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Zwei Live-Platten für die Ewigkeit: Fates Warning und Marillion begeistern mit erstklassigen Konzertmitschnitten, in denen die vielschichtigen Songs eine Extraschippe Lebendigkeit und Druck erhalten.

Fates Warning – Live Over Europe

Fates Warning - Live Over Europe

Ray Alder, für einige zu den besten Sängern im Bereich Prog Metal gehörend, hat offenbar auf das richtige Pferd gesetzt. Viele Jahre lang veredelte er mit seiner für Metalsänger außergewöhnlichen vokalen Farbigkeit sowohl die Platten von Fates Warning als auch von Redemption. Nun aber hat er seine Kräfte gebündelt und sich ganz der über Jahrzehnte qualitativ beständigsten wie musikalisch innovativsten Band im Bereich des Progressive Metal zugewandt: Fates Warning. Dass das eine goldrichtige Entscheidung war, untermauert der bei Inside Out Music erschienene Live-Doppeldecker Live Over Europe, eine der besten jemals produzierten Live-Aufnahmen. Die Doppel-CD ist ein Brett, ein wunderschön gemastertes, kontrastreiches noch dazu.

Die US-amerikanische Band Fates Warning gehört zusammen mit Queensrÿche und Dream Theater zum Gründungsdreigestirn des melodischen Prog Metal, hält aber entgegen den ins Musicalhaft-Seichte abgestiegenen und sich immer mehr in der blutleeren Kühle technischer Irrwitzigkeit verlierenden Dream Theater als Lordsiegelbewahrer des Genres die Fahnen weiter hoch – zuletzt mit zwei herausragenden Studioplatten. Fates Warning wartet unter prägender Führung von Jim Matheos (Gitarre) und Ray Alder seit mittlerweile mehreren Jahrzehnten mit vertrackten, abwechslungsreichen Songstrukturen, kniffligen Riffs und komplexen Arrangements auf und umgeht dabei sämtliche Progmetal-Klischees. Da gibt es mal zwei oder sogar mehr chorustaugliche Hymnen, andere Songs bauen bis zur Hälfte in langsamem Tempo Spannung auf, und erst dann geht es mit Karacho in die Vollen (Eingangsstück „From the Rooftops“). Zu finden sind darüber hinaus keltisch angehauchte Modalharmonik (Longtrack „And Yet It Moves“) mit Akustikgitarren im Duett plus Bassunterstützung, und selbst die Balladen geraten nicht in die Seichtgebiete üblicher Rockballaden, sondern finden einen eigenen Tonfall mit ambitionierten Songverläufen.

Fates Warning Live Over Europe 3

Nun legt das um den hochengagierten Tourgitarristen Mike Abdow verstärkte Quartett einen megastarken Mitschnitt von Konzerten aus acht verschiedenen Venues zwischen Aschaffenburg und Athen vor. Die von Jens Bogren äußerst druckvolle, zugleich aber durchsichtige und räumlich klare Produktion enthält insgesamt 23 Songs von allen neun Alben (aus insgesamt 23 Jahren!), in denen Ray Alder als Sänger von Fates Warning fungiert. Die Setlist ist bestens gelungen und bietet so etwas wie ein Best-of der Alder-Jahre mit zahlreichen Krachern. Auch von den jüngeren Alben sind Songs vertreten. Das ist charakteristisch: Während andere Bands von den glorreichen Songs der Vergangenheit zehren, hat Fates Warning genug erstklassiges, bühnentaugliches aktuelles Material – das zeigt die begeisterte Reaktion der Fans. Stichwort Publikum: Die zu recht enthusiastischen Fans kennen die Texte und brauchen beim spontanen Call-and-Response keine Aufwärmphase; sofort sind sie voll und stimmstark dabei, sowohl bei neueren Songs wie bei Live-Hits wie „Seven Stars“, „One“ oder „Eleventh Hour“.

Fates Warning Live Over Europe 2

Live bekommt die spieltechnische Klasse der Musiker von Fates Warning noch einen Extrakick Energie. Alle Elemente greifen auf der Bühne lückenlos ineinander, das rhythmisch avancierte Zusammenspiel von Mike Abdow mit dem technisch blitzsauberen und hochenergischen Stoiker Jim Matheos in den synkopierten Staccato-Riffs und abgefahrenen Licks ist schlichtweg atemberaubend. Allein Jim Matheos: Er untermauert seine Stellung als einer der besten Gitarristen des Metalgenres. Seine erfindungsreichen, technisch hochklassigen und für jeden Song charakteristischen Soli abseits aller abgedroschenen modellhaften Flitzefingerspielchen kommen nicht notwendigerweise in jedem Song vor, weil es das Schema vorsieht, sondern sind eingebunden in die jeweilige Dramaturgie. Bobby Jarzombek erweist sich als druckvoller Drummer, der allerdings genug ausgelassene Spielfreude, reizvolle Ideen und abgezockte Sattelfestigkeit miteinbringt, um etwa kurze Interludes mit synkopierten Backbeats mit Spiellust aufzumöbeln. Über den genialen Bassisten Joey Vera brauchen keine überflüssigen Worte verschwendet werden, er zockt seinen Part, der anderen Knoten in den Fingern verursachen würde, locker, aber mit voller Power, ab. Es gibt wenige Bassisten, die so wendig sind, um binnen zwei, drei Noten ihre Funktion von rhythmischer Unterstützung zu melodischem Kontrapunkt und zurück umdefinieren können.

Und dann ist da Ray Alder, einer der fähigsten, weil vielseitigsten Metal-Shouter. Er wirkt durchgängig authentisch, ob er nun mit tragfähiger Mittellage balladeske Töne anschlägt oder absolut kraft- und druckvoll und hell in der Höhe seine Hooklines zum Glänzen bringt. Eigentlich wartet man bei all den krachenden Riffs, vertrackten Rhythmen, metrischen Wechseln und sonstigen zum genauen Hinhören anregenden Stolpersteinen doch nur auf die nächste strahlkräftige Hymne von Alder, mit der er das Publikum gefangen nimmt. Was für eine Platte!

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Marillion – All One Night (Live at Royal Albert Hall)

Marillion All One Tonight

An Live-Alben herrscht bei den Neoproggern Marillion beileibe kein Mangel. Aus allen Phasen der knapp vier Jahrzehnte währenden Bandgeschichte gibt es Konzertmitschnitte, anhand derer sich nacherleben lässt, dass die im Studio sorgsam ausgetüftelten sphärischen Klangschichtungen von Marillion live keineswegs an Wirkung verlieren, im Gegenteil: Die versierten Musiker scheinen erst vor Publikum richtig aufzublühen, wenn sie ihre technische Finesse zur maximalen Verdichtung von Stimmungen einsetzen können. Mit dem Doppel-Album All One Night (Live at Royal Albert Hall) legt Marillion nun einen Mitschnitt vor, der in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich ist. Dokumentiert ist hier ein ganz besonderer Abend: der erste Auftritt der Band in der altehrwürdigen Royal Albert Hall in London, der im Oktober 2017 stattfand. Das seinerzeit binnen Minuten ausverkaufte Konzert in den heiligen Hallen der Musik schuf für Band wie Publikum eine Ausnahmesituation – und genau diese knisternde Spannung der gesamten Performance transportiert auch der Mitschnitt in jeder Sekunde.

Marillion All One Tonight 1

(c) Anne Marie Forker

Die 64. Veröffentlichung beim bandeigenen Label Racket Records ist ein opulentes Geschenk an die dabei gewesenen Zuschauer und alle, die damals nicht das Glück hatten, in der Royal Albert Hall zu sein. Auf DVD oder Bluray gibt es zusätzlich zur fast zu perfekten klanglichen Abmischung noch die aufwendige, technisch erstklassige State-of-the-art-Show in der Regie von Tim Sidwell zu sehen. Gegenstand dieser Rezension ist allerdings die Doppel-CD, die ebenfalls keine Wünsche offen lässt. Der erste Tonträger beinhaltet die komplette Live-Aufführung des jüngsten Albums „F.E.A.R. (Fuck Everybody and Run)“, das vielen als einer der Höhepunkte in der reichen Diskographie von Marillion gilt, zumindest in der Ära mit dem Sänger Steve Hogarth. Unterstützt von der Streichquartett-Formation In Praise of Folly, der Flötistin Emma Halnan und dem Hornisten Sam Morris bietet die Band im zweiten Konzertteil bzw. auf CD 2 einen Querschnitt bekannter und beliebter Songs, die im kammermusikalischen Gewand neue Facetten entfalten. Im Vergleich zu anderen Live-Aufnahmen ist das eine willkommene Erweiterung und Ergänzung.

Marillion All One Tonight 3

(c) Anne Marie Forker

Die melancholische Innigkeit von „F.E.A.R.“, angelegt als anklagendes Protestalbum, bekommt live deutlich mehr Punch. Das liegt auch am Mix, in dem die luftigen Bassmelodien von Pete Trewavas sowie das verspielte Drumming von Ian Mosley mehr Druck und Präsenz im Klangbild bekommen. Angefangen beim pastoralen Heckenrosenidyll von „El Dorado“ entwickelt sich „The Leavers“ immer dringlicher und gipfelt in den anklagenden Tönen von „The New Kings“. Die Songs steigern sich über Minuten hinweg zu ausdrucksstarken Höhenzügen und vor Spannung zitternden Gipfeln, die von den vielfältigen Klangfarben, dem dichten Arrangement und der Intensität der melodischen Linien von Steve Hogarth leben. Musikalisch ist das live absolut perfekt umgesetzt – man merkt die Erfahrung und Beschlagenheit der Profis –, dabei entwickeln die Songs eine ungemein tiefe emotionale Kraft. Hogarth geht ausdrucksvoll in die Extreme („Living in F E A R“), nimmt seine filigran wirkende Stimme fast tonlos ins ängstlich Brüchige zurück und riskiert damit das schluchzende Wegbrechen der Stimme, im Forte kann er sie aber auch in ein sich überschlagendes Jauchzen oder nahezu zum Schrei steigern. Diese weit auseinanderliegenden Ausdruckspole und der gesamte Bereich dazwischen machen die emotionale Intensität dieses ergreifenden Abends und des grandiosen Mitschnitts aus.

Marillion All One Tonight 2

(c) Anne Marie Forker

Eingekleidet in kammermusikalische Gewänder geht es mit noch gesteigerter Emotionalität im zweiten Teil mit Großtaten wie „Afraid of Sunlight“, „Easter“, „Go!“ oder „Neverland“ weiter. Und wenn wahrscheinlich jeder Marillion-Jünger von einem der Lieblingsstücke eine präferierte Live-Version nennen kann – die besondere Atmosphäre des Abends und die schiere Intensität des Zusammenspiels lässt die Songs hier nochmals einen Kopf über bislang Geleistetes hinauswachsen.

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