August 2016 / Victoriah Szirmai
Wer eine Vorliebe für Skandinavisches aller Art hegt, begeht nicht nur am 13. Dezember begeistert das Luciafest mit Kerzen und Gesang, sondern feiert auch an jenem Samstag, der zwischen dem 20. und 26. Juni liegt, Midsommar. In Schweden ist der Mittsommertag nach Weihnachten das zweitgrößte Fest des Jahres – und wird entsprechend zelebriert: Man stellt die Mai- oder Mittsommerstange (midsommarstång) auf, schmückt sich mit Blumenkränzen, es gibt Kartoffeln, Hering und mehrere „nubbe“ genannte Gläser Schnaps, die man hierzulande wohl als „Kurze“ bezeichnen würde. Natürlich darf auch der passende Soundtrack nicht fehlen.
Um solch ein Mittsommerfest zu erleben, muss man sich aber nicht nach Schweden bemühen – zumindest dann nicht, wenn man das Glück hat, in Berlin zu wohnen, wo die umtriebige Initiative Nordic by Nature ihr Basislager aufgeschlagen hat. Ziel der ursprünglich als Musik- und PR-Beratung gestarteten Agentur ist es, der deutschen Hauptstadt skandinavische (Pop-)Musik mittels verschiedener Events und via Blog regelmäßig veröffentlichter Playlists näher zu bringen. Dabei fokussieren die Nordics vor allem auf aufstrebende Künstler, die auch in ihren Heimatländern (noch) als Geheimtipp gehandelt werden.
Und so holt Nordic by Nature auch für das diesjährige Berlin Midsommar Festival, das 2012 aus der Taufe gehoben wurde und mittlerweile in die fünfte Runde geht, gemeinsam mit dem Skandinavien-Magazin NORR, der Spex, dem Modemagazin Kaltblut und den Videomachern von Berlin Sessions fünf junge Acts ans Urban-Spree-Ufer. Mit dabei: Das als LoFi-Dream-/Psychpop-Formation angekündigte Trio Chain Wallet aus Norwegen, das der sogenannten Bergen Wave zugerechnet wird, zu deren bekannteren Vertretern Röyksopp oder Kings of Convenience gehören. Viel verspreche ich mir auch von der ebenfalls der skandinavischen LoFi-Synth-Pop-Szene zuzurechnenden Künstlerin Lisa Alma aus Kopenhagen, die nach ihrem selbst herausgebrachten Debüt 2013 und einer EP im Folgejahr nun endlich einen Plattenvertrag an Land gezogen hat, um ihr neues Album Sweater unter die Leute zu bringen. Große Vorfreude auch auf Almas Landsleute Wangel, dem von Singer/Songwriter Peter Wangel und Producer Kasper Ejlerskov Leonhardt geformten Electro-Pop-Duo, das seit seiner 2015er-Durchbruchs-EP Eternal History und dem phänomenalen Jeff-Buckley-Cover „Everybody Here Wants You“ wohl kaum noch als Geheimtipp durchgeht.
Zum fortgeschrittenen Abend gibt’s hypnagoge Rap- und Electronic-Beats von Lord Pusswhip aus Reykjavík, der um Mitternacht von der Schwedin Ana Rab, besser bekannt als Gnučči, am Mikro abgelöst wird. Rab, so will es die Bandbeschreibung, ist ein guter Mensch, der gute Musik macht – in ihrem Falle „Pussy Power Rap“, der ihr den Ruf einer schwedischen Nicki Minaj eingebracht hat. Für Abwechslung, soviel steht jedenfalls fest, ist gesorgt.
Bevor es soweit ist, vertreibt sich der urbane Spreester die Nachmittagsstunden mit allerlei Folkloristischem wie Blumenkranzwinden, finnischem Saunieren (wobei hier vor allem die eiswürfelgefüllte Badewanne lockt!) und dem Konsum von Gratis-Eis, Preiselbeer-Wodka-Shots, Rosenwasser-Smoothies, Waffeln mit Gänseblümchen oder Maniokfladen und veganen Açai-Beeren-Sorbets aus dem Amazonas. Gerade Letztere sind bei schwülen vierunddreißig Grad eine Wohltat! Wer den nubbe noch nicht allzu sehr zugesprochen hat, kann sich an traditionell skandinavischen Spielen wie dem hierzulande als „Schwedenschach“ bekannten Kubb versuchen, sich im Fünfkampf messen oder auf eine „Göteborg Paper Chase“ genannte Wissensjagd gehen, deren Sieger eine Reise in die schwedische Provinz winkt. Nicht zuletzt lässt es sich in einem der vielen Liegestühle bei Lektüre einer der NORR-Back-Issues, die mit Titelstorys wie „Die schönste Einsamkeit. Wohnträume in der Wildnis“ die Reiselust triggern, trefflich relaxen.
Um Punkt neunzehn Uhr dann entern Chain Wallet die auch am frühen Abend noch vollsonnige Bühne. Live zum gitarrenstarken Quintett angewachsen, klingen die Bergener weit weniger dreampoppig als auf ihrer aktuellen Single „Shade“, sondern eher nach einer amtlichen College-Rock-Band, die den Studentenschuhen endlich entwachsen ist und mittlerweile stadionfüllende Indierockhymnen mit Ohrwurmpotenzial spielt. Ist überhaupt nicht meine Musik, doch je mehr ich davon höre, desto besser gefallen mir die Lieder, denen man ein gewisses Suchtpotenzial nicht absprechen kann.
Jetzt steht aber erst einmal der gemeinschaftliche Tanz um den Maibaum an. Bin ich diesjahr noch Zuschauer beim traditionellen Små Grodorna-Gesang („Die kleinen Frösche“), mache ich nächstes Jahr sicherlich mit! Doch allein mit dem Begucken der sehr jungen, sehr blonden Menschen, deren irrsinnige Attraktivität fast schon ans Lächerliche grenzt, bin ich vollauf beschäftigt. Gesundes Selbstbewusstsein sollte man inmitten dieser Model Army schon mitbringen. Für eventuelle Durchhänger steht ein durchs Gemenge wuselnder Haushund bereit, der Streicheleinheiten genießend das geknickte Ego wieder aufrichtet.
Und dann kommt auch schon Lisa Alma, von deren Auftritt ich mir mehr versprochen hatte. Ein bisschen erinnert er mich an den Gig der Schwedin Alice Boman auf der 2014er-Ausgabe der Berlin Music Week. Wo Thigh, das wunderbare Album der Neu-Berlinerin, mit verträumt aufgefächerter Klangarchitektur, fingerschnippenden Dillon-Vibes und erotisch angehauchten Vocals besticht (man höre nur einmal in die Singles „Desire“ und vor allem „Golden Light“ hinein, das sich hinter den Stücken einer Beth Gibbons nicht verstecken muss!), nimmt sich die heutige Performance seltsam blutleer aus – dabei ist Alma dank Tourneeerfahrung mit Olafur Arnalds und Chinawoman eigentlich eine gestandene Live-Künstlerin.
Das sind auch die Jungs von Wangel, obgleich ihr Auftritt auf dem Berlin Midsommar Festival ihre Berliner Feuertaufe ist. Das Set, soviel sei vorab verraten, wird das Highlight des Abends, denn schon mit dem ersten Stück zeigt das Duo, dass Electro-Beats durchaus auch tiefergehen können. Vor allem aber flasht mich Frontmann Peter Wangel, ein grandioser Sänger irgendwo zwischen Fink, Curts Mayfield und Bon Iver, der es spielend mit den dominanten Beats aufnehmen kann. Wer große, semi-soulige Male Vocals mag, für den sind Wangel eine Entdeckung! Und je weiter das Konzert fortschreitet, desto klarer wird, dass in den Wangel’schen Beats alle Regungen des Lebens enthalten sind, Erschütterung, Weltuntergang und ja, auch Party – allerdings eine jener Art, wo man mit geschlossenen Augen ganz dem schleppenden Takt hingegeben hin und her wankt und schwankt und es einem völlig gleich ist, ob man beobachtet wird, da es sowieso zu spät ist und die anderen ohnehin zu betrunken sind.
Apropos: Trunken machende Beats sind das, genau! Die zwirbeln sich empor, wabern umher und greifen nach einem, nur um sich dann wieder zu entziehen. Toll, das! Für die Massenhypnose sorgt aber in erster Linie der Zeremonienmeistergestus Peter Wangels, den er sich aus dem HipHop geborgt zu haben scheint, ohne im Entferntesten Rapper zu sein. Das Publikum jedenfalls liest ihm jeden Wunsch von den Augen ab, folgt seiner kleinsten Geste, springt, singt und tanzt, tanzt, tanzt. Klar, dass das letzte Budget des Abends in den Erwerb des Albums (auf Amazon anhören) fließt. Das stellt sich als probate Electropopplatte heraus, dessen Stücke wie „You Got To Say It Loud“ oder „Lockdown“ direkt zurück ins Konzerterlebnis versetzen. Schön auch: Vor den heimischen Boxen lässt sich die Narration, die durch das Album führt, angemessen würdigen. Dennoch wird die Platte der Live-Performance keinesfalls gerecht, kann sie Wangel doch nur zweidimensional abbilden, und diese Band muss man, nicht nur wegen dem dritten Mann am Schlagzeug, unbedingt dreidimensional sehen!
Nach einer weiteren Runde um die midsommarstång gehört die Midsommar-Bühne dem Hiphop. Zunächst dem experimentellen Isländer Thordur Ingi Jonsson alias Lord Pusswhip, der sich geschmeidig zwischen Old School Beats, Horrorfilmsoundtrack und rotziger Fuck-You-Punkrock-Attitüde bewegt, und bewegen kann man hier wörtlich nehmen, denn wo sein unbedingt empfehlenswertes, genial geisteskrankes Debütalbum Lord Pusswhip Is Wack (auf Amazon anhören) aus einem den Intellekt stimulierenden, hochdiffizilen Soundbaukasten schöpft, ist der Live-Auftritt ein einziges trunkenes Jumpen mit der Crowd, irgendwo zwischen Schlaf und Wach in jener Stadt, wo auch der Lord mittlerweile seine Zelte aufgeschlagen hat. Das ist schon sehr Berlin, das Ganze!
Das gilt auch für die als Gnučči firmierende Ana Rab, die ich eher als Performancekünstlerin denn Musikerin beschreiben würde, obwohl sie natürlich Musik macht, und zwar eine, die direkt den Clubs entsprungen zu sein scheint, was vor allem drei Dinge bedeutet: Bass, Bass und Bass. Manche mögen dies als den Pop einer neue Dekade bezeichnen, aber natürlich bleibt es Rap, relaxt einerseits, andererseits so eigenwillig und reich an tricky Texturen, dass es das Bild einer elektrifizierten Björk evoziert. Und wo ihr Debütalbum You good, I’m good, Let’s be great bis ins letzte Detail und ans Brav-Electropoppige grenzend durchproduziert ist, kommt Gnučči live derart roh, hyperenergetisch und boxensprengend daher, dass sich das Urban-Spree-Gelände in einen gigantischen Open-Air-Club verwandelt. Muss man mal gesehen haben!
Wer noch fit ist, kann die Nacht, die ihre Mitte schon weit überschritten hat, mit den DJ Sets von FluxFM-Resident Sascha Schlegel und seinen Stockholmer Kollegen Justlikesnow und Foxy Mulder ausklingen lassen. Nach zwölf Stunden Midsommar rief mich allerdings nur noch eines: Das heimische Bett, wo ich von rappenden Maibäumen und kubbspielenden Electropoppern träume, die in trauter Gemeinschaft Blumenkränze winden.