Juni 2015 / Victoriah Szirmai
Erst hatten wir die Ungarn. Dann den Tango. Was liegt da nun näher als die Finnen? Schließlich teilen sie nicht nur die finnougrische Sprachverwandtschaft mit den Magyaren, sondern betrachten auch den Tango, folgt man Regisseur Aki Kaurismäki, als ihre Nationalmusik. Davon gibt es auch bei Antti Paalanen einiges zu hören, obgleich Meluta keine ausgemachte Tango-Platte ist. Im Gegenteil: Sein diatonisches Akkordeon lässt der umtriebige Finne nur selten im Tangotakt heulen, wollen doch von Techno bis Blues auch alle übrigen Inspirationsquellen ausgeschöpft werden. Und die liegen in erster Linie im Rock. „Meine Lieblingsband ist AC/DC“, sagt Paalanen. „Wenn ich spiele, versuche ich, dieselbe Energie heraufzubeschwören, wie sie Rockbands eigen ist“.
Beim titelgebenden Opener „Meluta (We Wanna Make Some Noise)“ treffen die Akkordeonklänge Paalanens aber erst einmal auf einen Deep-House-artigen Beat, was sehr ungewohnt ist, jedoch nicht einer speziellen Form von Schönheit entbehrt. Das angezerrte, tiefergelegte Vocalsample erinnert wiederum an jene maskierten Finnen, die vor einigen Jahren den ESC gewonnen haben – Wie hießen sie doch gleich? Genau, Lordi! – und verleiht dem Ganzen eine gute Portion Glamrockappeal. Obendrein hat sich noch ein munterer Polka-Takt dazugeschlichen, dabei sind wir immer noch im ersten Stück! Auf „Yeah Mama“ atmet das Akkordeon die große Weite – und sicherlich auch das Klischee – der nordischen Wälder. Einordnen indessen lässt sich auch dieses schlagwerkstarke Stück nicht. Tribal? Ethno Rock? Egal, denn es macht Spaß, wenngleich die geröhrte Titelzeile für so manche Irritation sorgt. Wie ein Tangoremix vom Bajafondo Tango Club lässt sich „Kraftsman“ an, womit es die beiden für das Album zentralen Elemente vereint: Filigrane Tastenkunst und urgewaltiger Beat, der in einer Live-Show, gar im Club, sicherlich so manches Mal besser aufgehoben wäre als auf Platte. Damit zu Hause keine Eintönigkeit aufkommt, weiß Paalanen das Unks-Unks jedoch immer dann gekonnt mit zauberhaften Klangflächen und Melodiebögen zu brechen, wenn sie am meisten benötigt werden. Stückinterne Dramaturgie: eins plus!
Nichtsdestotrotz tut auch eine Ballade wie „Fingertips“ mal gut, wobei Ballade, wie alle Beschreibungsversuche von Paalanens Musik, lediglich ein Hilfskonstrukt ist. Was er hier tut, gleicht eher einem Gebet, es ist etwas Sakrales um das Stück, etwas, das einen klein fühlen lässt, demütig, und dann doch erhebt. Doch gerade, wenn sich der Hörer diesen hehren Gefühlen so ganz hingeben will, setzt es einen Gongschlag, und Paalanen stimmt einen schauderlichen Wikingergesang an, der allein für sich zum Kapern gegnerischer Boote angetan wäre. Paalanen brummt, knurrt und heult, dass man nicht weiß, ob man jetzt darüber lachen darf oder nicht doch gerade Ohrenzeuge einer zumindest halbwegs heiligen, schamanistischen Handlung wird. Auf „Acc Rider“ verlegt sich Paalanen gar auf ein rhythmusgebendes Hecheln – und dann ist da auch wieder dieser hochgradig hypnotische Rhythmus, den ihm jeder Voodoo-Zeremonienmeister neiden würde.
Fiddle-Folk aus dem Akkordeon gibt’s auf „Angus“, und falls ich bislang vor lauter Staunen die Spieltechniken Paalanens zu würdigen vergaß, jetzt wäre der Zeitpunkt gekommen, denn kein Schlagwerk lenkt hier ab! Mit „Reflections“ kredenzt der Musiker, der seinen Beinamen „crazy accordeon experimentalist“ nicht nur mit Stolz, sondern vor allem auch zu Recht trägt, eine diesmal völlig ungebrochene, klassik- beziehungsweise filmmusiknahe Ballade, die angesichts der vorher gehörten Stücke fast schon langweilig ist. Fast! Die plötzlich aufscheinende, urgewaltige Trias aus Kirchenglocken, Bach’schen Orgelakkorden und wüstem Kriegsgeschrei bereitet in keiner Weise darauf vor, dass mit „The Final Waltz“ ein fast schon beschaulicher Walzer irgendwo zwischen Tom Waits, den Tiger Lillies und der wunderbaren Welt der Amélie folgen soll, doch auch hier bricht sich das Wilde bald schon seine Bahn. Was für ein Abgesang! Da ist man geneigt, das eigentliche Schlussstück „Ruff“ nur noch als nette Dreingabe zu betrachten – allerdings eine, die beweist, dass auch ein Mann mit Akkordeon und Knurrlauten eine Nacht lang die Technoschuppen dieser Welt zum Kochen bringen könnte. Es klingt, als träfe das Berghain auf Schlafes Bruder – und damit völlig anders als alles, was ich bisher gehört habe. Groß!
Mit nur zehn Tracks ist Electric Willow genau wie Meluta erst einmal erfreulich übersichtlich aufgebaut, obwohl es schon die ersten Sekunden in sich haben: Es britzelt, plingt und avantgardiert, dass es eine Lust ist! Blubbernde Bässe, abgedrehte Effekte und das eine oder andere erinnerungsträchtige Riff komplettieren ein Klangkonglomerat, für das Kraftwerk und das Sun Ra Arkestra Pate gestanden haben. Ich hatte mir fest vorgenommen, diesen Satz zu vermeiden, doch leicht machen sie es einem nicht, und darum: Die spinnen, die Finnen! Besonders, wenn sie in Gestalt von Sänger, Saxophonist und Skurill-Synthie-Tüftler Jimi Tenor, Querdenker-Gitarrist Kalle Kalima, der auch schon mal einen elektrischen Milchaufschäumer an seine mit Vorliebe abgedämpften Saiten lässt, und Jazzrock-Schlagzeuger Joonas Riippa als Tenors of Kalma, frei übersetzt: Todestenöre, daherkommen.
Nach dem ersten Schock folgt mit dem ebenso hochmelodischen wie düster wabernden „Blind“ das erste Stück des Albums, das sich als „Song“ bezeichnen lässt und nur wenige Sequenzersperenzchen zeigt, die ansonsten bestimmend für Electric Willow sind. Die in den Liner Notes herbeifantasierten „Feuchtgebiete des (sic) Finsternis“ treffen es, müsste man die Musik der drei Tenöre in ein handliches Bonmot verpacken. Es orgelt, schwurbelt, hackt und biept („Go-Go-Go“), dann wieder dominiert mal afrikanische Soundkulisse („100 Ufoa Suomesta“), mal bratzender Synthiefunkrock mit abgedrehter Orgeleinlage und einem Schuss Hard-Bop („Ininää“), mal Atmosphärisch-Geräuschiges vom anderen Stern („Miettelis“). Schön, wenn Jimi Tenor auf „Gilgames“ seinen Namenspatron, das Tenorsaxophon, hervorholt und zeigt, was er meint, wenn er sagt: „Vermutlich sind alle Tenorsaxophonisten zumindest insgeheim von Coltrane inspiriert“. Auf „The Missing Page 1964“ packt er nicht nur seine Querflöte aus, sondern schenkt dem Album den zweiten Song. Genauer: Einen Song über einen Mann, der in einer Bibliothek nach einer bestimmten Seite sucht – dies jedoch in einem unbestimmten Buch. Wie mein All-Time-Jimi-Tenor-Favorit „Better Than Ever” besticht der Refrain mit Chören, die ihresgleichen suchen. Toll!
Mit „Sakura“ entführen die Tenors of Kalma ins alte Japan, wobei ihre Interpretation dieses Traditionals schon sehr frei – und vor allem: sehr elektrisch – anmutet, um mit dem auf einem Gedicht von Pharao Echnaton basierenden „The Hymn To The Sun God“ nachgerade zahm zum Abschluss eines Albums zu kommen, das man selbst hören muss, um es zu glauben.