September 2012 / Victoriah Szirmai
Stellen Sie sich vor, die Berlin Music Week – oder eine andere, mehrtägige Großveranstaltung, die zu Ihren beruflichen Pflichtterminen gehört – hätte Sie verschluckt und erst gestern wieder ausgespuckt. Und so fühlen Sie sich auch: irgendwie ausgespuckt.
Sie haben definitiv zu viele Menschen getroffen, die Tage waren stressig, die Nächte lang. Jetzt brauchen Sie dringend etwas Ruhiges im Soundtrack Ihres Lebens, eine kleine Portion musikalischen Seelenbalsam, wollen dabei aber weder verdummen noch in volkstümlicher Terzseligkeit (oder ihrem modernen Äquivalent: pseudo-trancigen „Dream-Dance“-Sound) baden. Wenn Ihnen in diesem Zustand Dogs In Spirit in die Hände fällt, das Debütalbum der 27-jährigen Baslerin Anna Aaron, ist das ein Glücksfall im Wortsinne.
Dogs In Spirit unterscheidet sich recht deutlich von den Platten, die hier in letzter Zeit vorgestellt wurden: Kein Quäntchen Soul wärmt einen, keine ätherische Singer-Songwriter-Wolke hüllt einen wohlig ein, es blubbern keine Elektronika und rocken im herkömmlichen Sinne tun die Hunde im Geiste auch nicht. Vielmehr sind sie nicht nur vielschichtiger – Aaron, die ihre Kindheit in England, Asien und Neuseeland verbrachte, scheut sich nicht, all diese Einflüsse in ihre Musik mit einzubringen –, sondern auch sperriger, was paradoxerweise jedoch nicht bedeutet, dass sie schwer zugänglich sind.
Beim ersten Hören erinnert mich das Album leicht an die halb-sakralen, halb-archaischen Frauenchöre von Vesselina Kasarovas „Bulgarian Soul“ – es ist auf eine ungewohnte, fast vergessene Weise spirituell. Ein bisschen Loreena McKennit vielleicht, wenn diese sich überlieferten Mythen mittels modaler Tonarten annimmt. Oder Kate Bush, kann man die Dogs In Spirit doch durchaus als Referenz an deren Hounds of Love verstehen. Andere Rezensenten wollen Einflüsse von Tori Amos über P.J. Harvey bis hin zu Sophie Hunger – kurz: ebenso eigenwilliger wie eigenständiger Künstlerinnen – ausgemacht haben, wobei letztgenannter Vergleich auch der Tatsache geschuldet sein dürfte, dass sich Aaron und Hunger mit Marcello Giuliani den Produzenten teilen.
Faktisch haben wir es hier aber nicht mit einem sphärischen Vokalwerk zu tun – obgleich der Opener „Elijah’s Chant“ mit seinen Chören in diese Richtung weist –, vielmehr rockt das Album auf eine rumpelige Let’s Go To San Francisco-Weise, die man am ehesten als Folk-Rock beschreiben kann, vor sich hin. Allerdings dürfte Dogs In Spirit für die sanfranziskanischen Heilssucher eine gute Nummer zu bedrückend sein. Schließlich geht es hier nicht um die flowers in your hair, sondern um das Ausloten seelischer Untiefen, das auch den Rückgriff auf die großen Mythen und Legenden der Menschheit nicht scheut.
So wie der Prophet Elias von atemerschwerend verzerrten Gitarren flankiert zwischen eindringlich-düsterem Sprechgesang und himmlischen Chorälen in seinem Feuerwagen gen Himmel fährt, schwingen auch die übrigen Tracks des Albums irgendwo zwischen Hoffnung und Höllenritt, begleitet von süßen, doch trügerischen Träumereien und auch der einen oder anderen milden Obsession.
Man trifft hier ebenso auf Seeungeheuer („Sea Monsters“) wie König David („Where Are You David“), auf Sirenen („Siren“) und den König der Hunde („King of Dogs“), sieht die Königin des Klanges („Queen of Sound“) einträchtig neben der Heiligen Johanna („Joanna“) sitzen, um über den Passionsweg („The Passion“) bald darauf in des Teufels Küche („In The Devil’s Camp“) zu landen, weil man das Feuer über dem verbotenen Berg („Fire Over The Forbidden Mountain“) erblickt hat. Bibel- und mythenfest sollte man schon sein, will man sich in der Symbolwelt der Anna Aaron zurechtfinden. Immerhin scheinen die Geschichten, die sie erzählt, der Schlüssel zu ihrer Musik zu sein, auch wenn die eine oder andere zu überambitioniert klangmalerisch umgesetzt wurde. Klar, die See peitscht. Also peitscht auch das Piano.
Und so mag man sich auf Track zwei mit den klavierdominierten, überraschend gefällig daherkommenden „Sea Monsters“ noch schwertun, auf dem sich die Stimme Aarons mit dem treibenden Piano ein regelrechtes Duell liefert, während man spätestens bei Track zwölf, „Fire Over The Forbidden Mountain“, ob des extrem massiven Düsterpianos einfach nur von den Socken ist. Das hier ist schon fast Soap&Skin-verdächtig, nur ohne deren Ich-bin-psychisch-gestört-Koketterie. Im Gegenteil: Das grandiose „Fire Over The Forbidden Mountain“ ist ein Song, an dem man zu gesunden vermag – ein Effekt, der durch den Abschluss- (oder für Kundera-Leser: Abschieds-)Walzer „A Sun Shines On Aimée“ verstärkt wird. Obgleich der Walzer ja die Form ist, in der sich Wahn jeglicher Provenienz – da durch die oberflächliche Lieblichkeit das untergründige Brodeln umso stärker betont wird – am besten gießen lässt, endet Dogs In Spirit mit einem versöhnlichen, fast schon erbaulichen Ausklang.
Dazwischen allerdings muss der Hörer einiges mitmachen, denn auf den ersten Höreindruck schmeichelt sich nur der dritte Track ins Ohr, das gewaltige „Where Are You David“ mit seinen We Will Rock You-Handclaps; außerdem gefällt die pianoabgedunkelte Ballade „Joanna“ und das zum Mitmachen herausfordernde, vom Stuhl reißende, mit 1:47 definitiv zu kurze „Since I Met You My Peace Is Gone“ auf Anhieb. Wo sind die Tamburine? Gebt mir auch eins!
Stücke wie „The Drainout“ wiederum, bei denen sich Aarons Stimme – über einem an den Nerven zerrenden Bordunton, der sich schon im Opener daran versucht, ein Loch in die Hörernerven zu bohren – beinahe an der Grenze zur Besessenheit an die Trompetentöne schmiegt, sind harte Kost und wären eine Fundgrube für jeden Analytiker.
Soap&Skin ist auch hier – ebenso wie in „In The Devil’s Camp“ – näher, als man sich manchmal wünschen möchte. Gut, dass man sich zwischendurch mit dem kirchentonähnlichen „The Passion“, einem nur eine Minute und neunzehn Sekunden dauernden A-capella-Chorsatz, erholen, ja: erheben kann. Das ist auch nötig, denn mit „King Of The Dogs“ gibt es wieder ein ordentlich zerrendes wie zehrendes Stück Indie-Rock auf die Ohren.
A-capella-Chor, Indierock, Pianoballade – wer bis hierher gelesen hat, kann sich des Eindrucks einer fast eklektizistisch zu nennenden musikalischen Vielfalt nicht erwehren; doch genau diese niemals bis ins letzte Detail zu entschlüsselnde Mannigfaltigkeit macht die auch auf Vinyl erhältlichen Dogs In Spirit so wiederholt hörenswert – man wird ihrer einfach nicht überdrüssig. Von „reinrassiger Fülle“ spricht vollmundig die Pressemitteilung, und so skeptisch ich dieser Ankündigung anfänglich gegenüberstand, so genau weiß ich jetzt, was sie meint, und, vor allem, und das ist selten geworden: dass sie Recht hat.