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Diese Ausgabe unserer Musik-Kolumne enthält acht neue Platten von folgenden Künstlern: DrahtSeilAkt | Olivia Trummer | SuperHeavy | Mayer Hawthorne | Feist | Lotta Wenglén | Katzenjammer | Tsching
Für gewöhnlich nehme ich Abstand davon, Alben zu besprechen, um die schon vor ihrem Erscheinen ein Hype sondergleichen gemacht wird. Für gewöhnlich, denn diese Ausgabe von Victoriah’s Music enthält gleich zwei davon: SuperHeavy, zu dem man schlicht eine Meinung haben muss, sowie das viertes Studioalbum von Leslie Feist, diesem schlicht als Feist bekannten kanadischen Gitarrenmädchen, das spätestens seit The Reminder (2007) – und der darin enthaltenen Single „1234“, die in der iPod nano-Werbung auftauchte – zum Vorbild aller anderen Gitarrenmädchen weltweit wurde. Apple hat ja schon auf die Karriere von Musikerinnen wie Yael Naim eine katalysatorische Wirkung entfaltet, und so konnte sich auch die Singer-Songwriterin, die eine Zeit lang die Mitbewohnerin von Peaches war, ein Publikum jenseits der alternativen Szene erschließen. Sicherlich hat es The Reminder auch nicht geschadet, dass die Coverversion eines weiteren seiner Songs – „Limit To Your Love“ – Dubstep-Genie James Blake 2010 zum Durchbruch verhalf.
The Reminder jedenfalls ging weg wie warme Semmeln – und die Erwartungshaltung an Feists nächstes Album stiegen ins schier Unermessliche. Vier Jahre nach ihrem Hit-Album nun schenkt uns Feist mit Metals eine Platte, die sich immer an The Reminder wird messen lassen müssen. Woran viele scheitern – der Spagat zwischen einem Festhalten am Bewährten und dem Überraschen mit neuen Einfällen – gelingt hier ausnehmend gut. Dafür garantieren schon allein solch illustren Mitstreiter wie einerseits Chilly Gonzales und Mocky, beides langjährige musikalische Weggefährten Feists, sowie andererseits Valgeir Sigurðsson, der isländische Soundtüftler und Produzent, der sich u.a. durch seine Arbeiten für Björk und Bonnie ‚Prince‘ Billy einen Namen gemacht hat.
Davon, dass diesmal alles „viel chaotischer“ sei als beim aufgeräumten Reminder, ist allerdings nicht allzu viel zu spüren. Chaos und Aufruhr wohnen bei Feist unter einem dicken Klangteppich, der in erster Linie sehr entspannt daher kommt. Nach dem Edie Brickelligen Opener „The Bad In Each Other“, der mit seiner dominant dröhnenden Bassklarinette für das Genre atypisch instrumentiert ist, kommt mit „Graveyard“ schon das wohl schönste Stück des Albums. Wobei es schwerfällt, sich zu entscheiden. Unglaublich cool ist die Au-wow-wah-wah-Nummer „How Come You Never Go There“, wunderschön „The Circle Married The Line” und „Anti-Pionier”. Die Melodien gehen gleich beim ersten Hören ins Ohr; ansonsten aber ist Metals eine Platte für das fünfte, sechste und siebte Hören: Bei jedem einzelnen Song mischen, dezent versteckt, so viele Instrumente mit, es passiert so viel knapp unterhalb der Wahrnehmungsgrenze, dass sich bei jedem weiteren Hören ein kleines Stück mehr des nur langsam durchdringenden Klangteppichs offenbart. Wohl nicht umsonst sagt Feist selbst über die Platte: „Ich verstehe meine Musik selbst oft erst Jahre später“.
Metals – benannt ob der Bearbeit- und Veränderbarkeit des Elements – sieht Feist selbst als „Live-Album“, als etwas, was begonnen und dann einfach laufen gelassen wurde, als etwas, das gleich beim ersten Take entstanden ist. Unfertig ist Metals deshalb noch lange nicht, eher hochkomplex und gewohnt emotional. Es wäre schwer verdauliche Kost, wäre da nicht diese Stimme, die über all dem schwebt, als ginge es sie nichts an. Und die in einem Moment von purer Verzweiflung getränkt ist, nur um im nächsten jubilierend auszubrechen. Feists Gesang, der – zu Unrecht – mit dem einer Norah Jones verglichen wird, hat aber nicht nur emotionale Tiefe zu bieten, sondern vor allem eine natürliche Rhythmik, die sie unverwechselbar macht und die ihr den Ruf eingebracht haben, eine der besten Popsängerinnen der Gegenwart zu sein. Über „Pop“ können wir diskutieren. Über „eine der besten“ nicht.
Lotta Wenglén / Thanks For Your Generous Donations
Wer mein Faible für skandinavische Musik teilt, wird sich über die aktuelle Veröffentlichung der Schwedin Lotta Wenglén freuen. Mit Thanks For Your Generous Donations! ist ihr eine teils herrlich verspielte, teils enorm direkte Singersongwriterindierockpopfolkplatte à la Aimee Mann und PJ Harvey gelungen. Die 1971 in Malmö geborene Wenglén ist wohl das, was man gemeinhin als „Vollblutmusikerin“ bezeichnet: Sie macht seit ihrer frühesten Kindheit Musik, und mittlerweile hat es die keyboardspielende Gitarristin, Sängerin und Songschreiberin auf fünf Alben gebracht, die sie auf ihrem eigenen Label Margit Music veröffentlicht. Thanks For Your Generous Donations! allerdings ist die erste ihrer Platten, die auch jenseits ihres Heimatlandes erscheint.
Der anfänglich auf der Platte vorherrschenden Leichtigkeit und Verspieltheit zum Trotz ist Thanks For Your Generous Donations! rauer und unmittelbarer als seine Vorgänger, was vor allem dem thematischen Kosmos zu verdanken ist, der um Schwergewichtsthemen wie Geburt und Tod, Alkoholismus und Krebs kreist. Viele der Songs schrieb Wenglén während ihrer Schwangerschaft, und scheinbar macht man sich als werdende Mutter mehr Gedanken über Leben und Sterben als üblich. Wenglén aber versteht es, ihr nahezu unverdauliches Sujet in einen ansprechenden Mix aus Indie-Pop, Americana und noiseifizierten Indie-Rock zu verpacken, wobei dem Album eine melancholische Grundstimmung nicht abgesprochen werden kann – zumal es im weiteren Verlauf zunehmend düsterer und auch härter wird. Erst ganz zum Schluss kommt mit der auch massen- und radiokompatiblen Popnummer „Cruical“ wieder etwas Munterkeit in die Musik. Genau diese Mischung aber macht Thanks For Your Generous Donations! zum idealen Begleiter für den Herbst. Anspieltipp: Das sphärisch-experimentelle „Carefree“, das komplett anders ist als der mal indie-poppige, mal alternativ-rockige Rest des Albums und dennoch dessen Essenz besser zusammenfasst als alle anderen es könnten, wenn brüchige Zartheit auf Noise-Gitarren trifft.
Mit von der Partie sind nicht nur The Cardigans-Bassist Magnus Sveningsson, sondern auch Mâns Wieslander, seines Zeichens einer der versiertesten Gitarristen des Landes, sowie die beiden gestandenen Alternative-Indie-Folk-Sängerinnen Erika Rosén und Cecilia Nordlund, die allesamt eigene Platten herausgebracht haben, sich hier aber darauf beschränken, den Background für Lotta Wenglén zu bereiten. Und dann ist da noch die leicht wiederzuerkennende Stimme von Sängerin Katharina Nuttall, deren eigene Musik mit melancholischen Chamber Pop und Cinemascope-Instrumentierungen besticht, die hier aber ebenfalls Background Vocals und auch Keyboard Parts liefert – ein Freundschaftsdienst, schließlich kennt man sich und kollaboriert schon seit Längerem. Sympathisch wird das Album – neben dem schlichten, aber schönen Artwork – nicht zuletzt dadurch, dass es trotz seiner vierzehn Tracks als angenehm bündiger Einundvierzigminüter daherkommt.
Katzenjammer / A Kiss Before You Go
Bleiben wir doch gleich im hohen Norden. Dort hat das norwegische Mädels-Quartett, dessen Markenzeichen die Bassbalalaika mit Grinsekatzengesicht ist, nach Le Pop (2008, in Deutschland: 2010) endlich seinen lang erwarteten Zweitling fertiggestellt. A Kiss Before You Go heißt das gute Stück leichthin, doch was sich da im gleichnamigen Intro so harmlos mit Glocken- und Mandolinenspiel anschleicht, wird schon bald zum unheimlichen Walzer, über dessen Refrain eine dunkle Noise-Wolke hängt, der dann aber nahtlos in die fröhliche, treibende, selbst-emanzipatorische Country-Pop-Nummer „I Will Dance (When I Walk Away)“ mündet. Das könnte gut im Chartradio laufen. Schon mit „Cherry Pie“ aber, einem bluegrassigen Barbershop-Swing mit Banjo-Begleitung, erreicht A Kiss Before You Go einen vorläufigen Höhepunkt. Ebenso cool ist auch der anschließende Stampfer „Land of Confusion“, den man erst im Refrain als – oh Schreck! – geniales Genesis-Cover wiedererkennt. Ach, würde Phil Collins das doch so gesungen haben wie Marianne Sveen, Turid Jørgensen, Solveig Heilo und Anne Marit Bergheim, ich hätte heute kein solch gestörtes Verhältnis zu Genesis!
Ich habe Le Pop schon gemocht, wobei mir das Album teilweise zu unruhig war. A Kiss Before You Go hat alle Kinderkrankheiten hinter sich gelassen und präsentiert ein gereiftes Quartett in Hochform, das das (Schimpf-)Wort „Girlgroup“ nicht verdient. Katzenjammer dilettieren auf A Kiss Before You Go nicht mehr wild und munter vor sich hin, sondern haben zu so etwas wie einer Form gefunden. Zahm ist das allerdings noch lange nicht, wie beispielsweise das musikalische Wettrennen „Gypsy Flee“ beweist, wo man nicht weiß, wer schneller und lauter ist: Frank-Zappa-Sohn Dweezil an der Gitarre oder die Katzenjammer-Girls, die einen russischen Männerchor imitieren.
Im Gegensatz zu vielen ihrer nur singenden oder vielleicht gerade mal so die Gitarrensaiten zupfenden Berufsgenossinnen spielen (und beherrschen!) Katzenjammer zusammen über dreißig Instrumente, darunter die schon erwähnte Bass-Balalaika, Mandoline, Ukulele, Banjo, Geige, Kazoo, Glockenspiel und Mundharmonika, ganz zu schweigen von den Standards wie Klavier, E- und Akustikgitarre oder Schlagzeug. Das prädestiniert sie nahezu dafür, sich an den Instrumenten abzuwechseln, was sie während ihrer Live-Shows auch liedweise tun. Stilistisch sind sie genauso vielfältig, wobei die Jazz-Pop-Rock-Country-Chanson-Platte von einem durchgängigen Folk-Unterton geprägt ist. Ob osteuropäisch angehaucht (Rock-Paper-Scissors“), ob Saloon Western („Shepherd’s Song“) oder gekreischte Rockabilly-Nummer („Loathsome M“) – Katzenjammer mixen munter die Stile, ohne auch nur ansatzweise in die Nähe von Crossover oder Fusion zu gelangen. Als „Folkpoprockbluegrasscircus mit Cowboy- und Indianermusik“ bezeichnet die Band selbst ihre Musik, während die Kollegen von Motor.de sie eher als etwas verorten, das „nach Montmartre in Paris, nach russischem Zirkus, Zigeuner-Jahrmärkten und düster-verrauchten Whiskey-Bars in Oslo“ klingt.
Darüber hinaus sind die studierten Musikerinnen allesamt großartige Vokalistinnen, wie sie spätestens auf „God’s Great Dust Strom“ beweisen. Wer hier keine Gänsehaut kriegt, ist auch sonst emotionsresistent! Neben dem alles überragenden „God’s Great Dust Storm“ sind die ungekrönten Lieblingslieder dieses Albums die beiden Walzer „Lady Marlene“ und „Soviet Trumpeter“. Ist das hier etwa die tollste Platte dieser Victoriah’s Music? Wie immer fällt die Entscheidung schwer, aber doch, wenn ich fortan nur ein Album aus den vorgestellten acht hören dürfte, dann dieses.
Tsching / Serenata
Nicht ganz so wild wie bei Katzenjammer geht es beim Berliner Trio Tsching zu. Aus dem übervollen Bauchladen an musikalischen Stilen haben sich die drei auf eine Mixtur aus Balkan, Tango und Swing geeinigt, wobei die Genres in umgekehrter Reihenfolge dominieren: Wer das Album Serenata hört, dem drängt sich der Eindruck auf, dass man hier nicht angetreten ist, um einen möglichst authentischen Balkan-Klezmer-Style zu spielen – vielmehr scheint die Liebe zu dieser Musik einen ganz eigenen, kammermusikalisch geprägten Jazz hervorgebracht zu haben, bei dem Balkan-Anklänge nur von Ferne grüßen.
Das ist legitim und mag diese Richtung auch jenen eröffnen, die sonst um alles, was auch nur im Entferntesten nach „World“ riecht, einen großen Bogen machen. Andererseits sind gerade die Traditionals in einer akademischen Spielweise … eher schwierig. Möchte man denken, denn das, was man da zunächst für ein Traditional gehalten hat, entpuppt sich als die Komposition „Blindroter Chor und Wirtshaustöchter“ des zeitgenössischen Klarinettisten Helmut Eisel. „Misirlou“ allerdings, ursprünglich ein griechischer Rebetiko, hat sowohl in der ägyptischen Bauchtanzszene als auch im Surf Rock sowie im Easy Listening, vor allem aber im Klezmer eine derart große Popularität erreicht, dass man es getrost zu den Standards zählen kann. Wohl kaum eine Klezmerkapelle, die es nicht im Repertoire hätte. Und hier wird dann auch ohrenfällig, dass Tsching-Saxophonist Helmut Mittermaier, der mit sehr, sehr viel Lufthauch an den Start geht, eben nicht über den genretypische Krekhts, einem dem chassidischen Gesang entlehnten Schluchzen, verfügt. Sein Spiel ist perfekt, aber für den Balkan-Style – und selbst für Swing – definitiv zu zahm und zu akademisch.
Das fällt bei seinen Eigenkompositionen, die einen Großteil des Albums ausmachen, nicht auf. Bei der Interpretation des Cahn/Chaplin-Klassikers „Bei mir bist du schön“ allerdings hätte man sich doch lieber Benny Goodman gewünscht. Vielleicht aber ist man trotz Robert Shapiro & Co. einfach so sehr auf einen Klarinettenklang fixiert, dass man mit Mittermaiers Tenor- und Sopransaxofon zwangsläufig erst einmal fremdeln muss. Allerdings: Das Worldjazz-Quartett Quadro Nuevo ist auch mit einem Saxophon als Melodieträger besetzt, und dessen „Bei mir bist du schön“, erschienen auf dem 2004er-Album Mocca Flor, ist alles andere als akademisch. Und auch mit dem „Mocca Swing“ begibt sich Tsching auf Pfade, die vor ihm das Quadro Nuevo betreten hat.
Abseits der von den Größen des Genres bereits hundertmal gespielten Titeln aber zeigt Tsching, weshalb man auch künftig mit dem Trio rechnen muss: Etwa auf der großartig dem Jazzidiom einverleibten, vom Cellospiel Franziska Krafts dominierten Lennon/McCartney-Nummer „Come Together“ – dieser Track ist definitiv der Grund, der für den Kauf von Serenata spricht. Und dann verblüfft Tsching noch mit dem Stück, von welchem man es am wenigsten erwartet hätte: dem tausendfach gehörten Gershwin-Klassiker „Summertime“. Hier endlich zeigt sich, dass Helmut Mittermaier mit Leib und Seele Jazz-Saxophonist ist, der selbst einem unzählige Male gespielten Stück neues Leben einzuhauchen vermag. Auf „Summertime“ stimmt einfach alles. Der Abschluss des Albums, das katalanisch inspirierte „Cinquanta“, versöhnt dann vollends mit Mittermaiers Spiel.
Fazit: Auf Serenata gibt es Balkan-Beats ohne Beats – für solche, die sich dem Genre vorsichtig nähern möchten, genau das Richtige. Für Liebhaber von eleganten Akustik-Trios sowieso.
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