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Juli 2010 / Victoriah Szirmai
Morcheeba – Blood Like Lemonade
Man schrieb die Neunzigerjahre, als ein völlig neuer Sound mit seinen Vorkämpfern wie Massive Attack, Tricky, Portishead, Nightmares on Wax, Waldeck oder eben Morcheeba Herzen und Ohren all jener eroberte, die jung genug waren, um einerseits elektronische Clubsounds zu lieben, in deren Biografien aber andererseits die großen Tragödien noch ausstranden – sodass hier und da gerne auch ein bisschen Melancholie von außen eingeholt wurde.
Auch ich hatte damals mein musikalisches Zuhause im TripHop gefunden (und wir wollen und jetzt nicht über die „Zulässigkeit“ dieses Begriffs streiten). Künstler wie Morcheeba standen demzufolge nahezu täglich auf meinem akustischen Speiseplan. Irgendwann war der einst so aufregende Sound jedoch zur Beliebigkeit degeneriert, zu Hotellounge- und Boutiquenbeschallung. Von Morcheeba, die sich 1996 mit ihrem Debütalbum Who Can You Trust? an die Spitze der neuen Düsternisliga katapultiert hatten, hernach jedoch – Stichwort TripPop – deutlich fröhlichere Musik produzierten, habe ich persönlich bis auf vereinzelte Beiträge auf diversen DownTempo-Samplern nichts mehr gehört. Zwar nahm ich sie weiterhin zur Kenntnis, habe genau genommen aber mit Charango (2002) aufgehört, die Band aktiv zu verfolgen. Charango war das vorläufig letzte Album, dass Paul und Ross Godfrey mit Sängerin Skye Edwards eingespielt hatten. Best-ofs folgten und eine Zwischenzeit mit Daisy Martey am Mikrofon, aber TripHop oder -Pop – und mit ihm seine ehemaligen Protagonisten – hatte definitiv an Glanz verloren.
Umso elektrisierter war ich ob der Nachricht, dass Sängerin Skye wieder zu den Godfrey-Brüdern gestoßen war. Manche Dinge sind in ihrer ursprünglichen Zusammensetzung eben einfach schmackhafter … Ob es wohl aber auch Morcheeba mit Blood Like Lemonade noch einmal gelingen würde, an alte Zeiten anzuknüpfen, ohne sich in Nostalgismen zu verlieren?
Sounds like Morcheeba …
Und tatsächlich entfaltet sich durch Skyes Stimme wieder jener vertraute Zauber, der damals eine Neudefinition des Begriffs Downtempo gebot. „Wir haben immer versucht, genau die Platte zu machen, die wir noch nicht in unserer Plattensammlung hatten“, erklärt Ross Godfrey, Gitarrist und musikalischer Allrounder des Trios. „Wenn ich aus dem Pub nach Hause komme, kann ich stundenlang durch meine alten Vinylscheiben blättern um exakt die eine zu suchen, die dem Moment perfekt entsprechen würde – und das ist genau die, die wir schon immer selbst machen wollten, mit diesem bekifft-schläfrigen 3-Uhr-morgens-Sound, wie die warme, flauschige Decke der Psychedelie.“
Blood Like Lemonade ist genau dieses fehlende Album. Es nimmt die Essenz früherer Klassiker wie Who Can You Trust? oder Big Calm auf und führt sie zu neuen Schauplätzen. Zwar bilden nach wie vor Wohlfühl-Downtempo-Beats das Herzstück von Morcheebas Musik, werden jetzt aber angereichert mit den fremdartigen Nunacen beispielsweise eines afrikanischen Daumenklaviers (Even Though), einer Sitar und Blues-Mundharmonika (Mandala) oder einer Folk-Gitarre (I Am The Spring) – übrigens ein ganz wunderschönes Lied!
Über all diesen Sounds schwebt Skye Edwards’ hauchige Stimme, deren Effekt umso verblüffender ist, wenn sie in krassem Kontrast zu Paul Godfreys böseren Texten steht, zum Beispiel, wenn es um den rächenden Vampir auf dem titelgebenden Blood Like Lemonade geht oder um das mörderische Dinner auf Receipe for Desaster, das mit den Zeilen Wanna know why / there’s a dead guy / in my dining room beginnt. Diese Aufzählung wäre nicht vollständig ohne den Opener Crimson, übrigens einer der Lieblingstracks Skyes, der aus der Perspektive des Liebhabers einer verheirateten Frau geschrieben wurde, welcher die Affäre zu beenden trachtet, indem er versucht, sie und sich selbst in einem Autounfall zu töten, jedoch als „Sunshine Suicide Surviver“ überlebt, so kann es auch gehen.
Das Unheimliche brodelt bei Morcheeba ohnehin dicht unter der Oberfläche, die da glänzend und fröhlich daherkommt, aber – ähnlich Craig Armstrongs Best Laid Plans oder Airs Virgin Suicides – eben täuscht. Vor allem Track 9, Self Made Man, erinnert musikalisch sehr an die genannten Soundtracks: Die filmmusikalische Arbeit von Morcheeba-Mitglied Ross lässt sich eben nicht verleugnen! Das mit zehn Songs in klassischer Länge daherkommende (und allein aus diesem Grunde in Zeiten diesbezüglich unlimitierter Möglichkeiten immens sympathische) Album – denn auch auf der guten alten LP konnte man in neun bis zehn Songs eine komplette Geschichte erzählen! –, verabschiedet sich mit Beat of the Drum, einer hypnotisch-santanaesken Halb-Wikinger/Halb-Voodoo-Nummer.
Getrennt von Tisch und Bett
Wie schade wäre es gewesen, wenn es dieses Album nie gegeben hätte! Und vor gar nicht so langer Zeit sah es ja noch ganz danach aus, konnte doch nach Skyes Weggang – die in der Zwischenzeit übrigens zwei wunderbar verträumte Soloalben aufgenommen hat, 2006 Mind How You Grow und 2009 Keeping Secrets – keine der Übergangssängerinnen die hohen Ansprüche der Godfrey-Brüder erfüllen. Das Trio Morcheeba verkam zu einem Duo mit wechselnden Gastsängerinnen, und bald schon hatte es den Anschein, als würde selbst dieses in naher Zukunft Geschichte sein: Paul Godfrey zog sich, enttäuscht vom Musikbusiness, nach Südfrankreich zurück, während Ross Godfrey als Filmmusikkomponist in Hollywood Neuland betrat, zuletzt bei Steven Soderberghs The Girlfriend Experience. Schließlich jedoch besann man sich der alten Weisheit never change a winning team (oder, für alle Online-Arbeiter abgewandelt: never touch a running system) und sobald die Godfreys wieder Skyes Stimme auf ihren Songs hörten, wurde der alte Zauber wieder greifbar.
„There’s a definite vibe that happens when the three of us work together, a combination of things that’s unquantifiable“, versucht Ross, das Unbeschreibbare zu beschreiben. Von diesem Zeitpunkt habe sich alles ganz von selbst gefügt, zumal die frisch vereinte Band einen Weg gefunden hat, mit ihren persönlichen Differenzen umzugehen: Die halb-fertigen Aufnahmen wurden zwischen Frankreich, Hollywood und Surrey hin und her geschickt, jeder spielte bzw. sang seinen Teil ein, sodass die Notwendigkeit zu persönlicher Begegnung auf ein Minimum reduziert war. Gewissermaßen getrennte Schlafzimmer zur Eherettung.
Nicht zuletzt hat auch der Zusammenbruch der Musikindustrie zur Rettung der Band beigetragen. Ohne den kommerziellen Druck der industriellen Musikmaschinerie konnten die drei so entspannt an das Album herangehen, als wäre es ihr Debüt. Und in gewissem Sinne ist es das auch: Morcheeba hatten die Chance, noch einmal von vorn zu beginnen und Musik wieder um der Musik selbst willen zu machen. Sie haben ihre Chance genutzt.
Plattenkritik: Morcheeba | Joyce