Inhaltsverzeichnis
Victoriah Szirmai / April 2013
Diese Ausgabe unserer Musik-Kolumne enthält acht neue Platten von folgenden Künstlern: Bobo und Herzfeld | Christian Zehnder & Gregor Hilbe | Yakou Tribe | Peter Schwebs Quintet | Paolo Thorsen-Nagel Projekt | Delicious Date | Electro Deluxe | Jimi Hendrix
Bobo und Herzfeld | Liederseelen
Vielleicht wird es, wenn Sie dies hier lesen, nicht mehr als eine kuriose Anekdote sein, die man nur noch schwer nachfühlen kann, doch während ich dies hier schreibe, scheint es so, als würde es nie mehr aufhören zu schneien. Wohnt man dazu noch im friedhofsreichsten Bezirk Berlins, was bedeutet, dass man beim Spazieren – und ich spaziere viel, zu jeder Tages- und Nachtzeit, seitdem ich diesen, sagen wir mal: enorm bewegungsfreudigen Hund adoptiert habe – nach nur wenigen Minuten auf dichtverschneite Gräber stößt, ob im Norden, im Osten, im Süden oder im Westen. Darüber kann man schon mal dezent depressiv werden. Diese Vergänglichkeit all überall! Caspar David Friedrich und Konsorten hätten ihre helle Freude gehabt.
Die Romantiker und ihre spezielle Beziehung zu den Symbolen des Todes sind es auch, denen Bobo und Herzfeld auf ihrem aktuellen Album huldigen. Wurde auf dem Vorgängeralbum Lieder und Liebe und Tod (2007) noch klassisches deutsches Volksliedgut à la Kaiser und Bandorf re-arrangiert bzw. derart kongenial neu vertont, dass Jazzpodium hier von einem „ernst zu nehmenden Anwärter auf das Album des Jahres“ sprach, wenden sich die Berliner Sängerin Bobo und ihr musikalischer Partner Sebastian Herzfeld auf Liederseelen ganz dem sehnsuchtsgeschwängerten Lebensgefühl, Geist und Werk der Romantik mitsamt ihrem Hang zur Mittelalteridealisierung, zur Traumdeuterei und zum Kindermärchen zu.
Gleich zu Beginn ergreift einer der romantischen Heroen, Joseph von Eichendorff, das Wort. Dessen „Der irre Spielmann“ klopft mit mitternächtlichen Spieluhrmelodien in unseren heutigen Gehörgängen an, um sich schnell zu Nachtmahren Meret Becker’scher Provenienz samt kontrabassinduziertem Albtraumgeräusch hochzuspielen. Beim dem Brevier „Deutsche Volks- und Gesellschaftslieder“ von 1872 entnommenem „Zum Lachen“ dagegen reitet es in erlköniglicher Manier spät durch Nacht und Wind, wobei der Feind hier nicht die von kindlicher Phantasie erzeugte Schauergestalt ist, sondern schlicht die „närrische Lieb‘“, die sich jedoch als nicht minder tödlich erweist, wie eine typische Berliner Görenstimme à la Luci van Org wissen will, um im textlosen Chorus zum Grande-Dame-Organ aufzudrehen. Dem Kinde begegnen wir bei Bobo und Herzfeld auf „Liebestreu“ mit der Aufforderung, sein Leid doch zu versenken; und bei aller Schauerromantik schleicht sich hier so etwas wie ein dezenter Kopfnicker-Groove ein, während auf dem titelgebenden „Liederseelen“ ein wehes Melodicon mit süßen Gespenstern und zarten Elfen zum Reigen sich reiht, wohingegen der „Sperber“ als Zwitter aus uraltem Volkslied und Tango daherkommt, getanzt vom Schwanenseeballett, das sich schon bald als die fünf wilden Schwäne aus der Sage entpuppt – und auch das Wagner’sche „Hal-lo-jo, ho-jo-he!“ auf unruhiger See ist hier nicht weit, um zum Ende mit genialer Vokalharmonik zu bestechen. Was für ein Lied!
Ruhiger wird es mit der Traumsequenz „Wisst ihr wo ich gerne weil’“, in der von Zeit zu Zeit auch jene Augenblicke aufblitzen, wo sich das Unterbewusstsein, hier in Form kurz aufmuckender Pianotasten, ungefiltert in die Idylle klinkt. Wie nennt man so eine Musik? Gothic Jazz? Spielmanntronic? Wunderschön auch das Rückert’sche „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ – eine in unserer Zeit umso aktuellere Hymne all jener, die den gelegentlichen Rückzug ins Private zelebrieren. Ebenso wunderschön: Die woodwind-orgelige Streicherorgie „Seufzend sprach ich zu der Liebe“, das barocke Stück Kammermusik „Herbsthauch“ und die Indie-Pop-Ballade „Jetzt rede du“. Altmodisch ist daran, den gut hundertfünfzig Jahre alten Texten zum Trotz, gar nichts. Und alles, was bei Gedichtvertonungen – man denke hier nur an das unsägliche Rilke Projekt – schiefgehen kann, haben Bobo und Herzfeld auf Liederseelen elegant umschifft. Die alten Texte und die dafür neu geschaffenen, dennoch irgendwie archaischen, stellenweise den Widerhall uralter Kirchtonarten aufgreifenden Melodiebögen, deren Tonführung wir heute so nicht mehr kennen, die einem alten Erbe in uns aber dennoch seltsam vertraut ist, gehen eine derart organische Verbindung ein, als wären sie nie ohneeinander gewesen. Chapeau! Dasselbe gilt für die Verbindung von Bobo und Herzfeld: eine Traumpaarung.
Christian Zehnder & Gregor Hilbe | Oloid
Auch mit Christian Zehnder und Gregor Hilbe hat sich eine symbiotische Paarung gefunden: Hier der Sänger, der es nicht nur versteht, auch Obertöne zu produzieren, sondern ganz nebenbei auch noch recht passabel Bandoneon spielt, dort der Percussionist, Cellist und Elektroniker, der dem Ganzen einen Grund bereitet. Über all dem schweben die von beiden gespielten hölzernen Mundorgeln, deren Klang nicht nur das Unerhörteste seit Karl Seglems Ziegenhörnern ist, sondern dem es auch gelingt, den Raum langsam und die Zeit weit wirken zu lassen, sprich: der unsere gewohnten Raum-Zeit-Kategorien gründlich auflöst. Das ist auch das Ziel dieser Platte, vergegenwärtigt man sich, dass für den Titel Oloid die gleichnamige Skulptur des Bildhauers und Maschinenbauers Paul Schatz von 1929 Pate steht, der ein universelles Talent, chemische Elemente zu mischen und physikalische Größen umzukehren, nachgesagt wird.
Während der Titeltrack, der gleichzeitig als Opener dient, noch rülpsend vor sich hinpoltert, schaffen die das zweite Stück „Oloidiolo“ dominierenden Mundorgeln soviel mehr (stillen) Raum als (klingende) Fläche, dass die Musik hier eher aus dem zu bestehen scheint, was nicht da ist. Einzig das, was ich in Ermangelung eines passenderen Wortes jetzt einmal als „Leadvocals“ bezeichnen möchte – denn recht eigentlich handelt es sich eher um ein heiser gehauchtes, irgendwie obszön wirkendes Gehechel, das mich an einen berechnend-wahnhaft züngelnden Kinski erinnert –, verhindert, dass man sich völlig auf einer eigenen Gedankenreise verliert und zwingt stattdessen, dieses Klangexperiment, denn nichts anderes ist dieses Album, so zu hören, wie Zehnder und Hilbe es wollen und nicht, wie man es selbst gern hätte.
Da kommt mit dem bandoneondominierten und percussiongetriebenen „Trang“ genau die Entspannung ins Spiel, die Album und – vor allem – Hörer an dieser Stelle nötig haben. Und bei „Shipibo“ dann geht mir endlich ein Licht auf: Durch das ganze Vocalizing klingt dieses Album so, als hätte man eine Bobby-McFerrin-Platte in der Hand – allerdings eine 45er-Bobby-Mc-Ferrin-Platte, die man mit 33er-Einstellung abspielt. Doch wo der Hund mich bei den Schauergeräuschen von Bobo und Herzfeld noch hilfesuchend ansah, streckt er sich hier entspannt aus: Trotz aller Experimentalistik scheint ihm das alles ganz natürlich zu klingen. Und tatsächlich verströmt das folgende „Flix“ Southern Comfort, äh, Flair, wo der Chattanooga Choo Choo durch die Klanglandschaft fährt und auch McFerrins „Hush, little Baby“ nicht weit ist, wobei Zehnder & Hilbe die südliche Idylle natürlich schon bald wieder mit vokalem Störgeräusch torpedieren. Man könnte ja sonst anfangen, sich wohlzufühlen, und das sollen wir wohl nicht – zumindest nicht allzu sehr.
„Dyu Dyo“ mit seinen Anleihen bei außereuropäischer Musik kommt im Gewande eines rituellen Tanzes daher, und man kann nicht umhin festzustellen, dass die Stücke zum Ende des Albums erfreulich kurz werden, denn, geben wir es ruhig zu: der Opener mit 9:37 war schon harte Kost. Der Closer „Uimong“ hingegen begnügt sich mit 2:29 – dafür wird hier aber gejodelt, was das Zeug hält; und auch hier scheinen indianische Ritualgesänge mitzumischen. Alpen meets Rocky Mountains, oder so. Einzig das Stück „Yak“ ist nicht nur dem Hund seltsam, der die Box anstarrt, als überlege er, ob man sie eventuell jagen, erlegen und auffressen könnte. Tatsächlich röhrt Zehnder hier wie der besungene tibetische Grunzochse.
Wer auf Avantgarde steht, von parallel laufenden 5/8-, 7/8- und 3/4-Takten nicht aus der Ruhe zu bringen ist und obendrein mal diese beängstigend menschlich klingenden Mundorgeln erleben möchte, der ist bei Oloid richtig. Wer hingegen seinen Gästen Dinnermusik servieren mag, liest einfach weiter.
Yakou Tribe | 100% Results
Denn genau wie Oloid ist auch 100% Results eine Traumton-Produktion – wenngleich eine, die gegensätzlicher gar nicht sein könnte. Im Gegensatz zum experimentellen Wirken Zehnders und Hilbes hat der Yakou Tribe ein nicht anders als klassisch zu bezeichnendes Jazz-Album gemacht, dominiert von Jan von Klewitzens verführerischem Saxophonton und dem filigranen Gitarrespiel Kai Brueckners. Gemeinsam mit Johannes Gunkel am Bass und Rainer Winch am Schlagzeug präsentieren sie uns ein Quartettalbum, das nicht nur in seiner betont traditionellen Herangehensweise dem von Iris Ornig ähnelt.
100% Results geht gleich beim ersten Hören aufs angenehmste ins Ohr, es ist positiv, ja heiter, und voller Lebensglück, fast schon (alters-)abgeklärt. Der klanggewordene Spätsommer, und den wünscht man sich mit Blick aus dem Fenster ja nun wirklich herbei! Das Wie-aus-einem-Guss-Erlebnis wird dadurch bestärkt, dass 100% Results nahezu komplett auf Studiobasteleien verzichtet und live eingespielt wurde. Und dass er nicht nur kuschelweich, sondern auch scharfkantig kann, zeigt der Yakou Tribe spätestens beim dritten Stück „Darum“, das ganz fresh und straight und tight (und was der einschlägigen Jazzidiome mehr sind) daherkommt. Kurzum: Es groovt gut, das Ding, und kommt genau auf den Punkt. Hier hört man, dass die vier vom Stamme der Yakou schon jahrelang zusammen spielen – genau genommen zwölf Jahre, in denen man es zu vier gemeinsamen Platten gebracht hat. Im krassen Gegensatz dazu zeigt sich „Rejoice“, wo uns die vier beweisen, dass sie auch zu improvisieren und solieren wissen – allerdings auch dies, ohne je den Bandklang aus den Ohren zu verlieren.
Jau. Freejazzanhänger finden so viel Harmonie wahrscheinlich zum Gähnen. Dabei brodeln Stücke wie „Fox and Goose“ oder „Dinos“ nur so vor Spielfreude und vibrieren vor Energie. Natürlich, 100% Results ist ein sehr „amerikanisches“ Album, legt man den Maßstab von „amerikanisch“ als „hot“ und „europäisch“ als verkopft, kühl und distanziert à la ECM zu Grunde. Dabei wollen wir diesen künstlichen Gegensatz eigentlich gar nicht bedienen, denn Platten wie die vom Christian Meyers Quintet oder eben diese hier zeigen, dass auch europäischer, mehr noch: deutscher, und ganz speziell: Berliner Jazz „hot“ sein kann, mit garantierten Glücksmomenten. Etwa dem grandiosen Saxophonsolo – nur mal Minute 2:45 bis 3:05 hören! – auf „Jägerhofstraße“. Oder „Fan Man“, das wie der Abgesang nach dem Happy End eines Winnetou-Streifens eröffnet – das Rodeo kommt erst danach. Selbst die große Schlussballade „Isabellengrün“ gerät beim Yakou Tribe nicht zur sehnsuchtsvollen Sinnsuche, sondern zelebriert das reine, stille Glück. Perfekt.
Peter Schwebs Quintet | In-between Seasons & Places
Saxophon- und gitarrenlastig geht auch das Quintett des Berliner/Hannoveraner/New Yorker Bassisten Peter Schwebs zu Werke, nur findet sich hier im Vergleich zum Yakou Tribe noch Verstärkung durch einen Pianisten. Und was der eher avantgardistisch orientierte Hörer dort als zu wenig „edgy“ empfunden haben könnte, lässt ihn hier auf seine Kosten kommen. Zur Verdeutlichung: Als die CD an einer Stelle anfing zu haken, dauerte es einen Moment, bis das Haken als Fehler in meinem Bewusstsein ankam – und nicht als gewollter Bestandteil der Musik. Verallgemeinert bedeutet das: Wo der Yakou Tribe Jazz auch für Nicht-Jazzfreunde ist, ist das Peter Schwebs Quintet Jazz für Jazzer.
Hat man beim Opener „8th Avenue Express“ noch den Eindruck, dass da wer allzu viele Coltrane-Platten gehört hat und dass auch Quincy Jones’ „Killer Joe“ nicht allzuweit entfernt ist, kommt mit „X-Berg Insomnia“ schon ein Stück um die Ecke, das einen einfach wegbläst. Ein wirklich nur als großartig zu beschreibender Track, der soviel Raum gibt und nicht nur damit an den hypnotischen Indie-Approach von Tobias Preisig erinnert, dessen ungewöhnlich intensives, den Hörer gewissermaßen einsaugendes Geigespiel hier seine Entsprechung im Klang von Ben Kraefs Tenorsaxophon findet. „Chanda“ hingegen ist schon sehr „Round Midnight“-verdächtig, und wahrscheinlich bin ich nicht die Erste, die in Anbetracht des Stückes dieses naheliegende Wortspiel bemüht, aber ich kann mir nicht helfen festzuhalten: Das Peter Schwebs Quintet schwebt.
Es wird nicht weiter verwundern, dass diese Platte meine liebste von den diesmal vorgestellten ist. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft ich In-between Seasons & Places in den letzten Stunden gehört habe. Es bringt mich zum Singen. Auch der Hund ist bei „Daedalus“ und „Goodbye in Newark“ mittlerweile derart tiefenentspannt, dass er fest schläft, und in der Tat trötet sich Schwebs’ Quintett auch mit „On Cortelyou Road“ immer weiter in Richtung Mitternachtsjazz, sodass man sich zunehmend in einen kleinen Jazzclub versetzt fühlt, den einen oder anderen kühlen Drink in der Hand, die Nerven aufs angenehmste beduselt, der Geist nichtsdestotrotz hochaufnahmefähig, und jeder weitere Ton bringt eine neue innere Saite zum Klingen. Genauso sollte Jazz-Jazz sein.
Sie wissen nicht, was Jazz-Jazz ist? Lassen Sie mich kurz erklären. In Berlin gibt es ein markenloses Bier, das schlicht mit „Bier“ etikettiert ist. Möchte man dies in einer Kneipe bestellen, sagt man, man hätte gern ein Bier-Bier. Genauso geht es mit Jazz-Jazz. Kein Brimborium, nur die pure Essenz.
So, wie der Beginn des gitarrendominierten Titeltracks „In-between Seasons & Places“, der einer Meditation gleichkommt, sich dann aber auch zum Jazzclub fortentwickelt und – welch Überraschung! – als einziges Stück des Albums etwas langatmig gerät. Das jedoch wird wieder kompensiert durch „Stranger at home“, einen Walkingbass-betonten, gut abgehangenen Rausschmeißer, bei dem es nicht nur wieder gehörig mitternachtsjazzt, sondern der die Platte auch entspannt swingend, aber dennoch nicht ohne Schrägen, nach Hause groovt. Was gäb’ ich darum, das mal live zu hören!
Plattenkritik: Bodo und Herzfeld | Christian Zehnder & Gregor Hilbe | Yakou Tribe | Peter Schwebs Quintet | Paolo Thorsen-Nagel Projekt | Delicious Date | Electro Deluxe | Jimi Hendrix