Februar 2011 / Victoriah Szirmai
Nachdem mir die Ossicles (zu Deutsch: Gehörknöchelchen) des norwegischen Saxophonisten, Komponisten und Poeten Karl Seglem aus mittlerweile zwei verschiedenen Quellen eindringlich ans Herz gelegt wurden, habe ich nun einen kompletten Nachmittag mit dieser CD verbracht. Und es nicht bereut.
Allem voran: Die Ossicles sind keine Instant-Musik, die man kurz aufbrüht, konsumiert und schnell wieder vergisst beziehungsweise in den CD-Player legt, einmal hört und sofort gut findet.
Und das liegt sicherlich nicht nur daran, dass man das mittlerweile 27. Album Seglems nicht so recht einzuordnen weiß. Da treffen Reggae-Rhythmen und die ¾-Takte des traditionellen, inzwischen aber fast vergessenen Springar auf pakistanische Metren, zusammengehalten allein vom archaischen Klang und der naturgegeben eher simplen Tonalität des Ziegenhorns, welches Seglem mit Saxophon- und Trompetenmundstück spielt und sich neben dem Tenorsaxophon zu seinem instrument préféré gemacht hat.
Dieser Mann hat eine Mission. Nichts Geringeres hat er sich auf die Fahnen geschrieben, als die urtümliche Kraft und den lyrischen Melodienreichtum des norwegischen Folks auszuloten. Und dessen hier so konsequent exerzierte strenge Skalenstruktur ganz en passant mit musikalischen Facetten aus aller Welt anzureichern. So erinnert gleich der erste Track, Gammal Rørsle, spontan an den Klangkosmos Loreena McKennitts, an ihre Verpaarung keltischer und orientalischer Motive. Auch die Ossicles sind auf schwer greifbare Weise ursprünglich „nordisch“, und auch auf ihnen klingt von fern orientalischer, gar afrikanischer Trommelschlag an. Unverkennbar arabisch wird es beispielsweise auf Sognabad, einem Song, der den pakistanischen Musikern Saghir Ali und Mohammad Ashger gewidmet ist, die Seglem auf einer Konzertreise in Islamabad kennenlernte.
Wo sich aber McKennitt größtenteils an herkömmliche Songstrukturen hält, findet man bei Karl Seglem manchmal drei völlig verschiedene Stücke in einem. Der Auftakt seiner Songs erinnert oftmals an die Ouvertüren moderner Musikspiele, dann bekommen die monoton-hypnotischen Percussions einen derart langen Auftritt, dass vor dem geistigen Auge des Hörers endlose Karawanen und Bauchtänzerinnen aus Tausendundeinernacht erscheinen und man sich mitgroovend schon in Sicherheit wiegt, und dann – dann setzt plötzlich Karl Seglems Ziegenhorn ein, dieses uralte skandinavische Instrument, dessen Klang einen zurückführt zu den Wurzeln der Musik, ja: den Wurzeln der Menschheit. Bevor aber die Distanz zum modernen Hörer zu groß wird, versteht Seglem es, die an unseren verborgenen Schichten rührenden Erschütterungen durch modernstes Elektrogeschnassel zu konterkarieren, und man weiß erst einmal nicht, ob man enttäuscht oder dankbar sein soll.
Nicht nur böse Zungen, sondern selbst der Pressewaschzettel zeiht Seglem folgerichtig seiner „eklektischen Arrangements“. Da trommeln sich gleich drei verschiedene Percussionisten – unter ihnen ein gestandener Indie-Rocker – die Seele aus dem Leib, Håkon Høgemos Hardanger-Fiedel bringt das „Nordic Folk“-Feeling. Und die stark rhythmusbetonten Klangfarben von westafrikanischer Ngoni, einem Lauteninstrument, und Mbira, dem Lamellophon, treten schließlich ebenso auf den Plan wie das exotische Flair des hier von Seglem erstmals – und dennoch meisterhaft – gespielten Antilopenhorns. Das alles ist jetzt aber nicht schlimm. Nur gewöhnungsbedürftig, denn radiokompatibel ist so etwas mit Sicherheit nicht. Und auch nicht mehr unbedingt kompatibel mit den Hörerwartungen von jemanden, der nicht Tag und Nacht damit verbringt, Jazz zu hören. Die Ossicles sind zwar beileibe kein Freejazz oder was es da sonst noch an völlig der Form entbehrenden Spielarten des Jazz gibt – im Gegenteil, Form uns Struktur spielen bei Seglem eine große Rolle! -, aber sie sind zunächst einmal ebenso schwerverdaulich. Das ist keine Musik, die Sie mal eben einlegen, um sich beim Bügeln beschwingt zu fühlen. Die Ossicles verlangen dem Hörer da schon mehr ab.
Beim zweiten Hören fühlt sich das Ganze schon bedeutend vertrauter an; die kleine einfache Melodie des ersten Tracks grüßt die Gehörgänge wie eine gute Bekannte, der Reggae-Groove des zweiten Tracks, der von einem seltsamen Zwitterwesen zwischen Folkfiddel und kammermusikalischem Streichquartett überlagert wird, erscheint mit einem Mal sehr eingänglich. Das Ziegenhorn kennt man schon, und es scheint auf einmal zu einem zu sprechen wie die Stimme eines alten Vertrauten, von dem man einfach lange Zeit nichts gehört hatte. Seglems hingebungsvolles, aber dennoch unaufdringliches Saxophonspiel, das sich am besten als virtuos, aber frei von jeglicher Aufschneiderei beschreiben lässt, umhüllt einen warm.
Und ab dem dritten Hören sind die Ossicles zu einem Begleiter geworden, den man nicht mehr missen möchte. Eine ganz erstaunliche, ja magische Platte, die es vermag, einen durch Zeiten und Welten zu führen – wenn man sich erst einmal auf sie eingelassen hat. Hinter ihrer zunächst schwer erscheinenden Zugänglichkeit verbirgt sich eine wunderbare Einfachheit, denn eigentlich sind die Ossicles keine komplizierte Musik für Intellektuelle, sondern für lebensfrohe Tänzer. Schließlich wurde das Album im holzgetäfelten Tanzsaal eines Herrenhaus-Hotels in nur vier Tagen vor einem kleinen Publikum aufgenommen – das ist hier keine Studiotüftelei, sondern recht eigentlich ein Live-Album im besten Sinne.