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Victoriah Szirmai / November 2011
Diese Ausgabe unserer Musik-Kolumne enthält acht neue Platten von folgenden Künstlern: DrahtSeilAkt | Olivia Trummer | SuperHeavy | Mayer Hawthorne | Feist | Lotta Wenglén | Katzenjammer | Tsching
DrahtSeilAkt / fall oder tanz.
Liedermacheresk, wie die letzte Ausgabe von Victoriah’s Music zu Ende ging, beginnt auch die neue: Mit dem Debütalbum des Duos DrahtSeilAkt, das von Gitarrist Uwe Bossert und Sängerin Nora Grisu geformt wird. Auch wenn Fall oder Tanz das erste gemeinsame Album der beiden Tonkünstler ist, sind sie alles andere als Neulinge im Musikgeschäft. Bossert hat elf erfolgreiche Jahre bei den deutsch-irischen Kuschelrockern Reamonn gespielt und schrieb Lieder für Künstler wie Nelly Furtado oder den Unheilig-Grafen, während Grisu in der Welt der Liedermacher und Dichter zu Hause ist. So beispielsweise war sie Duettpartnerin auf dem Kapelle-Weyerer-Album Unstillbar – einem Projekt, das in den letzten Jahren auch die Tourband der singenden Schauspielerin Jasmin Tabatabai stellte. Grisus Gesang indessen ist mit dem der Actrice nicht zu vergleichen, er ist mal unprätentiös und beiläufig, lotet aber auch teils fordernd, teils unsagbar zärtlich die Schattenwelt der Texte bis in ihre letzten Winkel aus. Nora
Grisus Hang zum Dunklen und Abseitigen wird kompensiert von der unbeirrbaren Geradlinigkeit Bosserts. Herausgekommen ist eine Platte, die sich aus ihrem versponnenen Textkosmos heraus entfaltet, den Gitarrist und Produzent Bossert behutsam in Harmonien zu fassen wusste. Die Melodien sind nicht typisch Pop, dabei aber dennoch eingängig. „Poetry Pop“ nennt das Duo seine Musik, und den Drahtseilakt begreift es als „Balance im Chaos“.
Tatsächlich besticht schon der Opener „Abrakdabra“, der gleichzeitig die erste Singleauskopplung ist, durch ein modernes Songwriting und eine ebenso moderne Interpretation, ehrlich, ein bisschen rotzig und irgendwie großstädtisch. Da liegt die Post schon mal gestapelt vor der Tür, während sich an den Leergutkartons mahnend Rost bildet. Im weiteren Verlauf der Platte wird durchaus auch Haut abgestreift und auf die Leine gehängt, und aus einem Spielkartenhaus wird schlankweg Spielkartenstaub. Wie es mit so einem Lied weitergeht – darüber lassen DrahtSeilAkt schon gern mal auf Facebook abstimmen. So konnten Fans des Duos aus drei Refrains einen wählen, um den herum dann ein kompletter Song geschrieben wurde. Und ein Song kann bei DrahtSeilAkt ebenso gut Alltagsgeschichte sein wie von „Schneewittchen“ oder dem „Zauberberg“ erzählen; es tummelt sich ein ganzes Panoptikum von Figuren im DrahtSeilAkt-Kosmos, vom doppelten Ich über die kopfüber hängende Nachtigall bis hin zum Zeitsammler und Mustermenschen. Wer sich darauf einlässt – und es ist schwer, von der Elfenstimme Grisus und dem filigranen Spiel Bosserts nicht in den Bann gezogen zu werden –, wird mit einer Platte belohnt, die über lange Zeit ein guter Freund sein kann. Und weil man audiophilen Freunden gern Freude bereitet, gibt es Fall oder Tanz auch als Vinyl.
Olivia Trummer / Poesiealbum
Nein, sie ist nicht die deutsche Alicia Keys, obwohl die Pressefotos diesen Gedanken nahelegen. Vielmehr ist die Stuttgarterin Olivia Trummer eine Geschichtenerzählerin, die genau so wie DrahtSeitAkt lieber in ihrer Muttersprache singt als für das Phantom „internationaler Markt“. Eine, die mit ihrem Klavierspiel mühelos auf jedem klassischen Konzertpodium bestehen könnte (und das auch schon unzählige Male bewies), aber lieber an ihren Fender Rhodes improvisiert und künstlerischen Eigensinn nicht nur demonstriert, sondern regelrecht zelebriert. Nicht unähnlich dem Teebeutel im Martiniglas, der das Begleitbooklet ihrer neuen CD Poesiealbum ziert.
Poesiealbum beginnt mit gezupftem Kontrabass und Fingerschnipsen à la „Fever“ wie eine klassische Jazzplatte, darüber eine harmlose Melodie mit leichtem Text, fast wie ein Kinderlied, steigert sich aber ab Minute drei zu dem, was ich angelehnt an Quincy Jones‘ Messiah gern als „soulful celebration“ bezeichne, nur dass es sich hier eher eine „jazzful celebration“ handelt. Auch wenn einem die ersten zwei, vielleicht sogar drei Minuten von „Meer ohne Wasser“ erst einmal befremdlich vorkommen, weil sie weder Erwartungen noch Geschmack treffen – unbedingt durchhalten, es lohnt sich! Wenn Trummer und ihre Mitmusiker – Johannes Lauer an der Posaune, Martin Gjakonovski am Kontrabass und Bodek Janke am Schlagwerk – erst einmal loslegen, gibt es kein Halten mehr. Schon beim Ende des ersten Liedes hat Trummer den Hörer gepackt, und dabei geht die Platte jetzt erst so richtig los! So spielfreudig wie sich das Stück entwickelt, habe ich zuletzt nur Edgar Knecht auf seiner Karpfencoverplatte Good Morning Lilofee gehört. Was großartig!
Und Großartigkeit ist es auch, in deren Zeichen der Rest der Platte steht. Den vor Improvisationsfreude berstenden und dennoch erstaunlich ausgereiften Musiklandschaften, die die erst 26-jährige Trummer da präsentiert, tut die neue Quartettbesetzung gut, die nach drei Trio-Platten hier zum ersten Mal zu hören ist. Zum ersten Mal auch agiert Olivia Trummer als Vokalistin in ihrer Muttersprache. Hat die studierte Pianistin zwar schon auf ihrem letzten Album Stimme gezeigt, ist Poesiealbum regelrecht um Text und Gesang aufgebaut. Das Konzept geht auf, denn es macht schlicht Spaß zuzuhören, wie Trummer sich mühelos durch ihre nahezu unsingbaren Texte pflügt wie ein routinierter Schwimmer durchs Wasser. Allerdings muss man sich darauf einlassen, denn mit ihren vordergründig naiven und spröden Formulierungen hat Trummer dem Zuhörer eine Hürde gesetzt. Wer diese aber überwunden hat, darf sich an Hintersinn und Ironie, Finesse und Eleganz der Trummer’schen Poesie erfreuen.
Diese besticht durch eine Kombination aus Wortwitz und ernsten, ja: existenziellen Themen, die hochgradig symbolisch aufgeladen sind, verpackt in Miniatur-Klangkosmen, die sich allein ob ihrer Länge zwischen fünf und neun Minuten dem herkömmlichen Formatradio entziehen, dafür aber die ihnen innewohnenden Spannungsbögen unkomprimiert ausleben dürfen. Ungehindert schüttet Trummer auf ihrem Poesiealbum ein wahres Füllhorn musikalischer Ideen aus, die man so am ehesten von einem Live-Mitschnitt erwarten würde, wenn überhaupt. Unbedingt hören und von unbedingter Lebenslust anstecken lassen!
SuperHeavy / SuperHeavy
Die erste Sekunde von SuperHeavy – diesem langerwarteten, viel gelobten und viel gehassten neuen Projekt von Oberstone Mick Jagger – lässt einen glauben, man sei mitten im Thema von Shaft gelandet, dem legendären Isaac-Hayes-Soundtrack von 1971. Ist man aber leider nicht.
Allerdings ist SuperHeavy, ebenso wie die funky Filmmusik, extrem tanzbar und groovig und setzt im Grunde genommen auf Ragga fort, was Jagger mit seinem Soloprojekt Wanderin‘ Spirit (ja, das mit der „Sweet Thing“-Single) 1993 auf Funk begonnen hat. Und genau das ist dann auch das Problem mit SuperHeavy: Beinharte Mick-Jagger-Fans werden, ja müssen es hassen. Und ohne eine zumindest rudimentäre Affinität zu Reggae und Ragga ist SuperHeavy tatsächlich nur schwer zu ertragen. Ich hab‘ da Glück. Jahrelanger Konsum der Musik von Bob-Marley-Sohn Ziggy und seinen stimmgewaltigen Schwestern hat mich für genau diese Art von Musik trainiert – ich fühle mich mit SuperHeavy im Ohr wieder wie zwanzig! Nur ist es hier eben Damian Marley, seines Zeichens jüngster Spross der Marley-Sippe, der hier für die Dancehall-Riddims sorgt. Ich mag das, aber ob es auch zum ollen Jagger passt beziehungsweise ob das alles überhaupt zusammenpasst, sei hier dahingestellt. Schließlich krankt SuperHeavy an ganz genau dem gleichen Problem wie alle Supergroups: Mögen es hier auch nicht die übergroßen Egos sein, die aufeinandertreffen, so sind es aber definitiv die verschiedenen Musikstile, deren Vereinigung auch unter dem Motto „viele Köche verderben den Brei“ gestanden haben könnte. Da trifft Rock auf Funk auf Soul auf Dancehall auf Bollywood. Das ist super zum Fahrradfahren – oder für eine andere Sportart Ihrer Wahl, bei der Sie überschüssige Energie loswerden können. Bezeichnenderweise trägt einer der zwölf Songs, ein Zwitter aus Electroclash und Achtzigerjahre-Dance-Hit à la Pointer Sisters, dann auch den Titel „Energy“, der für die komplette Platte Pate gestanden haben könnte. Im heimischen Wohnzimmer jedenfalls erschlägt einen SuperHeavy schlicht.
Aus popkultureller Sicht allerdings ist SuperHeavy spektakulär: Eine lebende Legende wie Mick Jagger arbeitet mit dem Sohn der Reggae-Legende Bob Marley zusammen und krönt das Ganze mit Bollywood-Komponist A.R. Rahman, Ex-Eurythmics-Gitarrist David A. Stewart und der jungen Soulsängerin Joss Stone. Deren Vocalperformance, besonders auf „One Day One Night“ erinnert mich an En Vogues „Don’t Let Go“, das Ganze ohnehin leicht an das Crossover-Projekt Lucy Pearl, an dem En Vogue-Sängerin Dawn Robinson beteiligt war. Stone, die auf ihrem 2004er-Debüt The Soul Sessions noch butterweich klang – unvergessen ihre Interpretation des Aretha-Frankling-Klassikers „All The King‘s Horses“ –, hat auf SuperHeavy eine unerwartete Aggressivität erreicht, die ihr aber gut steht. Selbst bei der einzigen großen Pathos-Ballade der Platte, dem Schlusstrack „World Keeps Turning“ zuckert sie nicht dumm herum, wie es ihre Genre-Kolleginnen so gern tun, sondern leidet ebenso stilecht wie überzeugend. Jagger selbst gefällt sich in der Rolle des lüsternen Gnoms und listigen Schelms; und auch Sanskrit singt er mit dem obligatorischen Jagger-Krächzen. Überhaupt ist es Jaggers Stimme, die den bunten, manchmal zu bunten, Stilmix von SuperHeavy zusammenhält.
Was soll man sonst noch schreiben zu dieser Platte, die schon so viel Häme einstecken musste? Die stilistische Mischung ist bedenklich und sicherlich nicht jedermanns Sache, aber dann auch nicht beliebig. Schließlich hatte Dave Steward als ausführender Produzent auch bei den Arrangements sein ordnendes Händchen im Spiel. Überhaupt ist die Platte ganz wunderbar produziert; und es gibt auch Schlimmeres, als das geballte Talent ihrer Protagonisten. SuperHeavy kann man durchaus hören. Danach kann man gern „Kommerz!“ schreiend durch die Gegend rennen. Muss man aber nicht. Klar, SuperHeavy ist definitiv eine Crossover-Platte, und so etwas kann man eigentlich nur lieben oder hassen. Wobei ich persönlich – als bekennender Crossover-Hasser – diese Platte seltsamerweise mag. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Machen Sie damit jetzt, was Sie wollen.
Mayer Hawthorne / How Do You Do?
Ach ja, der Mayer. Was soll ich sagen – ich mag ihn. Immerhin ist er derjenige, für welchen ich vor zwei Jahren das seither viel zitierte Bild des „bleichen Jüngelchens“ in die Kolumne einführte (Mayer Hawthorne: A Strange Arrangement), das dem äußeren Anschein zum Trotze klingt, als hätte es den Soul mit der Muttermilch aufgesogen, um ihn jetzt seinem Publikum wiederzugeben. Früher nannte man dieses Phänomen „blue-eyed Soul“. Heute sind weiße Künstler im Soul nichts Ungewöhnliches mehr, und Mayer Hawthorne ist dem Jünglings-Schema entwachsen und zum Mann gereift. Das gilt auch für sein neues Album How Do You Do: Wurde Hawthornes Debütalbum A Strange Arrangement im Retro-Stil à la Motown und Stax noch als Geheimtipp gehandelt, hat er spätestens mit den Singleauskopplungen „A Long Time“ und „The Walk“ (und insbesondere dem dazugehörigen Video im Mr. & Mrs. Smith-Stlye) den Durchbruch in den Mainstream geschafft. Mainstream im positiven Sinne, versteht sich.
Zwar ist der 32-Jährige, der auf den bürgerlichen Namen Andrew Mayer Cohen hört, auch auf seinem Zweitling dem Nerd-Look treu geblieben, und auch die Stimme Hawthornes erinnert immer noch verdammt an Motown-Sänger Smokey Robinson. Doch schon der Opener „Get To Know You“ zeugt von seinem Erwachsenwerden, beginnt der Song mit seinem hypnotischen Blubberbass und Spoken Intro doch wie eine typische Isaac-Hayes- oder Barry-White-Schlafzimmernummer. Dem zweiten Song „A Long Time“ gelingt es, unglaublich retro und dabei dennoch außerordentlich modern zu klingen – ein treibender, positiver Song, der Spaß macht und die letzten Fahrradfahrtage des ausklingenden Herbstes zu versüßen weiß. Und das dritte Stück „Can’t Stop“ ist mit seiner Kombination aus Old-School-Streichern und modernen R&B-Beats ganz großes (und dramatisches!) Kino, zu dem sich obendrein Snoop Dogg als Gastvokalist gesellt.
Ich will jetzt nicht zu jedem der zwölf Songs etwas schreiben, nur so viel: Dieses Album hat so gut wie keinen Hänger. Egal, wo man in How Do You Do einsteigt – immer stellt sich hundertprozentiges Hörvergnügen ein. Einzig die beiden letzten Songs hätte er sich meiner Meinung nach sparen können. Ansonsten aber ist das von Mayer Hawthorne selbst geschriebene und produzierte Album, auf dem er – bis auf einige Gastauftritte – auch noch sämtliche Instrumente eingespielt hat, eine Platte, die tagelang auf heavy rotation laufen kann: Beim Kochen, beim Bügeln, beim Fahrrad- oder Autofahren, zum Wachwerden am Morgen, für den schnellen Energiekick zwischendurch und warum eigentlich nicht auch, um mit guten Gedanken einzuschlafen? Wobei es keine Kuschelplatte ist – die große Ballade fehlt auf diesem bis auf Titel 1 und 11 durchgängig im Uptempo-Modus gehaltenen, Groove-dominierten Album. Das aber macht es nicht nur herrlich unkitschig, sondern auch wunderbar unkompliziert. Plug and play – auflegen und Spaßhaben ist das Motto, unter dem How Do You Do auch laufen könnte, wofür auch die erfrischende Kürze der Songs von jeweils um die drei Minuten garantiert. „The News“ hat gar nur eine Länge von 1:37 und ist trotzdem ein echter Song – davon können sich so manche ausufernde Kollegen Hawthornes gern eine Scheibe abscheiden. Und nicht nur davon.
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