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Diese Ausgabe unserer Musik-Kolumne enthält acht neue Platten von folgenden Künstlern: Paul Simon | Martin Gallop & The Roots | Nils Wogram Root 70 & Strings | Mira Falk Quartet| Erika Stucky | René Marie | Julian Waterfall Pollack Trio | VA: Russendisko. Die Lieblingslieder der deutschen Taxifahrer
Erika Stucky | Black Widow
Hat sie uns gerade noch den vorigen Herbst mit einem eigenwilligen Live-Album versüßt, begibt sich die Grande Dame kunterbunter Musikwelten mit Black Widow auf die Spuren des kürzlich verstorbenen James Gandolfini aus der Mafia-Serie The Sopranos, da sie sich seit jeher von Schauspielern viel stärker inspiriert fühlt als von Musik. Die kommt als Inspirationsquelle auf Stuckys neuem Album aber auch nicht zu kurz, denn schließlich stand auch die Ästhetik von keinem geringeren als Tom Waits Pate für das sechste Soloalbum der US-Schweizerin. Die bezeichnet Waits nicht nur als eine Art „Taufpaten“, sondern borgt sich auch kurzerhand die Musiker seiner Rain Dogs aus, etwa den Arrangeur David Coulter oder den Musiker Terry Edwards.
Bei ihrem Cover dagegen hat sie an Morticia Adams von der Adams Family gedacht, die – und da sind wir wieder bei den Schauspielern – eine wichtige Figur für Stucky war. Nicht zuletzt fielen der Künstlerin, als sie mit neun Jahren ins Wallis kam, all die schwarz gekleideten Frauen auf – denn stirbt der Mann, muss dort die Frau für den Rest ihres Lebens schwarz tragen. Diese trauernden Waliserinnen, so Stucky, lösten etwas in ihr aus und inspirierten sie zu Black Widow. Entsprechend düster steigt sie auf „Black Betty“ mit einer unheimlichen Soundkulisse in das Album ein, flüstert, raunt, röchelt und kreischt, kurzum: legt das ganze Spektrum Stucky’scher Ausdruckskraft offen, während sich die Musik langsam zum formidablen Shake-that-thing-Blues entwickelt.
Auch ansonsten rumpelt-rockt sich Black Widow in die Gehörgänge, um zu später Stunde leicht angetrunken die Treppen ins Jazz-Souterrain herunterzustolpern, wo Terry Edwards‘ wildgewordene Saxophone, die auch bei PJ Harvey oder Nick Cave zu hören sind, röhren („Mob Mama“, „Me“, „Knees“). Dank Ausflügen in die – natürlich stuckysierte und damit schön schräge – große Sechsachtel-Ballade („Sorry Darling“), geriert sich Stucky als formidable Scat-Sängerin, um gleich darauf die gefährliche Jazz-Poetin („Sniff Me“) irgendwo zwischen Blaxploitation und alpinem Funk Noir zu geben. Heimatlich-volkstümliche Doo-Wop-Klänge begegnen uns auf „Spiderlegs“, eine fast sakrale Atmosphäre auf dem schlagwerklosen, bedeutungsschwangeren „Miles High“, während „Shanghaied“ mit seinen verzerrten E-Gitarren den Hendrix macht, der Stuckys aus dem verbalen Maschinengewehr abgefeuerten Stakkato-Salven Paroli bietet.
Ihr sounddefinierendes Akkordeon packt Erika Stucky diesmal nur auf zwei Songs aus; dafür hat ihre Band tief in die musikalische Requisitenkiste gegriffen: von der singenden Säge und dem präparierten Klavier über Ukulelen und Glockenspiel bis zu Violectra, Onmichord und Crotales genannte antike Zimbeln ist alles dabei, was Klänge jenseits des gewohnten Spektrums zu erzeugen vermag. Die pupsende Tuba auf „Sniff Me“, „Helter Skelter“ – ja, das ist ein Beatles-Cover, noch dazu ein geniales – und „Shanghaied“ sowie das kaum vernehmbare Cello auf „Knees“ und „Easy“ gehören dagegen fast schon zur Grundausstattung. Durchwoben ist all das trotz des ungewöhnlich düsteren Ansatzes mit dem typischen Stucky’schen Humor – und immer wieder stößt der Hörer auf Filmzitate. Da werden zum Beispiel auf „I’m Good“ die Streets of Philadelphia beschworen. Unglaublich cool kommt „Watching Over Me“ mit Elvis-Costello-Keyboarder Stevie Nievie daher, welches das sich ansonsten so wild und gefährlich gebärdende Black Widow fast versöhnlich ausklingen lässt.
René Marie | I Wanna Be Evil (With Love To Eartha Kitt)
Wie es klingt, wenn jemand, der nie ein Tribute-Album aufnehmen wollte, dann doch eins macht, kann man auf I Wann Be Evil nachhören, das eher nach einer Platte mit René-Marie-Originalen als nach einer mit Interpretationen klingt. Kein Wunder, dass die 1955 geborenen US-amerikanische Chanteuse als eine der besseren Jazz-Sängerinnen gilt, deren Interpretationen zwar schnörkellos, aber dennoch extrem eigen sind. Auf ihrem mittlerweile achten Album setzt sie noch einen drauf und mit irrem Gelächter auf dem ansonsten durch seine starken Bläser bestechenden „They Say That I’m A Witch“ gleich den richtigen Auftakt. Wer danach immer noch glauben möchte, dass die Platte der perfekte Soundtrack für den Sonntagsbrunch – angenehm, aber nicht weiter auffällig – ist, wird spätestens mit dem lasziven „Oh, John“ eines Besseren belehrt, denn René Marie setzt mit ihrer Liebeserklärung an die „aufregendste Frau der Welt“ konsequent die schwüle Tonalität ihres Motéma-Debüts von 2011 fort.
Da wäre etwa das laszive „Oh, John“, ab dem das Album den Hörer gefangen nimmt, oder der im sexy Latin-Gewand daherkommende Cole-Porter-Klassiker „My Heart Belongs To Daddy“. Oder der ritzonputtende Titeltrack, bei dem die sechsköpfige Begleitkombo fast zu vollem Bigband-Klang erblüht. Klar, es gibt sie auch hier, die fröhlich swingenden Unterhaltungsnummern. Doch auch diese bestechen durch ihre behutsamen und vor allem eigenwilligen Arrangements, die den Solisten des Orchesters mindestens so viel Platz wie der Vokalistin einräumen. Diese überrascht dann noch mit einem derart zärtlich-sinnlichen „Santa Baby“, das nur zu sagen bleibt: Wennschon Jazz unterm Tannenbaum, dann solchen! Maries zwischen schwarzer Spitze und Satinnegligé mäandernde Eigenkomposition „Weekend“ rundet ihre lustvolle Hommage kongenial ab und lässt den Hörer mit der Sicherheit zurück, dass I Wann Be Evil mehr hält, als es verspricht.
Es gibt – einige wenige – Musik, die ist einfach nur schön. Die Waves of Albion gehören definitiv dazu. Auf seinem zweiten Album beschwört der erst fünfundzwanzigjährige Pianist und Komponist Pollack den Geist des kleinen Städtchens an der Kalifornischen Pazifikküste herauf, in welchem er aufgewachsen ist.
Traumverloren startet er, gemeinsam mit Bassist Noah Garabedian und Schlagzeuger Evan Hughes, in dieses sehr soundtrackeske, lyrische Album, denn trotz aller technischen Brillanz hat Pollack es nicht nötig, diese offensiv zur Schau zu stellen. Vielmehr fühlt er sich von der Popmusik inspiriert, die es vermag, mit einfachsten Mitteln eine enorme Wirkung zu zeitigen. Natürlich ist Pollack auf der anderen Seite aber auch komplexen Harmonien nicht abgeneigt – und die sind es, die verhindern, dass seine Musik langweilig wird, wie es Klängen, die „nur“ schön sind, ja schnell mal beschieden ist. Ja, ich gebe zu: Das, was das Julian Waterfall Pollack Trio da mit seinen Waves of Albion veranstaltet, ist Jazz, wie ich ihn mag. Die sich langsam, aber stetig entfaltenden Stücke, die zum Schluss voll aufdrehen und vor Kreativität nur so sprühen, sind schlicht mitreißend – und am allermitreißendsten ist gleich der sogstarke Opener „Fume“, welcher trotz seines Flüsterbeats zeigt, dass das Trio mehr drauf hat als plätschern, schmeicheln und wispern.
Im schlafwandlerischen Zusammenspiel verliert Pollack nie das Gespür für traumschöne Melodien aus dem Auge, lässt aber auch seinen Mitstreitern genügend Raum wie beispielsweise dem Bass auf „Fresno Interlude“. Und daran, dass sein Schlagzeuger seine fein ziselierte Rhythmusarbeit eher dem Indie-Rock-Kosmos als dem Jazz entliehen zu haben scheint, stößt sich Pollack schon mal gar nicht. Munter bürstet man „What Sarah Said“, einen Song der Indie-Rocker Death Cab for Cutie, gegen den Strich. Doch egal, wie frisch und inspiriert die Ideen hier sind, immer schwingt – Nomen est Omen – als meditatives Element der Wasserfall ebenso mit wie die Wellen. Und mit einem Mal guckt eine allzu vertraute Melodie um die Ecke. Das dann doch sehr stark mit US-Pathos verbundene Amazing Grace zu interpretieren erfordert Mut. Das kitschfrei über die Bühne zu bringen, Kunstfertigkeit. Dem Trio gelingt dies ebenso mühelos wie es auch das zweite Traditional „Shenandoah“ in den Fluss des Albums integriert.
Die große Stärke der Waves aber sind Downtempo-Stücke wie „Sad Song“ oder „I Don’t Believe In Love Anymore“, angesichts derer der Hörer plötzlich weiß, was Pollack meint, wenn er zu Protokoll gibt, dass Musik für ihn in erster Linie eine Aufgabe habe – nämlich den Transport von Emotionen. Pollacks Musik verwandelt die Atmosphäre, macht aus der Neubauwohnung eine Belle Etage mit Blick auf den regennassen Schlosspark, zaubert aus der Ikea-Einrichtung rotsamtene Kanapees und schwere Brokatvorhänge. Bei nur acht Stücken und einer Gesamtspielzeit von 44:41 bleibt da nur noch der beständige Druck auf den Repeat-Knopf.
Various Artists | Russendisko. Die Lieblingslieder der deutschen Taxifahrer
Als Autor des Romans „Russendisko“ schrieb sich Wladimir Kaminer im Jahr 2000 in die Herzen des hiesigen Publikums und gilt mithin als der Deutschen „Lieblingsrusse“. Seitdem hat er nicht nur 19 (!) weitere Romane verfasst, sondern ist vor allem auch durch seine gemeinsam mit Yuriy Gurzhy im Kaffee Burger veranstaltete Discothekenreihe Russendisko, bei der er moderne, (nicht nur) russische Popmusik mit folkloristischen Elementen abspielt, zur Kultfigur geworden.
Deutsch sei für den Wahl-Berliner eine schlichte Notwendigkeit gewesen, als er 1990 nach Deutschland kam, ein Kommunikationsmittel, um sich seiner Umgebung verständlich zu machen, wie er im Interview erzählt. Das verbindet Kaminer mit den Taxifahrern, die ihm als Metapher für Menschen, die von weit her kommen, sich aber trotzdem beziehunsgweise gerade deshalb besser auskennen (müssen), dienen. Wie die gemeinen Berliner Taxifahrer eint auch die Künstler auf der neuen Russendisko-Compilation der Wunsch, sich auf Deutsch auszudrücken. Manche wollen einfach in der Sprache ihrer (neuen) Heimat singen. Für manche, wie den Finnen M.A. Numminen, ist Deutsch die Sprache des Kommunismus und der sozialen Gerechtigkeit – schließlich habe ja Karl Marx sein Kapital auf Deutsch abgefasst! –, während es andere schlicht in der Schule lernen mussten. „Bei uns in der Sowjetunion“, erinnert sich Kaminer, „wollte eigentlich niemand Deutsch lernen. In der Schule standen zwei Sprachen zur Auswahl: Englisch und Deutsch – und alle wollten Englisch. Aber irgendjemand musste auch Deutsch lernen, klar, es war ja Planwirtschaft! Deswegen hat man die Rebellen, Hooligans und die schlechten Schüler zum Deutschunterricht verdonnert!“
So zahlreich die Gründe für die ausländischen Künstler sind, auf Deutsch zu singen, so vielfältig sind sie wohl auch für die deutschen Künstler, die es sich nicht nehmen lassen, sich auf den Lieblingsliedern im musikalischen Idiom der fremden Taxifahrer, jenseits von auf eins und drei betontem Viervierteltakt und Heimatgeschunkel, zu artikulieren. So findet sich unter den sechzehn Lieblingsliedern neben Seltenem, Unveröffentlichtem und zwei exklusiven Remixen auch Bekanntes. Zum Beispiel Gurzhys „Emigrantski Raggamuffin“ spielende Hausband Rotfront, treuen fairaudio-Lesern zuletzt während der Electro Swing Revolution begegnet. Oder unsere oriental-swing-punkigen Vorjahreslieblinge Budzillus. Oder die Berliner Kapelle Polkageist, deren Selbstbeschreibung „alles was einen Offbeat hat und ordentlich humppahumppahumppa macht“ für die Lieblingslieder der deutschen Taxifahrer Pate gestanden haben könnte. Auch die Selbstbeschreibung der auf den Lieblingsliedern gleichfalls vertretenen Neu-Düsseldorfer Exilanten-Kombo Trova?i – „Balkan Ska Reggae Punk“ – mag zwar Genrepuristen das Fürchten lehren, gibt aber so ziemlich genau wieder, was den Hörer auf den Lieblingsliedern erwartet.
Eines der Highlights der Scheibe ist die Berliner Band Yukazu, die mit ihrem bestechenden Mix aus französischem Chanson und Gipsy/Balkan Grooves seit einiger Zeit die Hauptstadt unsicher macht. Ohnehin habe ich seit Grine Kuzine keine deutsche Balkan-Band mehr mit weiblichem Vokalisten gehört. Toll ist auch D’r Weet mit seinem flink geklöppeltem Hackbrett und Bouzouki-durchwehten Mazurka, während die „Berliner Cumbia Götter“ La Mula Santa mit „Ich liebe Dich“ überraschend karibische Töne anschlagen. Kaminer selbst greift erstmals selbst rappenderweise zum Mikrophon – und zwar auf dem Stück „Radost“ von Russkaja, einer Polka-Kombo aus Wien, die ihren Sound als „exact opposite of Easy Listening music“ definiert – auch das wieder eine Beschreibung, die auf das ganze Album zutrifft.
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Plattenkritik: Paul Simon | Martin Gallop | Nils Wogram Root 70 & Strings | Mira Falk Quartet| Erika Stucky | René Marie | Julian Waterfall Pollack Trio | VA: Russendisko