick auf die grundsätzliche Hochtoncharakteristik leicht an den souveränen Transistor-Vollverstärker Rega Aethos (4.399 Euro) erinnert. Auch mein Transistor-Vollverstärker-Whopper McIntosh MA8900 AC (damals 9.780 Euro) schlägt in eine ähnliche Kerbe und gibt sich eher etwas verzeihender obenherum.
Es wird Sie folglich sicher nicht überraschen, dass sich die Gesamttonalität des VTL IT-85 nicht auf der hellen, frischen, allzu analytischen Seite bewegt, sondern eher auf der warmen. Der Amerikaner spricht in erster Linie Genusshörer an, die mit einem Gläschen Wein in der Hand in die Musik eintauchen wollen, und das gelingt ihm wahrlich hervorragend. Er zählt zu jenen Musikmaschinen, bei denen man kaum mehr die Details hinterfragt, sondern einfach nur genießt und sich ins Geschehen einsaugen lässt. Das gelingt in dieser Form längst nicht allen ambitionierten Verstärkern dieser Preisklasse und darüber hinaus. „The Loneliest Hour“ vom neuen Takida-Album The Agony Flame klingt beispielsweise weder mit meinem McIntosh MA8900 AC noch mit dem PrimaLuna EVO 300 so emotional-mitreißend, organisch und irgendwie „richtig“ wie mit dem VTL IT-85.
Schöngeistig
Klar, ein solches Verstärkerkonzept wie der VTL IT-85 packt in puncto Grobdynamik nicht ganz so stark zu wie der McIntosh-Transistor oder die Krell-Wuchtbrumme K-300i – aber auch nicht wie der PrimaLuna, der in dieser Hinsicht für Röhrenverstärker Außergewöhnliches leistet. Während Letzterer voll auf den Putz haut, geht der VTL grobdynamisch nicht so brachial und etwas runder vor. Sprich: Er wird dem Bild eines Röhrenverstärkers eher gerecht, weil er sanfter und nicht so zackig aufspielt, viele werden das mit „schöner“ assoziieren. Wobei ich nie Bedenken habe, dass dem Kalifornier die Puste ausgehen oder das Ganze zu lasch klingen könnte. Die potenziellen 60 Watt im Hintergrund schieben eben doch ordentlich an, wie etwa „Better Luck Next Time“ vom ehemaligen KMFDM- und Marilyn-Manson-Gitarristen Skold (Album: Seven Heads) zeigt: Als das Schlagzeug nach dem atmosphärischen Beginn einsetzt, hinterlässt das ordentlich Eindruck.
Bei der Feindynamik setzt der VTL IT-85 ebenfalls eher auf Fluss als auf Attacke, wobei das Pendel nur ganz leicht in diese Richtung ausschlägt. Nachvollziehbar mit dem Minialbum Pittsburgh von William Fitzsimmons. Der US-amerikanische Singer-Songwriter erweist darauf seiner verstorbenen Großmutter auf sehr anrührende und leise Art und Weise die letzte Ehre. Im schwebenden, sehr zugenommenen „Beacon“ beschreibt er ihre letzten Minuten und das Hinübergleiten, wobei nur kleine Lautstärkeunterschiede auftreten. Der Verstärker verschweigt dabei nichts und stellt die feinen Pegelunterscheide präzise, wenn auch nicht mit überdeutlicher Randschärfe dar. Das ist bestimmt auch nicht die Intention seiner Erbauer, denn der VTL IT-85 ist kein Spalter, sondern ein Umarmer und Tröster.
Nur logisch, dass der Amerikaner keine auf ostentatives Auflösungsverhalten getrimmte Akustiklupe ist, die jedes noch so winzige Detail auf dem Servierteller präsentiert, er möchte dies bestimmt auch gar nicht verkörpern. Hier liegt der VTL IT-85 ungefähr auf dem Niveau meines McIntosh MA8900 AC sowie etwas unter dem Krell K-300i.
Goldener Mittelweg im Süden
Die Basswiedergabe des VTL IT-85 empfinde ich als sehr angenehm: tief, aber nicht ultratief, konturiert, aber nicht drahtig, genau, aber dennoch lässig genug. Weder schlank noch besonders voluminös – ein schöner Mittelweg also.
„Standstill“, die Eröffnungsnummer des neuen Whispering-Sons-Albums The Great Calm leitet das Stück mit einem herrlich tiefen Bollerbass ein, der leicht ins Schwabbelige kippen kann, wenn der Verstärker zu bassstark ist oder die Boxen zu nah in den Ecken stehen. Nicht so beim VTL IT-85, der in Kombination mit der Canton Reference 7 stets einen wunderbar durchhörbaren Tiefton bietet, der beim erwähnten Stück nicht über die Stränge schlägt, aber auch nicht zu zahm oder zu soft wirkt. Der PrimaLuna EVO 300 bietet im Vergleich mehr Pegel und Volumen, bei ihm muss ich die Lautsprecher ein Stückchen weiter im Raum platzieren, damit es nicht zu viel Tieftonenergie wird.
Schmelz bei Stimmen
Die Mitten des VTL IT-85 glänzen mit wunderbaren Klangfarben sowie einem Schuss Wärme, wie man ihn sich von Röhrenverstärkern meist erhofft. Das einzigartige Organ Peter Heppners weist mit dem VTL IT-85 beispielsweise noch etwas mehr Schmelz und Wehmut auf als sonst, wenn es sich in „Suddenly“ (Album: Solo, 2008) tief ins graue Seelenleben gräbt. Dabei ertränkt der VTL die melancholische Stimme des ehemaligen Wolfsheim-Sängers nicht in Tränen und weiche Taschentüchern, sondern deckt ihre Schattierungen sehr transparent auf. Wer auf die Stimm- und Mittenwiedergabe großen Wert legt, sollte den US-Amerikaner auf jeden Fall in die enge Auswahl ziehen. Hier berührt er mich beispielsweise einen Hauch mehr als mein PrimaLuna EVO 300, der in dieser Hinsicht schon sehr gut ist. Auch meinen McIntosh MA 8900 AC lässt er in der Mittendarstellung hinter sich und zaubert dieses gewisse Etwas hervor, das im Duden unter G wie Gänsehaut zu finden ist.
Großformatig
Freunde großer Bühnen kommen ebenfalls auf ihre Kosten. Die Abbildung reicht seitlich ein gutes Stück über die Schallwandler hinaus und löst sich locker-flockig von ihnen. Die Wiedergabe startet auf Höhe der Lautsprecherbasislinie und dehnt sich weit, aber nicht übertrieben weit nach vorne aus. Das ergibt unterm Strich eine angenehm involvierende Bühnenabbildung mit schöner Tiefenstaffelung – die einzelnen Instrumente erscheinen tadellos ortbar und dreidimensional im Raum. Das letzte Fünkchen Randschärfe der Instrumente Stimmen will der VTL IT-85 dabei nicht knallhart nachzeichnen, wie gesagt: Die Stärke dieses Verstärkers liegt eher im Vereinigen als im Abgrenzen.
Und per Kopfhörer?
Zum Schluss noch die Kopfhörerverstärkersektion: Die kann nicht ganz mit der Performance der Lautsprecheranschlüsse mithalten. Mir fehlt sowohl mit dem Focal Clear MG als auch mit dem Hifiman Arya ein bisschen Punch, das Ganze wirkt bisweilen etwas zu soft und lieblich. Geschmackssache, ich persönlich würde den VTL-IT 85 nicht als Ersatz für einen vollwertigen Kopfhörerverstärker der Topliga nutzen.
Test: VTL IT-85 | Vollverstärker