April 2012 / Victoriah Szirmai
Wer an Maia Vidal und Yael Naim Gefallen gefunden hat, wird sicherlich auch an den offenen Geheimnissen der Violetta Parisini seine Freude haben. Allein der Opener „More Than That“ ist die Anschaffung des gesamten Albums wert, wie er sich da so im trockenen Lo-Fi-Modus mit Glockenspiel und scheinbar beiläufigem, sprödem Gesang anschleicht, bevor Portishead’sche Klangflächen den Kopfhörer zum Explodieren bringen.
Mit Einsetzen des Pianos wiederum erinnert mich „More Than That“ an Craig Armstrongs „Weather Storm“ einerseits, an Neneh Cherrys „Somedays“ andererseits. Nicht die schlechtesten Referenzen. Und ganz von ungefähr – denn de facto ist keines zu hören – kommt es mir vor, als sänge auf „More Than That“ in der Ferne ein Bandoneon; vielleicht, weil es um diese Sehnsucht geht, die man an solch „sensitive days“ fühlt, wo „you were on my mind and I know that I – I might be on yours, sometimes“. Schön, das.
Der zweite Song ist da herkömmlicher geraten, ja, fast schon könnte man ihn als fröhlich bezeichnen. Und Track drei fängt nicht nur an ab der Mitte richtig zu rocken – auch seine Forderung „I Want It All“, selbst wenn sie sich hier am Liedende mit „Not To Be True“ auflöst, kommt mir momentan sehr entgegen. Vielleicht liegt das Geheimnis dieser Platte dann auch eher im Lebensgefühl, das sie verkörpert und das meines gerade trifft. Allerdings würde man unter dieser Prämisse der Musik der 31-jährigen Autodidaktin, die über den Umweg eines Philosophiestudiums zur Musik gefunden hat, nicht gerecht werden, denn die ist ganz zauberhaft. So beispielsweise lässt „See“ in seiner Abzählreimmanier Reminiszenzen an Dillons „Tip Tapping“ aufkommen und erfüllt meinen damals postulierten Wunsch nach mehr – mehr davon! Im Gegensatz zu der jungen Brasilianerin aber sind Parisinis Texte nicht mehr so sehr auf der Suche – vielmehr besingen sie das Glück des Erwachsengewordenseins, wo man plötzlich „in love“ mit „reality“ fällt: fall in love all the time/but I’m so glad to go to sleep with you/to wake up next to you. Genauso schön, das.
Ohnehin ist „Glück“ – selbst wenn ihre aus den tiefsten (Ab-)Gründen der Seele emporzukommen scheinende Stimme hin und wieder droht, sich in gefährlicher Melancholie zu verlieren – das große Stichwort für Violetta Parisinis zweites Album. Mädchenmusik ist das hier definitiv nicht mehr. Vielmehr eröffnet „Open Secrets“ dem Hörer, der auch schon das ein oder andere erlebt hat in seinem Leben, auf sehr eindringliche Weise Strategien und Wege zum individuellen Lebensglück. Zitat aus der Pressemitteilung: „Parisinis Gesang lockt emotional Unbehauste in ein Versteck, wo das, was als kollektive Zukunft schwarzgemalt wird, nicht mehr gangbar ist.“
Treffender hätte ich es nicht formulieren können, denn die offenen Geheimnisse scheinen jene von Europas neuer verlorener Generation zu sein, also der, die jetzt Ende zwanzig bis Ende dreißig ist und die weder die Jobgarantie der Vorgängergeneration mitbekommen hat noch die Ellbogen der jetzt in den Startlöchern Stehenden, die zudem noch vernünftiger und schlichtweg mit mehr Plan ausgestattet zu sein scheinen. Wir dagegen, wir treiben so vor uns hin, durch eine mittels endlosen Studiums verlängerte Jugend von Party zu Party, von Job zu Job, Projekt zu Projekt und Liebesbeziehung zu Liebesbeziehung. Ein Ankern, wie Parisini es besingt, müsste reinster Seelenbalsam sein, aber ach! – und jetzt kommt die melancholische Komponente ins Spiel –, können wir das überhaupt (noch) nach so vielen Jahren Ego-Pflege?
„Open Secrets“ trifft einfach einen ganz aktuellen Lebensnerv und erhebt Parisini in den Rang der Philosophin für unsere Generation. Sie weiß, dass es für uns nicht mehr ganz so „easy“ sei „to adjust“, mit all dem „e-mail checking“ und Social-Platform-Nutzing … Es geht um Ängste und Kontrollverlust und nicht zuletzt die Paradoxien der Liebe. Erstaunlich eigentlich, dass es Violetta Parisini nichtsdestotrotz gelingt, dem Hörer, der sich hier nicht nur erkannt, sondern auch geborgen fühlt, ein allumfassendes Wohlgefühl zu vermitteln.
Musikalisch sind die melodiegeprägten „Open Secrets“ abwechslungsreich, aber immer eingänglich und bar jeden Schnickschnacks; das Spektrum reicht vom schon angesprochenen LoFi-Pop über getriebene Rocknummern, die knallender Katalysator zum Lebensglück des Hörers sind, bis hin zu einem Ska-lastigen „Defy Control“ mit Hit-the-Road-Jack-Feeling und einem Woouah-Schülerchor am Schluss. Der Kontrabass-Schnips-Saxophontrack „He Knows“, dessen Saxophonsolo am Ende an James Cartes Version von „‘Round Midnight“ (auf „The Real Quietstorm“, 1995) erinnert, begeistert mich wieder so wie der Opener, während auf „See“ nicht nur Dillon, sondern vor allem auch moderne Retro-R&B-Queens wie Lina oder Adele anklingen.
Überhaupt sind die „Open Secrets“ in dieser Beziehung ein ganz erstaunliches Phänomen: Diese Platte erinnert in jedem Takt an etwas anderes, aber all das, woran ich mich erinnert fühle, habe ich in meiner Plattensammlung unter Favoriten – vielleicht bringen die offenen Geheimnisse der Parisini darum in mir mehr als nur eine Saite zum Klingen, und es würde mich interessieren, ob es auch Menschen, deren Plattensammlungen mit meiner nicht deckungsgleich sind, ebenso geht! Ob Sie mir hierzu wohl schreiben würden? Meine Vermutung ist, dass es Parisini nicht nur in ihren Texten gelingt, das Lebensgefühl der Um-die-Dreißigjährigen einzufangen, sondern auch in ihrer Musik. Ah, das habe ich in einer prägenden Phase gehört, denkt man da, und das ist natürlich wieder: einfach schön. Worauf ich hinauswill: Es ist nicht nur nicht „schlimm“, dass Parisinis Album so viele Referenzen zitiert, es gereicht der Platte sogar zum Vorteil.
Am prägnantesten aber sind Stücke wie „Portable Home“, die einen fragilen Kindchenklaviercharme entfalten; und – ganz klar – ist „Charme“ neben „Glück“ das zweite Schlagwort, das im Zusammenhang mit „Open Secrets“ zwangsläufig fallen muss. Die Idee eines durch bewussten Verzicht auf jedwedes Virtuosentum oftmals im Fragmentarischen, ja: Naiven verhaftet gebliebenen musikalischen Purismus‘ indessen ist eine schlaue: Nichts könnte die Texte Parisinis, die auf der Komplexität und Kompliziertheit des Lebens regelrecht insistieren, passender ausbalancieren.
Gesamtgenommen ist „Open Secrets“ ein enorm mitreißendes Album, eigenwillig, gewaltig und schlicht überwältigend. Man könnte, wollte man einen erneuten Vergleich bemühen, Violetta Parisini als den weiblichen James Blake bezeichnen, mit ihrem Stop-&-Go-Sound und einem Pianospiel, das nicht minder intensiv ist als das auf den Platten des Dubstep-Genies; und nicht zuletzt brodelt auch bei Parisini in den Tiefen vieles. Rein von der Präsenz ihrer Stimme her ist Violetta Parisini gar die beste Sängerin, die ich seit langem gehört habe. Frauen, die vergleichbare Musik machen, neigen zum Hauchen, Säuseln und Wispern, und man hört zumeist erst live, dass sie wirklich singen können. Bei Parisini besteht hier vom ersten Ton an kein Zweifel. Ein bisschen Cree Summer, ein bisschen Beth Gibbons, vielleicht.
Trotz all dieser Vergleiche – oder vielleicht auch gerade deshalb – ist Violetta Parisini mit ihren „Open Secrets“ etwas ganz Eigenständiges gelungen. Nicht umsonst singt sie, sie fühle sich „painfully different from everyone“. Muss ich jetzt noch mehr sagen als: schön?