September 2016 / Victoriah Szirmai
Und immer noch hält der Norden gefangen, der diesjahr – begonnen mit den Offpiste Gurus und Kalle Kalima über das Midsommar-Festival bis hin zum Nordic Soul von Fredrika Stahl und Torun Eriksen – schon so ausgiebig in seinem Bann gezogen hat. Doch genug ist es noch lange nicht. „Mehr, mehr!“, ruft nicht nur der kleine Häwelmann, „mehr, mehr!“, rufe auch ich. Da kommt das neue Album von Karl Seglem gerade recht, dessen Titel aufs Trefflichste zusammenzufassen versteht, wie die skandinavischen Klänge aufs überreizte mitteleuropäische Gemüt wirken. Und wo man sich auf die zuletzt an dieser Stelle besprochenen Ossciles des norwegischen Jazzsaxophonisten und Ziegenhornbläsers erst einlassen musste, um sie genießen zu können, nimmt Nordic Balm sofort für sich ein.
Auf dem Opener „Balsam“ sorgen ein repetitives Motiv von Pianist Andreas Ulvo, der gestrichene Kontrabass von Sigurd Hole und allerlei Regenmachergeräusch von Schlagzeuger Jonas Howden Sjøvaag für eine dunkle, irgendwie nasskalte Atmosphäre, der erst Seglems Tenorsaxophon, in dessen Gegenwart die Mitternachtssonne aufgeht, wohlige Wärme einzuhauchen weiß – so einprägsam das Thema, so bestrickend der Ton! Auch auf der Sjøvaag-Komposition „Lys I Glaset“ entspinnt Seglem eine Melodie, die sich hoch und höher schraubt, um letztendlich ebenso aufzugehen wie des Hörers Herz. Spätestens hier wird die Balsam-Idee nicht nur hör-, sondern nachgerade am eigenen Leibe spürbar. Nordic Balm ist Medicine Music ohne Ethno-Tamtam: Wie von selbst passen sich Atem- und Herzfrequenz den von Seglem vorgegebenen Parametern an, man ertappt sich beim tiefen, alle Alltagslasten loslassenden Ausatmen, das genaugenommen ein Aufatmen ist. Mit „Eldblome“ zieht das Tempo an, und wer über eine lebhafte Phantasie verfügt, sieht Trolle, Elfen und Eisriesen tanzen. Wer nicht, lässt sich ganz assoziationslos beschwingen und zwischendurch auch den einen oder anderen Schmunzler entlocken, bis, ja, bis das Ganze mit seiner wahnwitzigen Urgewalt – wo nix mehr ist mit Trollen, Elfen, Eisriesen – einem schier den Atem nimmt und nicht mehr Schmunzeln, sondern bass Staunen macht. Was für ein Zusammenspiel, was für eine Band, was für eine Platte!
Bei „Myrull“ trifft mystisches Zauberwaldgeräusch auf eine Melodie, die aus den Tiefen eines archaischen Klangschatzes zu stammen scheint und sich einzig mit dem Naturhornton wieder zum Leben erwecken lässt. Zwar mag das Ziegenhorn im Gegensatz zum Saxophon in Tonumfang und Dynamik seine Beschränkungen haben, weiß dafür aber derart lebewesenähnliche Laute hervorzubringen, dass man glaubt, es lebe selbst – vor allem, wenn es im Duett mit dem Kehlgesang Sjøvaags einhergeht. Auf „Februargras“ nimmt magisch-suggestives Geschehen gefangen, indes Seglems Töne auf einem Klangteppich floaten, gewebt aus Pianotupfern, Glockenspiel und einem alles zusammenführenden Butterbass, der nicht nur Grund, sondern auch Behaglichkeit ins Spiel bringt. Solchermaßen abgesichert kann dem kühnsten Horn nichts, aber auch rein gar nichts mehr passieren, wenn es sich zu seinen Entdeckungsreisen emporschwingt.
„Ned Dalen“ weckt aus diesem wohligen Traum, um ihn in einem tempo- und facettenreicheren Szenario fortzuspinnen, denn auch hier sorgen die repetitiven Melodiebögen für einen nur als Halbschlaf zu beschreibenden Zustand, knallwach einerseits, doch nicht von dieser Welt andererseits, zwischen Licht und Schatten oszillierend, mal dringlich, dann wieder völlig losgelöst, bis auf „Fjordskimr“ der Schrei gepeinigter Kreatur schockiert, der so gar kein Balsam sein will. Freejazzliebhaber, die dem ekstatisch-alarmierenden Brachialgeknatter Peter Brötzmanns etwas abgewinnen können, sind hier richtig. Das ist nur schwer zu ertragen und hat sich trotzdem – oder gerade deshalb – einen bleibenden Platz auf dieser Platte verdient. Kein Balm ohne vorausgegangenen Schmerz, der sich hier über quälende vier Minuten blökend, miauend, heulend Ausdruck, wenn nicht gar Erleichterung zu schaffen sucht.
„Helgheim“ dann beweist, dass popkompatibler Rhythmus und urtümliche Melodie weder Widerspruch noch allzu kalkulierter Stilbruch sein muss, vielmehr wachsen die einzelnen Bestandteile des Stücks auf geradezu organische Weise in ihrer extremsten Form der Verdichtung zusammen, bis sie ebenso untrenn- wie voneinander ununterscheidbar miteinander verbunden sind, als wären sie nie für sich allein gewesen. Es quietscht, knarrt und knarzt, es öffnen sich Türen (oder auch Gräber), vorangetrieben von diesem unbarmherzig voranschreitenden Poprockbeat. Nicht ungelegen kommt es da, dass der Closer „Solhaug“ wieder ganz auf die Magie des Balsams setzt um ebenjene Wunden zu lindern, die die letzten Stücke gerissen haben. Gerahmt von sanftem Schlagzeugbesensound, behutsamen Pianosprenkeln und trägen Bassklecksen lotet Seglem vorsichtig den Raum unter Akzeptanz der selbstgesetzten Grenzen aus, schraubt sich hier und da empor, um sich gleich darauf zurückzuziehen, bis er abrupt vollends verschwindet und einen ratlosen Hörer zurücklässt, der sich noch nicht ausreichend balsamiert fühlt und dem deshalb nur eins bleibt: „Mehr, mehr!“ zu rufen und die Platte, die als audiophiles 180-Gramm-Vinyl mir purem Analogsound und High End Vinyl Mastering in limitierter Auflage lockt, einmal mehr umzudrehen.
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Karl Seglem – Nordic Balm