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Victoriah Szirmai / September 2013
Diese Ausgabe unserer Musik-Kolumne enthält acht neue Platten von folgenden Künstlern: Mara & David | Stephanie Nilles + Zach Brock & The Magic Number | Kit Downes | Peter Madsen’s CIA Trio | David Lynch | Inga Rumpf | Goldfrapp | Hattler
Mara & David | Call It Freedom
Wer Portishead covert, ist entweder sehr dumm. Oder sich seiner Sache sehr sicher. Denn eigentlich kann es nur in einem Desaster enden, sich an der Musik der göttlichen Beth Gibbons und ihrer Mannen zu versuchen. Dem in Dresden lebenden Gitarristen David Sick und der Wahlberliner Sängerin Mara von Ferne gelingt mit ihrer Version von „Glory Box“ das schier Unmögliche: Sie machen den Song noch besser, als er im Original ohnehin schon ist. Und: TripHop auf der Akustikgitarre ist möglich.
Als wäre das noch nicht genug, schieben die mehrfachen Wettbewerbspreisträger auf ihrem neuen Album Call It Freedom gleich noch ein Cover des Fleetwood Mac’schen Synthie-Pop-Songs „Little Lies“ hinterher. Das gefällt erst einmal, weil – sorry, der Mensch ist nunmal so simpel gestrickt – man es kennt. Davon abgesehen aber tritt es auch den Beweis an, dass man mit der Kombination Er-an-der-Gitarre-sie-an-den-Vocals weit mehr als ein weiteres Fußgängerzonenschrammelduo sein kann. Mara & Davids Interpretationen verdienen die andächtige Stille von Konzertsaal, Kirche & Co., so versiert, virtuos und edel, wie sie daherkommen. Völlig klar wird einem da, was die Kollegen des Magazins Akustik Gitarre meinten, als sie von einem „Duo Deluxe“ schrieben!
Das Stück, das mich auf Call It Freedom zuallererst in seinen Bann gezogen hatte, stammt aber, ebenso wie die übrigen zehn Stücke der Platte, komplett aus der Feder von Mara & David: „Break Down“ mit seinem von Guns’n’Roses’ „Sweet Child of Mine“ geborgt zu scheinendem Refrain Where do we go/where do we go/where do we go now, was ohnehin die Frage ist, um welche das gesamte Album kreist. Es geht um das Suchen und Finden des (richtigen) Weges, um das Verlassen oder Fortsetzen alter Wege und darum, ob es überhaupt eine Rolle spielt, woher man kommt und wohin man geht, wenn man doch jetzt gerade das dringende Gefühl hat, einfach tanzen, schreien und frei sein sowie leben zu müssen.
Könnte man während der ersten Songs noch denken, in eine Ani di Franco-Platte hineingeraten zu sein, wird spätesten hier offensichtlich, dass Mara & David mit Call It Freedom im Grunde ein Blues-Album gemacht haben. Dies ist in erster Linie David Sick zu verdanken, dessen percussives Spiel sich nicht mit der Rolle des unauffälligen Begleiters zufrieden gibt, das Maras immens nuancenreicher, mal erdig-warmer, mal zart schmeichelnder, immer aber völlig überzeugender Stimme einen komfortablen Grund bereitet. Vielmehr verleiht er dem Ganzen eine düstere, karge, eben: bluesige Note, für die das Etikett „Industrial Blues“ – der Titel von Sicks 2004er-Solodebüt – wie gemacht ist.
Waren die Vorgängeralben Sixteen Secrets (2007) und Once We Were Gods (2009) noch viel Singer/Songwriter-orientierter, viel leichter, meint diese Platte es ernst. „Dreamin’ About You“ setzt ein weiteres Highlight, das sich bei fortgesetztem Hören zum eigentlichen Lieblingssong des Albums entwickeln soll. Ein bisschen erinnert das an die minimalistischen Mind Aventures einer Des’ree, an Helicopter Girls Cry Mississippi, an Finks Pretty Little Thing und überhaupt an jeden, der den Geist des urbanen Blue Eyed Blues atmet. Einen perfekten Ausklang finden die beiden charakterstarken Künstler mit „Like A Stranger“, das vielleicht weniger Blues-Feeling verströmt, aber dafür ganz sanft landen lässt. Feine Sache, das!
Stephanie Nilles + Zach Brock & The Magic Number | … Takes A Big Ship
Von der Presse wird Stephanie Nilles als „überzeugendste Jazz-Klavier-Lounge-Punk-Sängerin, seit Tom Waits begonnen hat, Kette zu rauchen und über Seeleute zu singen“, bezeichnet. Damit ist im Grunde schon alles gesagt, denn tatsächlich klingt die 29-jährige Wahl-New-Orleanserin wie ein weiblicher Tom Waits – allerdings einer auf LSD, oder mehr noch, wie dessen mutmaßliche Tochter mit Regina Spektor. Eigentlich aber hinkt auch dieser Vergleich, denn mit … Takes A Big Ship ist etwas ganz Individuelles entstanden. Was will man auch von jemandem erwarten, der seinem Debüt vor zwei Jahren den einprägsamen Titel Fuck Off, Grizzly Bear gab?
Gleich die rumpelig-schräge Boogie-Woogie-Interpretation von „Gimme A Pigfoot (And A Bottle Of Beer)“ aus dem Repertoire von Blues-Kaiserin Bessie Smith weist auf … Takes A Big Ship die Richtung für das gesamte Album, das es sich irgendwo zwischen Anti-Folk, Honky-Tonk-Spelunke und Varieté gemütlich macht. Daran sicherlich nicht ganz unschuldig ist die vordergründig schief krächzende, recht eigentlich jedoch höchst kunstvoll gespielte Fiedel des Jazzgeigers Zack Brock. Nilles selbst gibt die den Alkoholika in ihrem Berufsumfeld nicht abgeneigte Barsängerin, die sich selbst am verstimmten Honky-Tonk-Piano begleitet, was mal was von besoffenem Seemann, mal von Flohwalzer für Anfänger hat. Kaum zu glauben, dass Stephanie Nilles früher mal Konzertpianistin und -Cellistin war, denn konzertantem Schönklang verweigert man sich auf … Takes A Big Ship konsequent. Toll auch der von Matt Wigton – seines Zeichens ein Teil der als „The Magic Number“ bekannten Rhythmusgruppe, die von dem hier ebenfalls zu hörenden Schlagzeuger Frederick Kennedy komplettiert wird – bediente, hallende Klapperbass auf „#“ (nein, das ist kein Tippfehler – der Song heißt wirklich so), der seine Entsprechung in dem präparierten Piano Nilles‘ findet.
So etwas wird ja gern mal anstrengend. … Takes A Big Ship indessen gerät trotz allem gut verdaulich, macht es sich doch nicht zuletzt ob seines Humors (dem unter anderem göttliche Songtitel wie „Vodka-based Fishbowl“ geschuldet sind) leicht zugänglich, weshalb ich es jetzt einfach mal als klangliche Zerstreuung für den anspruchsvollen, eher abseitiger Musik zugeneigten Geist bezeichnen möchte. Selbst dann, wenn auch der Langmütigste den Eindruck gewinnt, dass Nilles, wie etwa auf „Transistor“, gründlich übertreibt und das Ganze dazu neigt, beschwerlich zu werden, wird der Über-Speed mit einer nachfolgenden Ballade ausgebremst und dem geforderten Publikum eine Verschnaufpause gegönnt. Allerdings nur, um gleich darauf wieder mit einer „Mazurka“, angesichts derer Chopin mit Sicherheit im Grabe rotiert, wieder voll aufzudrehen.
„Break Yer Neck“ geht als orchestrale HipHop-Nummer in der Tradition wortgewaltiger Intellektuellenrebellen durch, was auch kein Wunder ist, da die Teilnahme an wilden Poetry Slams in New York doch zur musikalischen Metamorphose der Nilles von der braven Klassik-Studentin zur freiheitsliebenden Nonkonformistin gehörte. Aller Wortwitz und alle musikalischen Taschenspielertricks dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Stephanie Nilles hier nicht nur grandios schönen Unsinn zelebriert, sondern in ihren Texten durchaus das eine oder andere gesellschaftspolitische heiße Eisen anpackt, ob nun thematische Dauerbrenner wie die mehr oder weniger latente Frauenfeindlichkeit von Jazz bis HipHop („Winin‘ Boy Blues“) oder aktuelle Aufreger wie das Phänomen lebensverwöhnter Hobby-Petitionisten und ähnlicher Möchtegern-Aktivisten („#Occupymypussybitch“). Da singt dann auch schon mal ein Transgender Chor mit. Ein in jeder Hinsicht außergewöhnliches Album.
Kit Downes | Light From Old Stars
Dem Klavier bleiben wir weiterhin treu, auch wenn das wandlungsfähige Tastentier, wird es von Kit Downes gestreichelt, weitaus klassischer, jazziger und auch schräger daherkommt – wenngleich nicht im Sinne einer Weird-Folk-Bizärre wie bei Stephanie Nilles, sondern bezogen auf des gelegentlich-freie Verlassen tonaler Bahnen. Gleich der Opener mit seinem repetitiven, absteigenden Dreiton-Piano-Motiv hypnotisiert, lullt ein, trägt den Hörer in andere Sphären, der nur noch von einem nervösem Fußwipper-Offbeat geerdet wird.
Auf Light From Old Stars erweitert der britische Jazz-Pianist, der üblicherweise mit Calum Gourlay am Bass und James Maddren am Schlagzeug spielt, sein bewährtes Trio, das sich 2005 in seinem ersten Studienjahr an der Royal Academy of Music zusammengetan hat, zum Quintett, indem er einerseits dem Saxophonisten und Klarinettisten James Allsopp Raum für dessen teils arg freie Improvisationen gewährt, andererseits die zeitgenössische Cellistin Lucy Railton, die sich sonst eher im Dunstkreis der Neuen Musik bewegt, einem Jazzpublikum vorstellt. Die Reibung, die dabei zwischen den fünf Musikern entsteht, ist genauso spannend wie der konzeptionelle Gedanke hinter dem Album, denn ja: Light from Old Stars ist ein klassisches Konzeptalbum, das um einen Leitgedanken kreist.
Hierbei ist es Downes um nichts Geringeres als das himmlische Maß zu tun, um die ewigen Zyklen des Weltalls, wenn ein Stern entsteht, wächst, seinen Höhepunkt erreicht, schrumpft und verglüht. Um die Umwandlung der Elemente geht es hier, um die Transformation chemischer Verbindungen in einen anderen Aggregatzustand – aber auch um Mystik, Magie und Phantasma, um unerklärliche Vorgänge wie etwa die tiefe Ruhe, die den Menschen überkommt, wenn er zu den Sternen schaut und sich als kleiner Teil eines perfekten Ganzen zu begreifen lernt. Eine allumfassende Gelassenheit, die sich in der Musik von Light from Old Stars ebenso spiegelt wie der schon angesprochene Transformationsprozess, der sich nicht nur in der bloßen stofflichen Welt, sondern generell auch innerhalb eines Lebens und auch darüber hinaus entspannt, wenn ein altes, verlöschendes Leben sich in ein neues umwandelt. Zu Staub zerfallen, aus Staub geboren.
Downes‘ Konzept wurde inspiriert von der NASA-Astrobiologistin Daniella Scalice, die dem Musiker ihre Faszination darüber vermitteln konnte, dass jene Sterne, die wir von der Erde sehen können, oftmals bereits verglüht sind. Folgt man diesem Gedanken, ließe sich unsere nächtliche Sternenschau auch als eine Art „Zeitreise ohne Bewegung“ begreifen. Für die sorgt Downes dann schon selbst, wobei das seiner eigenen Choreographie folgende Chaos, das im rohen Blues eines Howlin‘ Wolf wurzelt und seine Verfeinerung in der europäischen Klassik findet, immer im ganz und gar prosaischen Hier und Jetzt ankert. Wie beispielsweise in der aktuellen Popkultur, wenn sich ein Stück wie „Owls“ an David Lynchs Erfolgsserie Twin Peaks anlehnt. Dieses – immerhin schon siebte und damit vor-vorletzte – Stück ist es dann auch, das Ordnung in das verwirbelnde Sternenstaubchaos bringt. Hier und beim nachfolgenden „The Mad Wren“ setzt sich die bodenständige Blues-Struktur durch, und wie nach einem langen Kampf, wenn sich die Nebel verziehen, legt sich Ruhe über das Schlachtfeld.
Beim abschließenden „Jan Johansson“ klärt sich dann auch der letzte Rest. So sphärisch und traumwandlerisch könnte es jetzt endlos weitergehen. Der Beobachter des Sternensterbens und -werdens gibt sich ganz dem ewigen Beat hin, der völlig unbeeindruckt von allen irdischen Fährnissen weiter und weiter und weiter schlägt.
Peter Madsen’s CIA Trio | Transformation
Um Transformationsprozesse geht es auch dem Pianisten Peter Madsen – genauer: die Transformation der Einzelnen in gesündere, liebevollere, kurzum: bessere Wesen, deren Vielzahl wiederum die Welt zu einem besseren Ort macht. Und all das Dank der Kraft der Musik. Eine schöne Utopie, die Madsen als einen treibenden Grund bezeichnet, weshalb er überhaupt Musik komponiert, aufführt und lehrt – und das nun schon seit bald fünfzig Jahren.
Wer Ohrenzeuge dessen wird, was der US-amerikanische, mittlerweile jedoch im österreichischen Vorarlberg beheimatete Klaviervirtuose da im Verbund mit dem Bassisten Herwig Hammerl und dem Schlagzeuger und Percussionisten Alfred Vogel in Form des Collective of Improvisong Artists-, kurz: CIA-Trios auf Transformation treibt, möchte jedenfalls fest an bessere Welten glauben. Das Album umfasst neun Stücke, darunter größtenteils Sieben- und Achtminüter, die Madsens Musik auch zu ihrer Entfaltung benötigt, um so warm, erdig und tröstlich daherzukommen, wie sie es tut. Dabei wartet das Schlagwerk immer mit allerlei interessantem Geschnassel auf, mal so dezent wie auf „Moon Shadow“, wo man lediglich leises Hundemarkengeschepper unter dem Fenster zu vernehmen meint, mal so sperrig wie auf „The Cat“, wo eher ein großer Rollkoffer, wenn nicht gar der Bollerwagen des samstäglichen Anzeigenblattausträgers, auf dem Pflastergestein vorbeizurollen scheint, obgleich laut Songtitel nur eine Katze vorbeisamtpfötelt.
Toll auch das stolpernde „Mask“, das sich solange im Stottern verliert, bis ein butterweicher Bass aufs Höchste angenehm vibrierend in die Magengrube fährt. Ohnehin gilt die Trias höchst–angenehm–vibrierend für das gesamte Album, das voll praller Energie steckt, dennoch keine Abstriche bei der Virtuosität macht sowie – das ist das eigentliche Kunststück – nichtsdestotrotz in sich geschlossen ist. Transformation ist ein warmes Album, irdisch, atmend, lebendig, von mir aus auch: organisch, nie abgehoben, ja, vielleicht tatsächlich schlicht: voller Liebe.
Und während „Like the Evening Primrose” noch in fast sentimental anmutende Traumwelten entführt, lässt der energetische Groove von „On The Move“, der das Album abschließt, keine Zeit für wie auch immer geartetes Sentiment aufkommen. Eher regiert hier die Atemlosigkeit, was sich als idealer Schluss herausstellt, denn er stärkt und macht dem Hörer, vielleicht nicht zum besseren Menschen, aber zu einem selbstbewussteren, optimistisch auf die nächsten Stunden schauenden Wesen, und das ist an schlechten Tagen ja auch fast schon Zauberwerk.
Plattenkritik: Mara & David | Stephanie Nilles + Zach Brock & The Magic Number | Kit Downes | Peter Madsen's CIA Trio | David Lynch | Inga Rumpf | Goldfrapp | Hattler