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Für Freunde von an den Haaren herbeigezogenen Akronymen könnte man XS mit eXtreme Spannkraft übersetzen, während man gegenüber sachlicher orientierten Zeitgenossen von durchaus überdurchschnittlichen dynamischen Fähigkeiten des Amps sprechen müsste. Wie auch immer: Schnallt man den Naim Nait XS das erste Mal an und schenkt ihm Gehör, so ist die Reaktion keinesfalls „Ah. Schön. Musik. Was kommt heut‘ eigentlich im Fernsehen?“ Vielmehr ist es so, dass Naims mittelgroßer Vollverstärker ‘ne Ansage nach dem Motto: „Hey, hier spielt die Musik, und wenn’s Dir nicht gefällt, dann glotz‘ doch gleich TV! One, two, three, four …“ macht. Profilloses Mittelmaß tönt schon mal anders, das lässt sich schnell erkennen.
Ein Profilneurotiker hört sich aber auch anders an, denn zum einen zeigt sich der Naim Nait XS sehr unverzickt, was die Paarung mit verschiedenen Lautsprechern angeht – auch schwerere Lasten kann er befeuern und nach Mismatch klang es bei meinen Versuchen nie – zum anderen besitzt der Naim meiner Meinung nach eher eine Handschrift (eine mit Elan, Bestimmtheit und Tempo geführte Hand, um im Bild zu bleiben), denn einen exzentrischen Charakterzug.
Freilich sind trotzdem Hörer denkbar, denen das nicht zusagt. Legt man beispielsweise besonderen Wert auf eine holographische Lokalisationsschärfe und möchte man ganz, ganz tief in den Orchestergraben schauen, so kann man schon was vermissen. Er bildet weder 2-Dimensional noch verwackelt ab – nein, das nicht. Aber beispielsweise besitzt der kürzlich getestete Electrocompaniet Prelude PI-2 die einladendere Bühne und die tiefere Raumausleuchtung, doch halte ich dies auch für eine besondere Stärke des norwegischen Amps (man sollte zudem nicht vergessen: Der Prelude kostet 500 Euro mehr). In diesem Bereich ist der Naim-Amp eher im soliden Mittelfeld angesiedelt. By the way: Freunde eines sehr offenen, sehr aufgelösten Hochtons werden ebenfalls eher so mittel auf ihre Kosten kommen. Man vermisst nichts aktiv, doch im Vergleich können andere Amps bisweilen schon mehr Schimmer um hoch gespielte Violinen verbreiten und Becken einen Tick mehr Glanz verleihen. Wer’s braucht …
Alles andere als mittel sind aber das Tempo und die dynamischen Fähigkeiten des Nait XS – eben diese besondere Spannkraft, mit der er Musik präsentiert. Was mir hieran besonders gut gefällt ist, dass dieser Tempo-Eindruck eher vom Grundton herrührt (welcher ungemein drahtig und beweglich rüberkommt), als dass der Naim Nait XS durch eine (über)präsente oder helle Gangart Geschwindigkeit lediglich simulieren würde. Der Naim ist sehr agil, täuscht aber Schnelligkeit nicht vor, indem er die Attackphase eines Klanges betont und darüber Sustain und Decay vergisst. Tonal tendiert er für meine Begriffe eher zur wärmeren Seite. Aber man sollte sich davor hüten, nun an gängige „Warmer-Sound“-Klischees zu denken – der Nait XS ist der muskulös-sehnige, austrainierte Typ, nicht der satt-gemütliche. Und so soll’s sein (wenn’s nach mir geht).
Wenn sie vermuten, dass ich für – in Anführungszeichen: echtes – Tempo ein Faible besitze, dann liegen Sie goldrichtig. Das liegt daran, dass so meiner Meinung nach die (entscheidende) Illusion gelingt, nicht lediglich ein korrektes Abbild der Musik ins Wohnzimmer gestellt zu bekommen, sondern die Sache selbst, die Musik. Große Worte, die man schon tausend Mal gelesen hat – ich weiß. Doch dadurch wird es ja nicht falsch.
„Abbild“: Genau das Gefühl habe ich bisweilen, wenn ich vor einer Anlage sitze, die eigentlich in allen Parametern perfekt aufspielt, aber in Sachen Timing, Rhythmusgefühl und Dynamik etwas hinterherhinkt – ich schaue mir ein gestochen scharfes Foto an, mit perfekt ausgeführtem Weißabgleich, guten Kontrasten, 10 Millionen Pixeln Auflösung und allem Pipapo. Aber eben ein Bild. Kommen nun Timing und Dynamik hinzu, so geraten die Bilder in Bewegung, etwas, das nicht als neu hinzutretendes Qualitätsmerkmal des einzelnen Bildes wahrgenommen wird, sondern vielmehr als neues Medium, als Bilderfolge, als Film. Immer noch ein Abbild, sicherlich, aber ein bewegtes und als solches eben adäquater, um Bewegungen einzufangen, als man es mit Fotos je hinbekommen würde. Ganz seltsam tolerant und lässig wird da mancher Musikfreund, nur um den „Film ans Laufen zu kriegen“: Einwände anderer, dass da – bei aller Bewegtheit – doch fünfzehn Pixel hinten links an Auflösung fehlen, werden als „die üblichen HiFi-Kriterien“, auf die es nicht ankäme, abgebügelt. Stattdessen ist bei solchen Musikfreunden von Lebendigkeit, Bewegung und Fluss die Rede. Ich kann das ganz gut nachvollziehen, auch wenn es manchmal leicht poetisch-wischiwaschi rüberkommt.
Test: Naim Nait XS | Vollverstärker