Januar 2011 / Victoriah Szirmai
Es gibt nur noch wenige CDs, die ich kaufe. Natürlich spielt dabei das Bemustertwerden eine große Rolle. Schließlich landen mehr CDs in meinem Briefkasten, als ich bewältigen kann. Insofern bin ich schon ausreichend damit beschäftigt, aus der mich erreichenden Flut an Neuerscheinungen jeden Monat genau die eine Kostbarkeit ans Tageslicht zu fördern, für die es sich wirklich lohnt, sein Geld auf den Kassentresen zu legen.
Vielleicht liegt es auch an mir, dass ich die Begeisterung meiner Teenagerzeit nicht mehr aufzubringen vermag. Das fieberhafte Durchhören aller Neuerscheinungen bei WOM, das Habenmüssen selbst der kleinsten Singleauskopplung eines coolen Künstlers – das sind nur noch Erinnerungen an meine Schulzeit. Jetzt ist selbst das neue Michael-Jackson-Album nichts als eine weitere Datei auf meinem Rechner. Exegese der Liner Notes? Deutungsversuche der Covergestaltung? Alles passé. Und unter uns: Ich glaube nicht, dass es nur an mir liegt, sondern auch daran, dass Musik zunehmend beliebiger und austauschbarer geworden ist.
Allerdings zeichnet sich seit einiger Zeit eine Gegenbewegung zu Plastic-R&B, Casting-Pop, Pseudo-Rock und Co. ab. Echte Künstler und keine „Superstars“, die einfach nur ihr Gesicht so oft wie möglich in den Medien sehen möchten, stoßen bei einer von den Majors übersättigten Gemeinde auf offene Ohren. Und dann gibt es da noch die Klassiker, die schon immer recht unbeeindruckt ihr Ding gemacht haben, fernab der Trends.
Quintessenz der langen Rede: Mit Andrej Hermlins Schwingenden Rhythmen wurde ich nicht werbewirksam bemustert. Ich habe mir die Mühe gemacht, in ein physisch vorhandenes Musikkaufhaus zu gehen, die CD zu suchen und schließlich zu kaufen. Ganz privat. Weshalb? Zunächst aus (pop-)musikhistorischer Neugier. Schließlich war Andrej Hermlin mit seinem Swing Dance Orchestra bislang bekannt dafür, amerikanischen Swing à la Glenn Miller oder Benny Goodman auf die Bühne zu bringen. Jetzt ist der Bandleader sozusagen vor der eigenen Haustür auf Erkundungstour gegangen, wobei er einige verschollene Big-Band-Klassiker deutschen Ursprungs zu Tage gefördert hat.
Denn ja, trotz des allseits bekannten Swing-Tanz-Verbots der „Reichskulturkammer“ existierte im Deutschland der 1930er- und 1940er-Jahre eine gewisse Anzahl an Tanzorchestern, die auch den unter der damaligen Jugend beliebten Swing spielten. Zentrum der heimlichen Swing-Szene war die Berliner Friedrichstraße und ihr näheres Einzugsgebiet, etwa die „Moka Efti City“ Friedrich-/Ecke Leipziger Straße. James Kok spielte hier, bis er 1935 Deutschland verlassen musste, während das elegante Orchester Heinz Wehners eher von „Europapavillon“ und „Delphi-Palast“ engagiert wurde. Im „Imperator Café“ trat Kurt Widmann auf, im „Spiegelsaal“ des „Europahauses“ Juan Llossas, der auch der Komponist des Erfolgsschlagers Schwingende Rhythmen ist, der für den Titel des bezeichnenderweise im Friedrichstadtpalast aufgenommenen Hermlin-Albums Pate gestanden hat. Nicht zuletzt wurden im damaligen Swinging Berlin UFA-Schlager wie Für eine Nacht voller Seligkeit oder So schön wie heut, so müsst es bleiben von den heimischen Orchestern ins Swing-Gewand gekleidet. Selbst vor einer verswingten Version des Operettenklassikers Wenn der weiße Flieder blüht schreckte man nicht zurück.
All dies trifft man auf Schwingende Rhythmen – Swing aus der Friedrichstrasse ebenso an wie die erfolgreichsten Titel der Kapelle Willy Berkings: Ich hör so gern Musik oder Du und ich im Mondschein, oder auch Von acht bis um acht von Kurt Hohenberger. Auch gastierten immer wieder ausländische Orchester in Berlin, die der Stadt ihre eigenen Hits schenkten, immer knapp um die Nazi-Verbote herum. So wurde aus dem Stück Joseph Joseph des jüdischen Komponisten Saul Chaplin kurzerhand Sie will nicht Blumen und nicht Schokolade – und passierte in dieser Fassung die Kontrollen. Auch der Titel Studio 24 des Orchesters von Fud Candrix wurde gespielt, obgleich zu seinen Mitgliedern Django Reinhardt gehörte. Eher zweifelhaft hingegen war die Rolle Lutz Templins. Unter dem Pseudonym Charlie and his Orchestra spielte er ab 1942 auf Weisung Goebbels’ antisemitischen Propagandaswing. Seine von Andrej Hermlin neu aufgenommenen Erfolgshits Die Männer sind schon die Liebe wert und Schade, dass wir auseinandergehn wurden übrigens von Ralph Maria Siegel, Vater des Grand Prix-Urgesteins Ralph Siegel, komponiert.
Schwingende Rhythmen ist aus musikhistorischer Perspektive mehr als nur ein Querschnitt all dessen, was im damaligen Deutschland an Swing möglich war. Das Album ist vielmehr das fehlende Puzzleteil zwischen Zwanzigerjahre-Swing und Fünfzigerjahre-Easy Listening.
Zum anderen wäre da noch der Hörspaß, der bei Hermlins – trotz aller um Nostalgie und stilistischer Authentizität bemühten – modernen Interpretation zwangsläufig aufkommt. Denn natürlich wäre Andrej Hermlin nicht Andrej Hermlin, hätte er sich nicht um eine besonders amerikanische, betont swingende Spielweise der deutschen Originale verdient gemacht. Hierdurch habe man versucht, so Swing-Dance-Orchestra-Sänger Markus Krafczinski, einen frischeren Ton zu treffen als den „etwas behäbigeren deutschen Vorlangen“ zu Eigen war. Zwar wolle man das Gefühl vermitteln, wie die großen Orchester rund um die Friedrichstraße damals geklungen haben, dennoch verschließt man sich nicht vor der Gegenwart. Mit der Frage konfrontiert, ob er sich als Bewahrer oder als Erneuerer verstehe, bringt der Bandleader seine Philosophie auf den Punkt: „Wir sind Bewahrer und erzählen ein lebendiges Stück Geschichte dieser Straße – wir bringen ihre Historie zum Klingen.“