September 2016 / Victoriah Szirmai
Langjährige fairaudio-Leser mögen Fredrika Stahl noch als die Soulpopprinzessin ihres europaweiten Debüts von 2010 in Erinnerung haben oder als die zur schwedischen Kate-Bush-Apologetin Gereifte des 2013er-Erfolgsalbums Off To Dance. Wie schon damals festgestellt: Auch Fräuleinwunder werden irgendwann erwachsen. So auch die 1984 geborene Stockholmerin, die sich mit dem selbstkomponierten, -arrangierten und -produzierten Soundtrack zu Tomorrow, einem in Deutschland den Untertitel „Die Welt ist voller Lösungen“ tragenden, französischen Dokumentarfilm unter der Regie von Öko-Aktivist Cyril Dion und Schauspielerin Mélanie Laurent, musikalisch endgültig freigeschwommen hat.
Den Auftakt des ambitionierten Soundtrackprojekts macht ein atmosphärisches Piano in Moll, das ohne das exakt getimte Zusammenspiel mit dem Bewegtbild dazu angetan ist, im Kopf des Hörers einen ganz eigenen Film in Gang zu setzen. Neben solchen eindeutig als Score zu identifizierenden Lautmalereien setzt der Soundtrack auf eigenständige, auch losgelöst vom Filmkontext funktionierende Popsongs wie beispielsweise „The World To Come“, die ob ihres traurigtemperierten Flairs und geballter Streicherkraft dennoch der allgemeinen Grundstimmung Tribut zollen. Die setzt sich in stimmungsvollen Miniaturen dank lustvollen Spiels mit dem Orff’schen Instrumentarium fort, ob auf „Empty Spaces“ mit Vinylgeknister, Glockenspiel und Fingerschnippen oder auf „Planting Children“ mit Vogelgezwitscher, Vibraphon und Percussions, zu denen sich Stahls Piano in pentatonischen Andeutungen ergeht.
Mit „Map Of The World“ fängt der Soundtrack an, funky zu rocken, indessen der etüdenartige Charakter der Stahl’schen Pianotupfer erhalten bleibt, die sich hier sogar ein paar Boogie-Woogie-Figuren erlauben. „Make A Change“ ist ein Song in der Tradition von Yael Naims „New Soul“, den man einfach seiner Sommerplaylist zufügen muss, allein schon um des von Schlagzeuger (!) Raphael Chassin eingespielten, glücksrauschfreisetzenden Bläsersatzes willen! „Water“ dagegen greift das verregnete Ambiente des Beginns auf, und man kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass hier zumindest ein klitzekleines bisschen der La double vie de Véronique-Soundtrack von Zbigniew Preisner Pate gestanden hat. Stahl kann ihr Faible für französisches Flair spätestens hier nicht mehr verleugnen.
Das Kontrastprogramm folgt auf dem Fuße: „Machines“ mit einer wilden, der Blue Man Group alle Ehre machenden Drum-Explosion. Beim zweiten Song des Soundtracks, „Pull Up Your Sleeves“, fühle ich mich an die Loop-Songs Samirah Al-Amries erinnert, bis auch hier wieder die volle Ladung Glückshormone zuschlägt und sich das Ganze zur süchtig machenden Discohymne steigert, während der dritte Song „More“ ganz schlicht als countryeske Popballade mit skandinavischem Einschlag à la Agnes Obel oder Susanne Sundfør daherkommt.
Den Bann bricht die akzentuierte Klavierstudie „Kuthambakkam“, die mit zartem Brasilectro-Hauch zum kopfwackelnden Mitwipper gerät, während es auf der zarten Spieluhrnummer „Paper Bills“ rauscht und klatscht, dass es eine Freude ist, bis sich mit „Everything“ auch schon der vierte eigenständige Song des Soundtracks zeigt – ein selbstvergessenes Akustikgitarrenstück irgendwo zwischen Singer/Songwriter und Dreampop. Der Gitarren-Piano-Zwiegesang „Fields“ kommt im Stile eine Piazolla’schen Milonga daher, die auf Popkompatibilität gebürstet wurde, bevor das Album mit dem aus fetten Bläsern mit Ohrwurmpotenzial gebauten Wohlfühlpop des titelgebenden Stücks seinen würdigen Abschluss findet. Die Stahl muss sich, soviel ist sicher, schon lange nicht mehr hinter übermächtigen Produzentenfiguren verstecken.
Fredrika Stahl – Tomorrow auf Amazon anhören
Selbst produziert und arrangiert hat auch Torun Eriksen ihr fünftes Album Grand White Silk. Gemeinsam mit ihrem musikalischen Partner Kjetil Dalland präsentiert die Norwegerin zehn vielschichtige Songs, die sich herkömmlichen Genrezuschreibungen schlichtweg entziehen. Gemein ist ihnen allen lediglich, dass sie den Gesang ganz klar in den Vordergrund stellen – bei Eriksens Stimme übrigens völlig zu Recht! –, flankiert von teils ungewöhnlichem Instrumentarium und komplex-verwunschenen Soundscapes.
So geben sich Vintage-Equipment in Form des Prophet 5, dem 1977 erdachten, weltersten Mikroprozessor-basierten und zudem ersten programmierbaren polyphonen Synthesizer, und die immer als „irgendwie niedlich“ belächelte Ukulele auf dem bezeichnenderweise „The Opening“ genannten Opener ein Stelldichein, während sie auf eine eigenwillige Melodie treffen, vorgetragen von einer unheimlich suggestiven Stimme, für die man die Phrase des Seele-aus-dem-Leib-Singens erfunden zu haben scheint.
„More“ kommt als elektrifizierte Klangminiatur zwischen Lullaby und Ausdruckstheater daher, bei dem sich stille, fast andächtige Passagen mit einer vollen Ladung Postproduktion abwechseln, sodass dem Ganzen ein collagenartiger Zug zukommt, der auch im harmonisch offenen Ende seinen Ausdruck findet. Weniger avantgardistisch geht es auf „Take My Time“ zu, doch ist Eriksen trotz des nicht gerade zurückhaltenden Streichereinsatzes das gefällige Arrangement auch in der Ballade fremd. Mit schrägem Groove besticht „Downhill“, das ob seiner Spoken-Word-nahen Strophe getrost als experimentell bezeichnet werden darf, bis mit einem Mal ein unglaublich eingängiger, zum Mitgrooven animierender Refrain wie aus dem Nichts auftaucht und Torun Eriksens Gospelchorvergangenheit Reverenz erweist. Eine mystische Atmosphäre kreieren die Sounds von „Compromise“, während sich Eriksens warmes, tiefes Organ derart luftdurchtränkt zeigt, dass es eher in die Riege der Holzbläser als der Gesangsstimmen zu gehören scheint.
„Right Here“ dagegen könnte glatt von einer James-Blake-Platte stammen, so tiefergelegt, wie es sich nähert, bevor es sich zur schrillen, Björk-inspirierten Elektroakustikpopnummer auswächst, die zwischendrin mit bezaubernder Mehrstimmigkeit aufwartet. Mit „Winter Time“ ist ein wunderbar minimalistischer Torch Song im Geiste des Nordic Soul gelungen, dessen Depressionsgehalt von dem an die Cassandra Wilson aus New Moon Daughter- und Blue Light Til Dawn-Zeiten erinnernden „Darkness“ noch übertroffen wird. Gut, dass das folgende „I’ve Been Thinking (About Getting Older)“ trotz seines ebenfalls nicht unbedingt optimistisch stimmenden Titels fröhlich vor sich hingospelt, bis es den Hörer in einem mitreißenden Groovestrom fortträgt – Widerstand zwecklos!
Das titelgebende Stück „Grand White Silk“ lässt ein Album sanft aus-, ja: verklingen, dem das Kunststück gelingt, gleichzeitig außergewöhnlich anspruchsvoll und dennoch leicht zugänglich zu sein. Unbedingte Empfehlung!