Mai 2012 / Victoriah Szirmai
Ich habe eine Leidenschaft: auf dem Grunde der Seele spazieren zu gehen. Nettes Geplauder, oberflächliche Begegnungen, das alles interessiert mich nicht. Wer mein Freund sein will, muss bereit sein, immer wieder zu seinen Abgründen vorzudringen, sie ans Licht zu zerren und dann mit chirurgischer Präzision zu zergliedern.
Jetzt habe ich einen neuen Freund. Der kongeniale Grenzgänger Tobias Preisig fängt auch erst an jenem Punkt an, sich für etwas zu interessieren, wo andere schon längst aufgehört haben. Und so geht es ihm auf In Transit dann auch um nichts Geringeres als das Ausloten der natürlichen Grenzen seines Instruments, der Geige. Das fast Unhörbare ist es, was ihn fasziniert und was er immer wieder hörbar zu machen sucht.
„In Transit“ ist eine Platte, die es wert ist, ganz langsam kennengelernt zu werden – eben wie jemanden, von dem man überzeugt ist, dass er das Potenzial zu einem sehr engen Freund hat. Auch ist es unglaublich schön, sich für ihre Rezension viel Zeit nehmen zu können. Und es lohnt sich. Denn was als erster Höreindruck noch Chaos und Unordnung ist, fügt sich zu einer logischen, ja: übergeordnet-organischen Struktur, lässt man es nur vier bis fünf Wochen in sich nachklingen. Zugegeben: Instant-Musik – CD öffnen, einlegen und gut finden – ist das nicht. Sondern ein recht experimentelles Album und mit Sicherheit eines der schwerverdaulichsten, die in Victoriah’s Music seit Arve Henriksens „Cartography“ im Dezember 2008 besprochen wurden. Wer auf der Suche nach einer eingänglich-süßen Melodie, einer wohltuenden Harmonik und einem nicht-verstörenden Rhythmus ist, der ist bei Preisig – zunächst, das sei betont – falsch, denn dieses Album kann einen, begegnet man ihm unvorbereitet, auf dem falschen Fuß erwischen.
Allein schon der Opener „Infinite Inhale“! Welches Instrument ist es gleich, was da gespielt wird? Ausgeticktes Saxophon? Überkandidelte E-Gitarre? Umso erstaunlicher, dass es sich hier nicht um eine bis zur Unkenntlichkeit verzerrte E-Geige handelt, sondern um das naturbelassene Instrument, das allein durch Preisigs Spieltechnik verfremdet wird.
„Ich mache das alles mit meinem Bogen“, erzählt der Geiger im Interview. „Ich habe eine Technik entwickelt, wie man dieses verzerrte Geigenspiel ohne Elektronik imitieren kann, nämlich indem man mit dem Bogen sehr nah zum Steg geht und fest drückt, links hingegen sehr wenig Druck gibt. Dann kommen alle Obertöne hoch, was zu diesem Effekt führt.“ Und der trifft den Hörer direkt in die Magengrube. So gelingt es ihm, obgleich er auf den Pressefotos mit seiner wilden Mähne und den Glutaugen an den ungarischen Gypsy-Geiger Roby Lakatos in jungen Jahren erinnern mag, die Geige von jeglichen osteuropäisch-folkloristischen und – bewahre – romantischen Assoziationen zu befreien.
Übrig bleibt ein fast gewalttätig zu nennender Klang, blechern, industriell, fast brachial. Wenn man diese Musik zum ersten Mal hört, ist es wie bei einem Verkehrsunfall, wo man einfach hinschauen muss, obwohl man es gar nicht will. So muss man auch bei „In Transit“ einfach zuhören; ist fasziniert, obgleich man nicht im herkömmlichen Sinne mag, was man da hört. Kein Wunder, dass Preisig sein Quartett mit Stefan Aeby am Klavier, André Pousaz am Bass und Michi Stulz am Schlagzeug dann auch eher mit einer Indie-Rockband vergleicht, bei der die Geige den Part des Sängers übernimmt. Für Geiger habe er sich ohnehin nie sonderlich interessiert; vielmehr ist es der Gesang der Geige, ihr Atmen, das Erwecken ihrer Menschlichkeit, nach der er auf der Suche ist.
Und Suche ist für „In Transit“ auch das perfekte Stichwort, denn die Musik dieses Albums, die sich grundlegend aus der Improvisation speist, möchte Preisig eher als Suchen denn als Ankommen verstanden wissen: „Den Titel unserer zweiten CD kann man so verstehen, dass wir [als Band]zurzeit in einer Transitzone sind und wohl auch nie ankommen werden, weil wir ständig auf der Suche sind.“ Es geht um einen inneren Transit, eine Reise durch ein drittes, die Erscheinung wie im Traum beständig veränderndes Land, welches jedem Reisenden ein anderes Gesicht zeigt und ihm kontinuierlich Entscheidungen abverlangt. Welchen Weg soll ich einschlagen? Wohin will ich überhaupt? Und wie geht es jetzt weiter? Das gilt auch für den Hörer, denn um – und das ist jetzt im positiven Sinne gemeint – überhaupt so etwas wie eine Melodie zu finden, muss man schon bis zum vierten Stück, „Charming Sophistication“, durchhalten. Dann aber kommt ihr Einsetzen einer Erlösung gleich. Doch selbst hier knallen ab Minute zwei die Dissonanzen, und ich kann mich nicht entscheiden, ob das hier noch Free Jazz oder schon Neue Musik ist!
Nahtlos in diese Zwischenwelt fügt sich als fünftes Stück das einzige Cover auf „In Transit“ ein, Preisigs von der Jeff-Buckley-Version inspirierte Interpretation des Leonard Cohen-Klassikers „Hallelujah“, das er extrem Flageolett-haltig angeht, wo es eher schabt und schmirgelt, als dass es klingt; mit viel Luft, viel Schweben, darunter ein Piano wie aus einem Horror-Movie-Soundtrack, an der Oberfläche scheinbar simpel, darunter abgründig gruselig und mehr als unterschwellig bedrohlich – ein Effekt, den man von im Psychothriller-Kontext verwendeten Kinderliedern kennt.
„Das hat auch ein bisschen damit zu tun, dass man bei der Geige ja einen Ton hat, den man immer ein bisschen höher oder ein bisschen tiefer spielen kann, und damit kokettiere ich extrem. Für mich ist nicht ein Ton ein Ton. Sondern er ist modulierbar. Wie ein Sänger nicht einfach einen Sinuston singt – sondern da gibt es minimale Schwingungen, die ich einfach verdammt spannend finde. Und das verursacht manchmal ein bisschen Unwohlsein, wenn man es nicht gewöhnt ist. Wenn man ein bisschen tiefer moduliert, erzeugt es dieses Unangenehme.“
Aber Preisig wäre nicht Preisig, wenn nicht auch seine Hallelujah-Version nach knapp zwei Minuten mit vollem Band- und Körpereinsatz loslegen würde, auch dies extrem schwer verdaulich, irgendwo zwischen John Zorns Ultraschallklängen und Throbbing Gristles Industrial-Welten, immer entlang am äußersten Rand des Erträglichen. Man kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass Preisig mit seinen Stakkati die Töne, die er da abstößt, regelrecht loswerden will. Was er hier macht, ist spannend. Nicht immer angenehm, aber immer fesselnd.
Düster geht es weiter mit dem „Totenmarsch“, der durch einen sehr sehr sehr eindrucksvollen Kontrabass besticht, ansonsten aber mit den spontan assoziierten New Orleanser Begräbnismärschen wenig zu tun hat – eher mit dem Marche Funèbre einer Soap&Skin, wäre sie nur zwanzig Jahre älter! Und zum ersten Mal geht mir hier auf, dass „In Transit“ am ehesten Film-Musik ist, suchte man nach einem Genre, aber nicht im John William’schen Sinne und erst recht nicht ein Soundtrack zu einem real existierenden Film, sondern zu einer Bilderflut im Kopf, die irgendwo nördlich auf dem Globus angesiedelt ist, unterkühlt, wo das Menschliche und das Maschinelle einen archaischen Kampf austragen. Diese Stimmung setzt sich auch in „What An Appearance“ fort. Dann aber kommt Track 8, das titelgebende „In Transit“. Und das ist in der Tat mit nur zwei Worten zu beschreiben: unendlich zärtlich. Und wieder einmal verheißt Preisigs Spiel Erlösung vom ermüdenden Kampf der Urgewalten. Und alles fügt sich.
Das gilt auch für die beiden letzten Stücke, nachdem in „Intoxicated Wheel“, wie mir scheinen will, das Hallelujah-Thema nochmals aufgegriffen wird: „C’est L’Ange Qui Part“ und „Monolog Dialog“, wobei Letztgenanntes wohl noch am stärksten an das Klischee des osteuropäischen Teufelsgeigers erinnert und mit seiner Doppelgriffrhythmik das Album unerwartet versöhnlich ausklingen lässt. Auch der Live-Eindruck bestätigt das Vermittelnde, Versöhnliche, Erlösende, obgleich man eigentlich erwartet hätte, dass sich die Struktur der Stücke live noch mehr auflöst. Mit Erwartungen liegt man bei Tobias Preisig aber ohnehin falsch.
Tobias Preisigs Musik ist Musik für den Regen, für Nächte am offenen Fenster, für die Fahrt entlang einer rauen Küste – kurz, für all jene Momente oder vielmehr Seinszustände, wo sich der Mensch aufgrund der ihn umgebenden Elemente nicht nur auf sein Ur-Menschliches zurückgeworfen fühlt, sondern sich gleichsam öffnet und wagt, mehr Mensch zu sein als in seinem Alltag. Hier gibt es plötzlich keinen Schutzwall aus verlässlichen Kategorien und unverrückbaren Glaubenssätzen mehr, kein Gut vs. Böse, kein Weiß vs. Schwarz, sondern nur noch Zwischenwelten, Transitzonen eben, die jedoch seltsamerweise keine Angst mehr erzeugen, sondern mit denen sich der solcherart ausgesöhnte Mensch in ungewohntem Einklang bewegt.