März 2012 / Victoriah Szirmai
Am 26. Februar 2012 wäre Johnny Cash 80 Jahre alt geworden. Dies hat der Verlag Edel/Rockbuch zum Anlass genommen, die Autobiographie „Cash“, die der Sänger 1997 mit Hilfe des renommierten Country-Journalisten Patrick Carr verfasst hat und die erstmals 2003 (deutsch: 2004) erschienen ist, in einer großformatigen Neuauflage herauszubringen.
Viele Hörer aus meiner Generation sind mit der Musik Johnny Cashs zum ersten Mal im Jahre 2005 in Berührung gekommen, als der Film „Walk the Line“ sowie der dazugehörige Soundtrack die Kinosäle eroberte. Auch wenn „Walk the Line“ offiziell auf den zwei Autobiographien Johnny Cashs – „Man in Black“ von 1975 sowie der Erstausgabe der vorliegenden – basiert, entstammt vieles, was wir über den Musiker zu wissen glauben, dem Gedächtnis seiner Ehefrau June Carter, die ihre nicht immer nur dornenlosen Erlebnisse, die das Teilen von Bett und Bühne mit dem Man in Black nach sich zog, in Büchern wie „Among my Klediments“ (1979) oder „From the Heart“ (1987) öffentlich verarbeitete. „Cash. Die Autobiografie“ hingegen ist Johnny Cashs eigene Sicht der Geschichte – „was ich fühle, was ich liebe, was geschah, so wie ich es erinnere …“
Und diese ist in erster Hinsicht geprägt von Altersmilde und Dankbarkeit. „Ich bin ein glücklicher Mann“, hält Cash bereits im Vorwort des Buches fest. Wer die vielzitierten wilden Storys über Gefängnisaufenthalte, Tablettensucht und Wahnsinn erwartet – die gibt es woanders. Schließlich wurde „die Reise in die Abhängigkeit […] in den letzten Jahren schon so oft von so vielen Leuten beschrieben, dass es, glaube ich, nichts bringt, wenn ich hier auch noch meinen eigenen Weg mit all seinen Niederungen schildere.“ Auch über den berüchtigten Raubüberfall, dessen Opfer Johnny Cash und seine Familie in ihrem Landhaus auf Jamaika wurden und in dessen Nachgang die drei jugendlichen Räuber von der jamaikanischen Polizei beziehungsweise Justiz getötet worden sind, möchte sich der Künstler am liebsten ausschweigen, überlegt es sich dann aber doch noch einmal anders: „Ich habe über den Raubüberfall nachgedacht – er ist wichtig für das Buch, ansonsten würde ich die Sache am liebsten schnell wieder vergessen.“
Und so bedient „Cash. Die Autobiografie“ dann auch eher die Neu- anstatt der Sensationsgier. Zuallererst jedoch ist dieses Buch eine Reise. Der Künstler nimmt seine Leser nicht nur mit durch die verschiedenen Phasen seines Lebens und seiner Karriere, sondern lässt ihn mit den Kapiteln „Unterwegs“ und „Wieder unterwegs“ auch an seiner aktuellen Tournee teilhaben, in deren Rahmen er gerade in Oregon Halt macht und die ihn noch bis Öland, Schweden, führen soll. Auch die verschiedenen Häuser Johnny Cashs – gegliedert in die Kapitel „Cinnamon Hill“, „Port Richey“ und „Bon Aqua“ – sind immer wieder Ausgangs- und Endpunkte seiner Betrachtungen, die sich zudem in ausführlichen Naturbetrachtungen ergehen – wohl nicht allzu verwunderlich für einen Jungen von den Baumwollfeldern Arkansas’, der in seinem Erwachsenenalter ein leidenschaftlicher Jäger, Angler und Hobbymeteorologe werden sollte.
Spricht Cash von der Natur, die ihn umgibt und seinem getriebenen Geist Ruhe verschafft, schwingt immer eine unterschwellige Spiritualität mit, und er scheut sich nicht, ausführlich und offen über seinen christlichen Glauben zu sprechen, der auch einen Großteil seines künstlerischen Schaffens prägt. Vielleicht hat sein starker Glaube ihm ja das Leben gerettet; und so gehören die sein Christentum betreffenden Kapitel dann auch zwingend in dieses Buch, ob man als Leser persönlich nun etwas damit anfangen kann oder nicht. Ähnlich verhält es sich mit den letzten Seiten des Buches, mit denen ich mich persönlich schwer getan habe, da sie schon sehr an die Credits auf Musikalben erinnern: Ich danke Gott, meinen Produzenten, meiner Familie und meinen Freunden … Oder, um es mit den Worten Cashs zu sagen: „Legenden und Lügen, Narren und Betrunkene, alte Freunde und Engel. Sie alle gehören in dieses Buch“, welches im Grunde auch ein umfangreicherer Tribut an all jene ist. Immerhin weiß der Buchautor: „Wenn der Tod an die Tür klopft, musst du sofort nach deiner Schrotflinte greifen. Und wenn du weißt, dass er vielleicht schon ganz in der Nähe ist, was für alle Leute meines Alters gilt, solltest du deine Zeit gut nutzen. Nicht länger aus dem Fenster auf den See hinausstarren, sondern anfangen deine Geschichten zu erzählen.“
Der vielleicht auch von der latenten Furcht, nicht mehr alle Geschichten erzählen zu können, getriebene Ansatz, vereint sich mit dem milden und dankbaren Blick, der wohl sein muss in einem Alter, in dem man sich auf einen abendlichen Auftritt in erster Linie durch ein ausgiebiges Mittagsschläfchen vorbereitet. „Cash. Die Autobiografie“ ist in dieser Hinsicht nichts mehr als wortgewordenes Memento mori. Nichtsdestotrotz erfährt gerade der mit dem Leben Johnny Cashs noch unvertraute Leser viele Details aus der bei der Baumwollernte und -kultivation verbrachten Kindheit des Sängers, über seine Stationierung in Deutschland, wo er seine erste Band gründete, und seinen ersten Plattenvertrag beim legendären Label Sun Records, das damals auch gerade den jungen Elvis Presley gesignt hatte. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Legende.
„Cash. Die Autobiografie” ist für mich aber auch in erster Linie eine Reise zu unbekanntem musikalischen Terrain. Jeder hat wohl seinen „eigenen“ Johnny Cash, und ich war zwar vertraut mit den frühen Rockabilly-Sachen, aber weniger mit dem Spätwerk, den gerühmten American Recordings. Noch während des Lesens habe ich mir den Luxus gegönnt, diese Lücke zu schließen; und ich bin sicher, dass ich Songs, die ich früher als „ganz nett, aber nicht mein Ding“ abgetan hätte, allein durch die Lektüre anders höre. Großartig zum Beispiel: „Delia’s Gone“ mit der wunderbaren Textzeile „If I hadn’t have shot poor Deila, I’d have had her for my wife“, oder „The man who couldn’t cry“, eine Ballade über einen armen Teufel, dem alles Schlechte widerfährt, was einem in seiner irdischen Existenz so passieren kann: Seine Frau verlässt ihn, sein Hund wird überfahren, er verliert seinen Arm, sein Roman wird abgelehnt und ins Gefängnis wird er auch noch geworfen. Nachdem er dann mit einem Mal wieder weinen kann, weint er so lange, bis er an Dehydrierung stirbt. Und klar, im Himmel findet er seinen Hund wieder, sein Arm wächst ihm an, alle Kritiker nehmen ihre Verrisse zurück und seine Ex-Frau stirbt – und zwar an Dehnungsstreifen. Auch dieser alte Mann hat eine Menge Humor; und ebenso wie bei den American Recordings schimmert dieser durch die meisten Zeilen von „Cash. Die Autobiografie“.
Dankbarkeit, Humor und Spiritualität mögen die hauptsächlichen Ingredienzien dieser Komposition sein, doch wirklich lernen wir die Person Cashs kennen, wenn er ganz banale Erkenntnisse mit uns teilt, wie etwa „Ich mag den Käse aus Wisconsin wesentlich lieber als das stinkende Zeug aus Europa. Ich stehe nicht besonders auf Dinge, die schmecken, als ob sie schon lange tot wären.“ Natürlich freut sich mein Musiksoziologenherz auch über die von Cash aufgeworfene grundlegende Fragestellung in Bezug auf moderne Country-Musik: „Damals in Arkansas brachte ein Lebensstil eine bestimmte Art von Musik hervor. Bringt heute eine bestimmte Art von Musik einen bestimmten Lebensstil hervor?“, doch geht es dem Sänger hierbei vor allem darum, seine Underdog-Attitüde gegen das „Establishment der Countrymusik“ zu behaupten und weniger um eine Vertiefung dieses Ansatzes. Und so macht den wirklichen Wert dieses Buches aus, dass man mit seiner Hilfe zu einem Neuhören der Cash’schen Songs gelangt. Und letzten Endes ist doch genau dies die Aufgabe eines jeden Musikbuches: Dass die hier beschriebene Musik ein kleines bisschen mehr durch die Ohren des Künstlers gehört werden kann.
Allein das Format und das verbundene Gewicht machen das Buch leider unpraktisch in seiner Handhabung. Es ist schlicht zu groß und zu schwer, um es mit einer Hand zu halten, was das Umblättern in allen Situationen, wo das Buch nicht ruhig auf dem Schoß ruht, unmöglich macht. So definiert schon das Format den Gebrauch des Buches zu Hause auf dem Sofa. Hoffentlich droht ihm aus diesem Grunde nicht das Schicksal, auf dem Couchtisch zu verstauben, denn das wäre schade um die Geschichten eines Mannes, für den es noch einmal Zeit wird, „an die Arbeit zu gehen. Oder zu spielen, wie wir Musikzigeuner so schön sagen. Ich ziehe mein schwarzes Hemd an, schnalle der schwarzen Gürtel meiner schwarzen Hose zu, binde mir die schwarzen Schuhe, nehme meine schwarze Gitarre und gehe los, um für die Leute in dieser Stadt ein Konzert zu geben.“
Johnny Cash mit Patrick Carr: „Cash. Die Autobiografie von Johnny Cash“, 336 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag mit zahlreichen Abbildungen, Format 18,5 × 25 cm, Preis: 29,95 Euro, ISBN 978-3-8419-0143-9