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Victoriah Szirmai / April 2012
Diese Ausgabe unserer Musik-Kolumne enthält acht neue Platten von folgenden Künstlern: Olli Schulz | Meike Schrader | Aretha Franklin | Michael Kiwanuka | Bartmes | Soap & Skin | Death by Chocolate | Mark Lanegan Band
Olli Schulz | S.O.S. (Save Olli Schulz)
Eigentlich müsste man die Musik von Olli Schulz als klingenden Anachronismus bezeichnen, in einer Welt, in der die (aufnahme-)technischen Möglichkeiten ins schier Unbegrenzte und auch für Privatleute Bezahlbare zu wachsen scheinen und jeder Amateursänger vom Lande mit geringem Aufwand in der Lage ist, seine Stücke zumindest klanglich auf Hochglanz zu polieren. Ein bisschen Hall/Reverb hier, einen kleinen Equalizer da, ganz zu Schweigen von Scheußlichkeiten wie Auto-Tune …
Olli Schulz‘ neues Album S.O.S. dagegen kommt sympathisch effektlos daher, sicherlich nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass er es mit seinen – wenigen – Mitmusikern in einem winzigen Studio auf einer einzigen, gemeinsam genutzten Tonspur aufgenommen hat – nachträgliche Korrekturen einzelner Parts ausgeschlossen. Das klingt im Endergebnis so, als säße der Liedschreiber mit seiner Gitarre direkt neben einem am Lagerfeuer. Kann das verwöhnten HiFi-Enthusiasten gefallen? Kann es, wenn sich ihr Interesse nicht lediglich auf den reinen Klang beschränkt (der hier durch die dichte, eine Live-Atmosphäre nachempfindende Produktionsweise des großartigen Beatsteaks- und Tocotronic-Produzenten Moses Schneider gekennzeichnet ist), sondern auch das, was man daraus machen kann – im Allgemeinen Musik genannt – mit einschließt. Und dass das der Fall ist, beweisen Sie ja jeden Monat aufs Neue als treue Leser dieser Kolumne. Sie sollen nicht enttäuscht werden, denn auch musikalisch ist auf S.O.S. allerhand los.
Wer Olli Schulz vor allem aus seinen Zeiten als Olli Schulz und der Hund Marie kennt, erwartet eine Sammlung schrammeligen Indie-Rocks. Indessen hat S.O.S. ein musikalisches Spektrum zu bieten, das weitaus über indieesken Akustik-Gitarren-Pop reicht und sich von Hamburger Schule über Liedermacher bis zur lupenreinen Reggae-Nummer erstreckt. Zugegeben: Gleich der Opener „Wenn es gut ist“ schrammelt in bester Der-Hund-Marie-Manier vor sich hin, aber schon „Irgendetwas fehlt“ ist ungewohnt poppig und überraschend radiotauglich. Und Radiotauglichkeit – nicht im platt kommerziellen, sondern im angenehm eingängigen Sinne – ist ohnehin etwas, was man diesem Album fast durchweg attestieren kann.
So beispielsweise bringt mein S.O.S.-Lieblingssong „Schrecklich schöne Welt“, nicht zuletzt dank der Orgel von Christopher Noodt, mit seinem sonnigem Reggae-Vibe größtes Potenzial zum Sommerhit mit, wenn, ja wenn, Sommerhits mehr sein dürften als hirnloses Plastikdrumgeblubber. Denn sowohl Plastik als auch Hirnlosigkeit sucht man auf S.O.S. vergebens; hier dominieren echte Menschen, die einen organischen Klang erzeugen, und Texte, die nicht nur die nächste Party auf Ibiza besingen, auf „Schreckliche schöne Welt“ zum Beispiel die Schreckstarre des Individuums, das sich mit einer Überzahl von Lebenswurf-Optionen konfrontiert sieht. Anything goes bedeutet eben manchmal auch, dass nichts mehr geht. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin gottfroh über die Möglichkeiten, die mir das heutige Leben bietet. Doch gleichzeitig bedeutet die Wahlmöglichkeit auch das Muss zur bewussten Entscheidung und der Übernahme von Verantwortung. Kein Wunder, dass sich manche von uns da lieber treiben lassen und es obendrein noch mit „Chillen“ verwechseln. Tja, mit Mitte dreißig hat es sich dann ausgechillt.
Spätestens mit „Ich dachte du bist es“ stellt sich eine leichte Melancholie ein, die für das restliche Album kennzeichnend bleiben soll: Eine sachte Wehmut ob der Vergänglichkeit der Dinge, ein leichtes Bedauern über verpasste Gelegenheiten und individuelle Verlorenheit, die so bezeichnend ist für Mittdreißiger. Ja, in dieser Beziehung lässt sich Olli Schulz tatsächlich mit der von mir als „Philosophin unserer Generation“ bezeichneten Violetta Parisini vergleichen, denn auch er trifft das Lebensgefühl dieser orientierungslosen Generation genau auf den Kopf. „Es geht schon so ein bisschen darum, dass man auf der Suche ist“, sagt der Sänger im Interview, „und dass sich viele darin verirren, in dieser Suche, und dann nur noch auf der Suche sind.“ Klar, dass auch die unvermeidlichen Statussymbole der in den späten Siebzigern Geborenen, wie beispielsweise die allgegenwärtigen Chucks, auf S.O.S. ihren großen Auftritt haben. Nicht zuletzt geht es um die Verwunderung darüber, wie man selbst sich verändert. So staunt der von der Plattenfirma als „unwiderstehlicher Realromantiker“ bezeichnete Schulz im autobiographisch geprägten „Old Dirty Man“ darüber, dass „die Jahre vergeh’n“ und er „mit der Zeit ganz schön komisch geworden“ ist.
Es lässt sich nicht abstreiten: Auch wenn Olli Schulz in seinem Pressebegleitbrief zur Platte schreibt, man stolpere „von einem Abenteuer zum nächsten, versucht, ein guter Mensch zu sein, zeigt seine Wunden, solidarisiert sich mit der Ahnungslosigkeit, verbarrikadiert sich gegen das Erwachsenwerden“ – der ehemalige Gitarrenjunge ist erwachsen geworden, und seine Hörer mit ihm. Und wenn man erst einmal eine Familie gegründet hat und das eigene Kind mit Fieber im Bett liegt, werden Luxusprobleme wie Meine-100-Quadratmeter-Wohnung-im-Prenzl’berg-hat-nicht-genug-Sonne mit einem Mal relativiert. „Es kostet dich einen Anruf, diese Situation zu ändern“, ereifert sich Schulz und widmet den um ihre eigenen Problemchen kreisenden Jammerern sympathischerweise den Song „H.D.F.K.K.“ („Halt die Fresse, krieg ’nen Kind!“). Ja, dass musste endlich mal gesagt werden, auch wenn der Song eigentlich nicht ganz ernst gemeint ist.
Schulz hat kein Problem damit, dass sich Albernes und Ernsthaftes auf S.O.S. ganz einträglich die Spielzeit teilen. Bezaubernd Unsinniges in Form kleiner Zwischenspiele à la „Stell dir mal vor, Goethe, Bach und Schiller/und Kant/wär’n alle an dem Strand“ und Songs wie „Spielerfrau“ reiht Olli Schulz an Lieder, die existenzielle Themen behandeln, wie beispielsweise die unglaublich zärtliche, liedermachereske Erzählung „Koks und Nutten“, in welcher der Ich-Erzähler in der Vergangenheit liegendes Fehlverhalten mit „Ich kannte mich nicht gut genug, um mit dir ehrlich zu sein“ erklärt und letzten Endes auch nur einer ist „auf der Suche nach dem Moment/wo die Musik jeden Lärm und jeden Schmerz von dir nimmt“ – Sätze, die man mit dem Comedian Olli Schulz so gar nicht in Einklang zu bringen möchte. Doch, wie er selbst sagt, habe er schon vor Jahren aufgehört, Angst davor zu haben, dass seine Ausflüge in die Albernheit seine Glaubwürdigkeit unterminierten: „Viele Leute haben mir gesagt, Olli, werd mal witziger, mach doch nur noch witzige Sachen, andere haben gesagt, ey, du musst aufhören mit diesem albernen Scheiß, sonst nimmt dich keiner ernst … Ich hab‘ das über die Jahre immer so gemacht, nur so ist es gut.“
Meike Schrader | Das Grün in deinen Augen
Und gleich noch eine Platte, die das Lebensgefühl der Mittdreißiger voll trifft und dabei keine Angst hat, dem jüngst wiederbelebten Genre des Liedermachertums neue Facetten hinzuzufügen, die ihm die letzten Reste seiner Achtzigerjahrebräsigkeit nehmen und es zum Soundtrack der 2010er-Jahre machen, aktuell, modern, zeitgemäß. In Erwartung, einen weiteren Drahtseilakt zu hören, habe ich Meike Schraders Das Grün in deinen Augen in den CD-Spieler geschoben, doch schon der Kontrabass-dominierte Opener „Sicherhalt“, der eingangs mehr Jazz-Poetry/Spoken Word denn Pop-Song ist, lässt eine Platte erwarten, die öfter als zu Rezensionszwecken gehört wird. Und ja, in das Full-Lenght-Debüt Schraders, das nun der EP „… mein Hafen“ folgt, kann man sich langfristig verlieben.
„Im Ring“ deutet noch darauf hin, dass wir es im Folgenden mit einem eingängigen Jazz-Album zu tun haben, doch schon der dritte Track „Utopia“ nähert sich dem Gehör im Stil einer Orgel-lastigen Rod Temperton’sche Ballade, während „Ach bitte“ mit seinem Zirkuswalzer-Klezmer-Style überrascht und entzückt. Die Hamburger Pianistin und Sängerin Meike Schrader bezaubert nicht nur mit ihren poetischen Texten, sondern auch mit einer stilistischen Vielfalt, die bei den meisten aufgesetzt daherkommen würde, bei ihr aber gelebt klingt. Das verwundert auch nicht, verdeutlicht man sich, dass Schrader zu Beginn ihrer musikalischen Karriere solch unterschiedlichen Künstlern und Projekten wie Udo Lindenberg oder Fettes Brot ihre Stimme lieh, die immer gänzlich unaufgeregt und wie en passant eingesungen klingt – nicht zu verwechseln mit cool oder leichtfertig!
„Ein neuer Tag“ dann gemahnt an die erste – und einzig schöne, weil unpathetische – Strophe von Michael Jacksons „Earth Song“, bleibt aber glücklicherweise absoluter Torch-Song, in einem Atemzug zu nennen mit den Liedern Sarah Cracknells oder Elizabeth Frasers. Recht eigentlich gilt dies für das ganze Album: Meike Schrader hat ein modernes Torch-Album gemacht, wie wir es seit langem nicht mehr hören durften, selbst wenn viele Kollegen, zu Unrecht, wie ich finde, Liz Green als Torch-Sängerin bezeichnen. Vor allem auch der Titeltrack „Das Grün in deinen Augen“ ist ein klassischer Torch-Song, der nicht nur mit Tiefgang, sondern vor allem durch charmante Situationsbeobachtung besticht: Und wir bleiben immer öfter steh’n, denn im Geh’n lässt es sich nicht gut in die Augen seh’n.
Der „Kaffeehaussong“ ist wiederum ein schöner Kontrabass/Piano/Besenschlagzeug-Jazz-Schmeichler in klassischer Besetzung, und hier wird ohrenfällig, dass das, was Annett Louisan immer so verzweifelt versucht hat, mit Leichtigkeit gelingen kann. Dennoch sind gewisse Parallelen zu der Kindfrau des Chanson nicht von der Hand zu weisen, was vor allem der Tatsache zu verdanken ist, dass Meike Schraders Musiker an Trompete, Posaune, Klarinette, Violine und Cello im Gefolge Lousians und Roger Ciceros gespielt haben. Indessen: Es ist sehr schön, diese Art von Musik auch einmal mit Texten jenseits der Ironie aus der Feder des omnipräsenten Frank Ramonds zu hören, sondern aus einer femininen, aber nicht mädchenhaften Perspektive! Dies gilt insbesondere für das Stück „Hamburg, mein Hafen“, das nicht nur das Loblied der Hansestadt singt, sondern einmal mehr das Lebensgefühl unserer Generation auf den Punkt bringt, den Status Quo mit nüchternem Realitätsblick bestimmt („Wir stehen früh auf/wenn es das Leben verlangt“), aber trotzdem noch voll romantischer Ideale ist („Wir träumen noch vom Apfelbaum in Omas Garten“) und letzten Endes froh darüber ist, dass wir zwischen allen Stühlen sitzen, „keine Werber und keine Hippies“ sind und uns auch ohne Geld auf der Bank reich fühlen. Es muss nicht immer die Quarterlife Crisis sein – Quarterlife Celebration geht auch! Eine Hymne, der Song, mit einem aufs erste Hören gewinnenden Refrain.
Noch mehr groovt nur das „Wiegenlied“, das so gar nicht wiegend, sondern dank eines hochakzentuierten Pianos mit vielen Breaks in den Beats daherkommt – irgendwo zwischen Bigband, Soul und Funk. Definitiv mein Lieblingssong des Albums, wobei die Wahl unglaublich schwer fällt, denn (fast) alle Songs von „Das Grün in deinen Augen“ sind Lieblingssongs! Eine großartige Platte, zart, aber nicht zu melancholisch. Einzig auf „Halt mich“ wird es liebeskummergeplagt düster, während der chansonartigen Schlusstrack „Die Geister, die ich rief“, die komplette Streicher-Besetzung auffährt, ach, das wäre auch ohne gegangen, denn hier fühle ich mich einmal mehr an die Louisan erinnert. Glücklicherweise steckt auch in diesem Song etwas „Killing me softly“-Atmosphäre, womit Meike Schrader ihren Status als Torch-Sängerin einmal mehr zementiert. Einfach schön und hochgradig erfreulich, da singt das Kritikerherz!
Aretha Franklin | I Knew You Were Waiting – The Best of 1980-1998
Natürlich hat diese Ausgabe von Victoriah’s Music aber auch all denjenigen, die sich gerade nicht in der Quarterlife-Crisis befinden beziehungsweise diese glücklich überwunden haben, etwas zu bieten. Schließlich fokussiert I Knew You Were Waiting – The Best of 1980–1998 nahezu ausschließlich auf die Uptempo-Nummern von Soul-Queen Aretha Franklin, hat man erst einmal die herzzerbrechenden Opener „United Together“ und „Love All The Hurt Away“ erfolgreich hinter sich gebracht.
Pünktlich zum siebzigsten Geburtstag Franklins, die Gewinnerin von fünfzehn Grammy Awards ist und als erste Frau in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen wurde, lässt diese Compilation irgendwo zwischen synthiedominierter Großer Ballade und einer Achtziger-Disco-Plastikbassdrum, für die sich heutzutage jeder Musikproduzent schämen würde (und sollte!), einige der größten Hits fast zweier Dekaden neu aufleben, die in enger Zusammenarbeit mit Arista-Präsident Clive Davis entstanden sind. Als Aretha Franklin 1980 bei Arista unterschrieb, musste sie nichts mehr beweisen, denn schon lange zuvor hatte sie die Grenzen des Rhythm & Blues neu definiert, und konnte jetzt getrost ihre rockige Seite ausleben und auch die eine oder andere Scheußlichkeit aufnehmen, den geschmacksverirrten Achtzigern angemessen.
Wer beispielsweise erinnert sich nicht an das titelgebende Hit-Duett „I Knew You Were Waiting (For Me)“ mit George Michael? Damals ein Riesen-Hit, heute schwer erträglich. Und so eignet sich „I Knew You Were Waiting – The Best of 1980–1998” vor allem hervorragend dazu, in Reminiszenzen an Schuldisco & Co. zu schwelgen. Davon abgesehen haben Songs wie „Who’s Zooming Who“ (1985), „Sisters Are Doin’ It For Themselves“ (1985, mit den Eurhthmics) oder „Jumpin’ Jack Flash“ (1986, mit den Rolling Stones) bis heute nichts von ihrer Strahlkraft verloren. Seit den Pointer Sisters hat es keinen besseren Soundtrack gegeben, will man sich für eine Disco-Nacht in Stimmung bringen!
Doch auch für all jene, die die Franklin vor allem von ihren noch heute oft gecoverten Hits der späten Sechzigerjahre wie „Respect“, „(You Make Me Feel Like) A Natural Woman“ oder „I Say A Little Prayer“ kennen, ist diese Compilation eine schöne Einführung in das Spätwerk der Sängerin, obgleich einige der Achtzigerjahre-Hits ob ihres Pathos nicht auszuhalten wären, wenn es nicht Aretha Franklin wäre, die da sänge. Rein musikalisch steht mir persönlich die Franklin der späten Neunziger näher, als ihr die damals top-angesagte Fugees-Sängerin Lauryn Hill das Über-Lied „A Rose Is Still A Rose“ inklusive einer neu eingesungenen „What I Am Is What I Am“-Sequenz von Edie Brickell auf den Leib schrieb. Von diesem Song gibt es übrigens einen ganz großartigen Desert-Eagle-Remix und einen nicht minder großartigen London-Connection-Remix – halten Sie Augen und Ohren offen, wenn Sie den finden. Er kann gewissermaßen als Vorläufer all dieser „Tanzmusik für Intellektuelle“, ob Verve Remixed oder Blue Note Trip, betrachtet werden, clubbig, dubbig, chillig, trancig, loungig, triphoppig.
Völlig unverständlich ist mir indessen, weshalb das für diese Epoche so relevante „A Deeper Love“ von 1994 auf dieser Compilation fehlt – definitiv einer der größten Hits der Franklin, der nicht zuletzt ob seiner C+C-Music-Factory-Remixe berühmt wurde. Vollständigkeit kann „I Knew You Were Waiting – The Best of 1980-1998“ allein aufgrund dieses Versäumnisses nicht beanspruchen. Was hier fehlt, ist mit „Through The Storm“ definitiv zu viel, denn ich bekomme Gänsehaut der unguten Art, wenn man mich zwingt, Elton-John-Duette zu hören. Auch „It Isn’t, It Wasn’t, It Ain’t Never Gonna Be“ muss ich, bei aller Pietät vor der mittlerweile verstorbenen Duett-Partnerin Whitney Houston, bescheinigen, ein grauenvoller Plastiksong zu sein. Eine weitere Verirrung ist die weichgespülte Kenneth ‚Babyface‘ Edmonds-Ballade „Willing To Forgive“ (1994), die nur unter pophistorischen Gesichtspunkten als interessant zu bezeichnen ist.
Was jedoch in jeder Hinsicht Respekt verdient, ist die Gesangsleistung Aretha Franklins selbst bei den gruseligsten Songs. Sie ist und bleibt nun einmal eine der größten Vokalistinnen unserer Zeit, deren Stimme selbst eine voll aufgefahrene Achtzigerproduktionsschallwand nicht im Geringsten erdrücken kann. In diesem Sinne: Auch von uns alles Gute zum Siebzigsten!
Michael Kiwanuka | Home Again
Von seinem Siebzigsten ist der 1987 geborene Musiker Michael Kiwanuka noch weit entfernt. Genügend Inbrunst in der Stimme, um jetzt schon als heißeste Retro-Soul-Hoffnung gehandelt zu werden, hat er aber. Wunderknaben sind in diesem Genre ja mittlerweile an der Tagesordnung – man denke hier nur an Künstler wie Daniel Merriweather oder Mayer Hawthorne, die den Klängen von Motown und Staxx huldigen. Kiwanuka hingegen würde man nicht gerecht werden, schöbe man sein jüngst veröffentlichtes Debütalbum vorschnell in die Retro- bzw. NuSoul-Ecke ab; denn auch wenn der junge Londoner von so manchem Kritiker als Wiedergänger von Bill Withers bezeichnet wird und sich in dessen Musik „endlich zuhause“ fühlt, klingt Home Again nicht wie die hundertste Rückbesinnung auf die Wurzeln des Soul, sondern so, als sei das Album tatsächlich zu dessen Blütezeiten entstanden: Der Opener „Tell Me A Tale“ in den Strophen eine fast einhundertprozentige Reproduktion von Marvin Gayes „Trouble Man“, der Good-good-lovin’-Refrain wie direkt der Feder Smokey Robinsons entfleucht, während sich „Bones“ mit Leichtigkeit aus dem Repertoire von Ray Charles in die Gegenwart verirrt haben könnte. Und auf Songs wie „I’m Getting Ready“ schimmert gar ein bisschen Leonard Cohen durch.
Es gibt sie also unbestreitbar auf „Home Again“, die Referenzpunkte aus der Soul- und Popgeschichte. Auch der Verzicht auf jedwede zeitgeistigen Studio-Gimmicks erschwert die Einordnung. Kiwanukas Gesang aber weist das Album als absolut zeitgemäß aus; und so verwundert es dann auch kaum, dass es in der alljährlich durchgeführten „Sound of“-Umfrage der BBC zum „Sound of 2012“ gekürt wurde. Damit befindet er sich in illustrer Riege: 2011 gehörte James Blake, 2010 Ellie Goulding zu den Preisträgern.
Auch der studierte Jazz-Gitarrist Michael Kiwanuka treibt die Lust am Ausloten von klanglichen Grenzen in experimentelle Gefilde: Da gibt es jazzige Flöten, afrikanische Rhythmen und vor allem viel, viel Folk. Der obligatorische Flirt mit „exotischen“ Instrumenten wie Tabla, Sitar oder Kora darf da natürlich auch nicht fehlen, die Schellentrommeln klingen, die Streicher singen; und Dylan’s Tambourin Man guckt hier ebenso um die Ecke wie die Blüten im Haar, mit denen man zurück nach San Francisco geht, während man den Track „I Won’t Lie“ schon als nachgerade countryesk bezeichnen muss. Trotz aller klanglichen Analogien zu Gayes bahnbrechendem „Trouble Man. I Want You“ (1975), mit welchem dieser seine künstlerische Eigenständigkeit von Motown erstritten und den glattgebügelten Soulkosmos des Detroiter Labels um tiefergehende musikalische Experimente erweitert hatte, möchte ich Kiwanukas „Home Again“ nicht als Soulalbum bezeichnen. Denn im Grunde genommen ist es ein rechtes Hippie-Album im Geiste des Woodstock-Veteranen Richie Havens, oder von mir aus auch Terry Calliers beziehungsweise Gil Scott Herons. Dafür sorgt nicht zuletzt Paul Butler, der sich in der Sechzigern einen Namen als Produzent der Bees gemacht hat. Kiwanuka wiederum nennt Joni Mitchell seinen größten Einfluss.
Dieses Album ist einfach ein Rätsel. Es klingt mehr nach Soul als alles andere, was man heutzutage hört, ohne jedoch Soul zu sein. Es nutzt musikalische Zutaten, die für gewöhnlich einem verschworenen Kreis von Besserhörern vorbehalten sind, hier aber plötzlich die Massen begeistern. Eigentlich müsste so ein Album sperrig sein. „Home Again“ aber ist unglaublich eingängig. Man hat das Gefühl, Ohrenzeuge von etwas ganz Großem zu werden. Ein ähnliches Hörgefühl hatte ich, neben dem hier schon zweimal bemühten „Trouble Man“, nur noch bei dem Debütalbum von Seal, das mit dem seichten Kommerzsoulpop des heutigen Model-Exgatten nichts gemein hatte, wobei Kiwanuka weitaus weniger Indie ist als sein Landsmann, aber mit ähnlicher Intensität unter die Haut geht. So bildet den krönenden Abschluss und gleichzeitigen Höhepunkt dieses auch formal klassischen 10-Track-Albums der bluesige Schleicher „Worry Walks Beside Me“, der so inbrünstig gesungen wird, dass die weibliche Hörerschaft kollektiv aufspringen und Michael Kiwanuka all seiner Sorgen entheben mag.
Plattenkritik: Olli Schulz | Meike Schrader | Aretha Franklin | Michael Kiwanuka | Bartmes | Soap & Skin | Death by Chocolate | Mark Lanegan Band