Dezember 2012 / Victoriah Szirmai
Obwohl ich guten Gewissens behaupten kann, dass „Never judge a book by its cover“ einer meiner meistumgesetzten Leitsprüche ist, muss ich ihm in Bezug auf Platten untreu werden. Fakt ist: Es gibt Platten, denen sieht man schon am Cover an, dass sie einem gefallen werden. Mir ging es erst kürzlich mit East Autumn vom Christian Meyers Quintet so: eine Trompete, der Fernsehturm, dezente Farben, dazu meine liebste Jahreszeit, der Herbst – kurzum: diese Platte war schon allein von außen so schön und sprach so vieles in mir an, dass ich sie unbedingt haben musste!
Dass sie bei Neuklang Records, dieser sympathischen Label-Ausgründung der legendären, 1949 gegründeten Bauer Studios für Experimentelles, Jazziges und Zeitgenössisches, erschienen ist, erschwerte die Sache nicht gerade, haben uns die Ludwigsburger doch erst zu Beginn des Jahres mit dem Florian Fleischer Quintett verzückt – und auch Lieblingsplatten wie Olivia Trummers „Poesiealbum“ gehören in ihr Portfolio.
Und ebenso wie die Stuttgarter Pianistin scheint auch der trompetespielende Wahlberliner von plumpen Vertraulichkeiten wenig zu halten – Neuklang-Künstler siezen den Journalisten beim Erstkontakt, das ist selten geworden und nicht unangenehm. Diese gesunde Distanziertheit ist ja dann auch etwas, das dem „europäischen Jazz“ (was auch immer das sein mag) gemeinhin unterstellt wird; doch sucht man eine Groovemangel-induzierte Sterilität beim Christian Meyers Quintet, (das da neben Christian Meyers an Trompete und Flügelhorn sind: Andi Maile am Tenorsaxophon, Ull Möck am Klavier, Jens Loh am Kontrabass und Eckhard Stromer am Schlagzeug) vergebens, denn „East Autumn“ groovt, verzeihen Sie den Ausdruck, wie Sau, die Melodien sind catchy – gerade Stücke wie den Opener kriegt man tagelang nicht mehr aus dem Kopf.
Vor allem aber ist es der Bandklang, der wie aus weiter autobiographischer Ferne seltsam vertraut scheint. Als wären die Nummern während der eigenen Kindheit im Radio gelaufen. Als wären sie einst intime, aber lang nicht mehr gesehene Freunde, die plötzlich wieder vor der Tür stehen. Vielleicht ist es das, wovon sich manche Kritiker hinreißen lassen, die Platte als Old School zu bezeichnen.
Doch ist das nur die halbe Wahrheit, denn „East Autumn“ kommt in einem dermaßen frischen Gewand daher, dass die Platte aller traditionellen Reminiszenzen zum Trotz als absolut zeitgemäß ausweist. Gerade die groovigeren Stücke habe man, so der Trompeter und Bandleader im Interview, ganz bewusst so dargeboten, wie man damals noch nicht spielte. Die Flügelhorn-getragenen Balladen indessen verströmen in der Tat den sanften Schimmer nordeuropäisch-kühler, langverwurzelt-folkartiger Aura; man mag sich an die „Layers of Light“ von Nils Landgren und Esbjörn Svensson erinnert fühlen.
Ob dies am Berliner Herbst, denn auf nichts anderes nimmt „East“ im Plattentitel Bezug, liegen mag, der sich für den gebürtigen Rheinländer mit Lehrauftrag in Stuttgart wie Winter anfühlt, sei dahingestellt. Fest steht, dass es dieser Platte mit ihrem durchweg homogenen Bandsound gelingt, zwischen dem scheinbaren Gegensatzpaar ‚traditionell amerikanischer Jazz‘ und ‚europäisch unterkühlter Intellektuellenjazz‘ nicht nur einen mühelosen Spagat hinzulegen, sondern das Ganze so zu vereinen, dass es sich mithin als zwei Seiten ein und derselben Medaille zu erkennen gibt.
East Autumn eröffnet mit „A Glimpse of Past Events“ hochenergetisch irgendwo zwischen Swing und Beebop, was bedeutet, dass man sich von der ersten Minute an dem Groove kaum entziehen kann. Kurz durchatmen lässt sich mit dem glücklichmachenden, relaxten, wie lange vertraut scheinenden „Light Flight“ und seinem bezwingenden, aufwärtsstrebenden Motiv, das Sucht- wie Ohrwurmpotenzial gleichermaßen bietet und die Mundwinkel automatisch nach oben schnellen lässt.
„Jim’s Jump“ wiederum ist ein fiebrig swingender Kopfnicker im Modern-Jazz-Kleid, während bei der Ballade „Still Around“ zum ersten Mal das im Titel versprochene Herbstfeeling aufkommt, mit geballter Melancholie und der ganzen Palette an herbstlichen Emotionen irgendwo zwischen Ausweglosigkeit und Fernweh.
Zeit, sich der aufkommenden Depression hinzugeben, gewährt das Christian Meyers Quinet seinen Hörern indessen nicht, denn schon folgt das absolute Highlight dieser an Höhepunkten ohnehin nicht armen Platte: „April’s Prayer“, das auf dem wahrscheinlich ältesten liturgischen Gesang in deutscher Sprache basiert, dem mittelalterlichen Psalm „Christ ist erstanden“. Dem wiederum das noch ältere „Victimae Paschali Laudes“ des Wipo von Burgund zugrunde liegt und hier stilecht im dorischen Modus wiedergegeben wird. Die Strahlkraft dieser tausend Jahre alten Melodie ist ungebrochen, so berührend wie am ersten Tag – und hat sie sich erst einmal im Kopf eingenistet, ist sie nicht mehr zu vertreiben.
Das gelingt auch mit dem düsteren „Out of the Darkness“ nicht, dem – zumindest in diesem Kontext – wider jeglicher Tristesse eine unbewusste Hoffnung, ja: Wärme, innewohnt. Das letzte Quäntchen Melancholie vertreibt der Titeltrack, der nicht nur durch seinen Appell-artigen Charakter, sondern auch mittels vereinzelter Pentatonik-Licks, die sich schon im Opener finden, besticht. Wäre ich Herbst, ich würde mich willkommen geheißen fühlen!
Ganze Bigband-Ären legt einem „Kitchen Talk“ vor die imaginären Füße, und mit dem eleganten „Cat Call“ scheint man endgültig bei der sentimentalen Tanzteeverklärung angelangt zu sein. Ja, der auf Quintettbesetzung heruntergebrochene, nostalgische Bigband-Sound ist neben den unglaublich lyrischen, nie aber kitschigen Balladen schon ein großes, ach, was: Das große Thema bei Meyers, der durch Stationen wie HR Big Band, RIAS Big Band, WDR Big Band, Big Band Convention Köln, Bobby Burgess Big Band Explosion – um nur einige zu nennen – von Grund auf Bigband-sozialisiert ist.
Doch nach einem Umweg über den calypsoesken „Berlin Pancake“, der augenzwinkernd aufs Korn nimmt, dass bei Berlinern der Berliner Pfannkuchen heißt, und der Pfannkuchen wiederum Eierkuchen, kommt das Album mit dem beschaulichen „Cold and Sunny“, das von der Verflechtung der beiden Bläser lebt, und der modernen Ballade „Little M“ – großartig der Dialog zwischen Meyers und seinem Kontrabassisten! – wieder ganz im Hier und Jetzt an.
East Autumn ist ein erstaunlich stilsicheres Album für alle, für die Jazztrompete nicht mit Til Brönner aufhört, sondern die vielleicht durch unsere jüngste Besprechung des Zodiak Trios auf den Geschmack des Trompetentons gekommen sind und ihn tiefer ausloten wollen. Es funktioniert aber auch für all jene, die sich nicht um den Trompetenklang scheren und einfach Spaß an guter, frischer Musik auf ihren Plattentellern haben. Nicht zuletzt ist dieses Album dermaßen konsensfähig, dass Sie davon getrost fünf Exemplare erstehen und zu Weihnachten verschenken können – dem Blockflöte spielenden Enkel ebenso wie der kunstbeflissenen Tante. Wäre es ein Bekleidungsstück, die Modezeitschriften würden es zu Recht zum „absoluten Must-Have der Saison“ ausrufen.