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August 2010 / Victoriah Szirmai
Ich bin mir nicht sicher, ob es eine Berufskrankheit ist, aber im Geiste habe ich schon mit dem Sommer abgeschlossen. Das mag daran liegen, dass ich meine Texte im Vorfeld schreibe und gerade die ersten Herbst-CDs ins Haus flattern … Nun, jedenfalls bin ich dann immer wieder verwundert, wenn ich aufblicke und vor meinem Fenster Menschen in Shorts und Bikinioberteilen sehe. Und so habe ich beschlossen, bevor wir uns alle dem großen Herbstblues hingeben, noch eine letzte Hochsommerplatte in diese Kolumne einzuschmuggeln:
Die Lasso Remixe von 2Raumwohnung.
Vielleicht haben sie ihn ja gesehen, den Paul-Kalkbrenner-Film Berlin Calling. Immerhin ist die Odyssee des Elektro-DJs Ickarus seit mittlerweile gut 100 Wochen im Kino und der Soundtrack hält sich hartnäckig in den Club-Charts. Sie hat ja auch etwas Magisches, die Musik von Kalkbrenner. Wie eine Zeitreise zurück in die Hochphase der Berliner Technokultur, in schlaflose Nächte voller Energie und Hedonismus, voller Euphorie und Drogenexzess, gefolgt von unvermeidlichen Abstürzen, immer rastlos und getrieben, nie innehaltend. All das klingt in der Musik des gebürtigen Leipzigers an; wie kein anderer versteht er es, die Essenz dieser Zeit einzufangen und wiederzugeben. Ehre, wem Ehre gebührt: Denn es ist niemand Geringeres als Kalkbrenner, der von 2Raumwohnung gebeten wurde, die Lasso Remixe zu eröffnen.
Das im Original schon zündende Wir werden sehen entfaltet sich unter den Händen des DJs zu einem knapp zehnminütigen Clubtrack, deren gehaucht-gefauchte Songzeilen hypnotischen Slogans gleichen, und man weiß nicht, ob die Stimme den Beat beschwört oder vielmehr der Beat das Mantra ist, der die Stimme vorantreibt. Den im Text beschworenen Tanz auf dem Vulkan – Feuer ist mein Haar und deine Hand ist Kerosin/die Atmosphäre glüht, hey Mann, lass uns geh’n – reizt Kalkbrenner bis aufs Äußerste aus, die Tänzer können gar nicht aufhören, selbst wenn sie wollten, und unaufhaltsam tanzen sie dem glühenden Abgrund entgegen.
Für das Berliner Pop Duo ist es nichts Neues, seine regulären Platten ein knappes Jahr später noch einmal als Remixversion zu veröffentlichen. Dennoch sind die Remixalben von 2Raumwohnung weitaus mehr als eine liebgewonnene Gewohnheit: nämlich schlichtweg unabdingbarer Bestandteil ihrer Musik. Hier geht es nicht einfach nur darum, die alten Hits in neuem Licht erstrahlen zu lassen, sondern vielmehr deren bis dato verborgene Seiten hervorzukehren, ohne die sie nicht komplett wären.
Das Debüt Kommt zusammen (2001) gab es ebenso als Remixalbum (2002) wie 36 Grad (beide 2007); und mit dem halb-Unplugged/halb-Remixalbum Melancholisch schön (2005) trotzten Inga Humpe und Tommi Eckart ihren Songs gar eine Bossa Nova-Seite ab. Die Songs von 2Raumwohnung fordern den Mix geradezu heraus. Dass so manch ein Remix dabei attraktiver gerät als das Original, muss vom Berliner Duo in Kauf genommen werden. Man denke hier beispielsweise an den Lasso-Song Angel of Germany, mit dem ich damals wenig anzufangen wusste, der im Mix des New Yorker Techno-DJs Carlos Abraham Duque Alcivar aka Abe Duque jetzt, auf das Wesentliche reduziert, im Gewande einer von Vocoder-Sound und Dream-Piano-Sprengsel beflügelten Techno-Hymne daherkommt. Ziemlich cool auch Westbam’s Female Trouble-Mix von Body Is Boss, der durch satte Synthesizerklänge mit dem hedonistischen Charme klassischer Disco-Grooves kokettiert: Meine Hände, deine Hände, mach doch!
Gänzliche neue Klangkoordinaten werden auch dem titelgebenden „Kleiner Cowboy, du musst reiten“-Gesang Lasso durch Good Groove und Yapacc verliehen.Ohnehin decken die Lasso-Remixe ein weites Feld der Clubkultur ab. Da erklingen neben House-, Minimal- und Techno-Beats auch Acid und Trance. So bietet beispielsweise der in Polen geborene und in Köln aufgewachsene Robert Babicz aka Rob Acid mit dem Rette mich später-Remix Acid Techno at its best, während der Bosnier Mladen Solomun bei seiner mit dezenten Streichern ausgekleideten Version von Wir werden sehen ganzauf Reduktion setzt und damit nebenbei den meiner Meinung nach coolsten Track des Albums abliefert.
Electro-Experimentelles de luxe gibt es auf Und ich dreh von 3phase, während Moritz von Oswald, seines Zeichens nicht nur ein Ururenkel Bismarcks, sondern vor allem visionärer Techno-Pionier, der zuletzt im Rahmen der ReComposed-Reihe der Deutschen Grammophon gemeinsam mit Carl Craig Werke von Ravel und Mussorgsky neu interpretierte, mit Ich bin der Regen aus dem Album 36 Grad einen wunderschönen Chill out-Ausklang setzt.
Plattenkritik: 2Raumwohnung | Térez Montcalm