April 2017 / Lorina Speder
Anohni – Paradise (EP)
Anohni hat nach ihrem erfolgreichen Debütalbum vom Mai letzten Jahres überraschend am 17.03.2017 eine neue EP namens Paradise veröffentlicht. Die Künstlerin bekam 2016 viel Aufmerksamkeit in den Medien – zum größten Teil wegen der Originalität des Albums und einer Mercury-Music-Prize-Nominierung, zum Teil aber auch, weil sie sich erstmals als Transgender-Künstlerin unter ihrem femininen Aliasnamen präsentierte. Zuvor trat sie stets als Frontmann der Band Antony and the Johnsons auf.
Als Soloartist wäre es aber an der Zeit gewesen, das an die Öffentlichkeit zu bringen, was in ihrem persönlichem Leben schon normal sei, so die in England geborene Musikerin. Seitdem wird sie auch von Unbekannten und der Presse mit den weiblichen Pronomen angesprochen. Musikalisch gesehen, entwickelt sich Anohnis Solowerke etwas elektronischer als bei Antony and the Johnsons. Damals lag der Fokus der Künstlerin noch auf Balladen, die sie mit ihrer Band oft am Klavier vortrug. Mit ihren neuesten Kompositionen zeigt sich Anohni energetischer und elektronischer. Sie selbst beschreibt ihre Musik als „Elektro, der Zähne zeigt“. Und genau so ist es: Mal sind die elektronischen Klänge sanft, mal explosionsartig und kräftig. Was aber immer überzeugt, ist die sentimentale Stimme der Sängerin – sie säuselt und verführt.
Die neue Auskopplung beschäftigt sich mit der konfusen politischen Situation – Anohni schafft es, die sentimentale und intime Seite einer solchen Auseinandersetzung zu betonen. Es ist ihr Anliegen, über die Betroffenheit, die die derzeitige Situation in ihr auslöst, zu sprechen. Im Titelsong „Paradise“ gibt sie ihrer Hilflosigkeit Worte und singt im Chorus „Paradise world without end, hopelessness sinks into the earth.“ Der mächtige Refrain wird abgelöst von einer spannungsgeladenen Strophe, die persönliche Erinnerungen an Anohnis Kindheit thematisiert.
Wie sehr Politik unser Leben beeinflusst, zeigt sie geschickt, indem sie Erinnerungen an ihre Eltern politisch hinterfragt. Auch der nächste Song „Jesus will kill you“ scheint direkt an Mr. Trump persönlich gerichtet zu sein. Darin fragt die Künstlerin „Why you take and take? Even change the laws … Seek to destroy our homes. You’re a mean old man.“ Und Sorge um die USA kann die Sängerin allerdings haben, sind sie nach all den Jahren – schon seit 1981 lebt sie dort – doch zu ihrer Heimat geworden. Die Worte der Sängerin sind in Verbindung mit der düsteren und energiegeladenen Musik Statement genug – anders als bei den meisten Musikern, die sich nicht direkt auf die politische Lage beziehen, kann Paradise als direkte Reaktion auf die Präsidentenwahl in Anohnis derzeitige Heimat verstanden werden.
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Bo Ningen – lll
Bo Ningen ist eigentlich eine japanische Noise-Rock-Band. Doch auch wenn die Lyrics der rockigen und basslastigen Songs auf Japanisch gesungen werden, sehen sich die vier Mitglieder selbst eher als britische Band. 2006 begegneten sich die langhaarigen Männer in London und residieren dort nun schon seit über zehn Jahren. Nach Japan kommen sie trotzdem gerne. Doch erst 2013, nach sieben Jahren Bandgeschichte, spielten sie dort ihr erstes Festival – und konnten anschließend ihre Familien besuchen.
Inzwischen sind sie auch in ihrer Heimat bekannt und schon lange kein Geheimtipp mehr. Das letzte, dritte Album von Bo Ningen, das den einfachen Titel lll trägt, erschien 2014. Obwohl schon drei Jahre seit der Veröffentlichung vergangen sind, ist die Band momentan erneut auf Tour und stellt die Musik von lll auf den Bühnen des Vereinigten Königreichs vor. Eine Singleauskopplung darf bei keinem Konzert fehlen: „Slider“ wird von einem monotonen Bassmotiv angeschoben, das sich durch den gesamten Track zieht. Die zwei Gitarren sind schwer und mit Fuzz-Effekten angereichert – doch selbst Taktwechsel und verzerrte Gitarren verändern die dominante Stellung des Basses nicht.
Die Multitaskingfähigkeit von Sänger und Bassist Taigen Kawabe zeigt sich nicht nur in diesem Song. Auch der letzte Track des Albums, „Kaifuku“, überzeugt mit lauten E-Gitarren und einer starken Rhythmusgruppe. Übersetzt bedeutet Kaifuku „Genesung“, was man auch gleich in die Musik hineininterpretieren kann: Der Song durchläuft mehrere Phasen, auf halber Strecke verwirrt er das Ohr mit einem Harmoniewechsel und schlägt darauf wieder in das Anfangsmotiv um – vielleicht eine Art: Genesung? Was bei allen Songs des Albums auffällt, ist, dass Bo Ningens Musik am besten live erlebt werden sollte, denn die weiten, kimonoartigen Bühnenoutfits, der Körpereinsatz der vier Mitglieder und die wehenden Haare allein sind ein Spektakel!
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Brian Eno – Reflection
Anfang des Jahres brachte Brian Eno mit Reflection ein neues Album auf den Markt. Mit der Veröffentlichung bekommen die Hörer wie erwartet neue Ambientsounds vom „Meister“ präsentiert. Eno gilt als einer der kreativen Gründer der Musikrichtung und komponiert seit über 40 Jahren experimentelle Ambient-Musik, die keinen Anfang und kein Ende kennt. Diese Musik ohne Höhepunkt sei dazu da, den Raum auszuschmücken – so wie es der Komponist und Musiker Erik Satie mit der „Musique d’ameublement“ gemeinte hätte. Eno nannte Saties Beschreibung eine Inspirationsquelle für seine Musik: Es sollen Klänge sein, die wie Einrichtungsgegenstände im Raum stehen und diesen schmücken.
Schon 1978 hatte Eno deshalb eine Reihe von Alben komponiert, die zum Teil sogar den Ort genau benennen, den sie musikalisch ausfüllen sollen – die erste Veröffentlichung von Eno im Ambient-Stil trägt beispielsweise den simplen Namen „Ambient 1: Music for Airports“ und lässt somit keine Fragen mehr offen. Mit Reflection kommt Eno nun mit einer Platte, die nur einen einzigen Song enthält – der dann allerdings 54 Minuten dauert. Doch nicht nur das – Eno veröffentlicht das Stück nicht nur auf den üblichen Tonträgern, sondern auch mittels einer App, wodurch die intendierte Endlosigkeit der Musik zur Realität wird. In der App-Beschreibung erklärt er, dass die anderen Veröffentlichungen trotz Wiederholungsfunktion eher statisch seien. Die App kombiniert die einzelnen kompositorischen Schichten des Stücks immer anders und so lange, bis der Hörer schließlich eingreift und es beendet. Es wäre für ihn das erste Mal, seiner angestrebten Unendlichkeit in der Musik nahezukommen.
Die Präsenz des minimalistischen Stücks, das meditativ und beruhigend wirkt, soll beim Zuhören wie Natur wirken: immer da, aber unbewusst wahrgenommen. Eno beschreibt es wie das Beobachten eines Flusses – er ist immer derselbe, verändert sich aber dennoch ständig. Schon in den ersten Minuten lassen die Klänge von Reflection das Gemüt zur Ruhe kommen – die Musik ist derart unterschwellig, dass die Länge des Stücks kaum auffällt. Denn nach den ersten zehn Minuten bewussten Hörens verschwindet man selbst zwischen den verschiedenen Klangschichten in eine Art Trancezustand. Auch wenn die Musik sich oberflächlich betrachtet nicht von anderer Ambient-Musik unterscheidet, bemerkt man den Unterschied und die Feinfühligkeit Enos beim genauen Hinhören: Das Verhältnis der einzelnen Schichten und das Zusammenwirken der kompositorischen Elemente hat nichts von herkömmlicher langweiliger Fahrstuhlmusik – die Balance in der Komposition ist raffiniert und zeigt, wie durchdacht das Werk ist. Der Meister hat wieder gute Arbeit geleistet!
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