Inhaltsverzeichnis
Der Autor dieser Zeilen plant für das nächste Jahr einen großen Umzug: hinaus aus der zunehmend anstrengender werdenden Großstadt – aufs Land, wo die Luft noch gut ist und die Schafe freundlich blöken! Mit großer Sorge allerdings betrachtet ebenjener Autor angesichts des bevorstehenden Ortswechsels und der damit verbundenen Kosten und Mühen seinen über die Jahre erheblich gewachsenen HiFi-Gerätepark, bestehend aus nicht weniger als sechs Lautsprecherpaaren, zwei Vollverstärkern, zwei Endstufen, drei Vorstufen, einem CD-Spieler, zwei DACs und einem Schallplattenspieler. Himmelherrgott, muss das alles eigentlich sein? Nun, nach eingehender Beschäftigung mit dem Hegel H90 (www.hegel.com) ist der Autor überzeugt: Einen Teil der obengenannten Elektronikkomponenten könnte man nach dem Erwerb ebenjenes Verstärkers gutgelaunt bei ebay einstellen. Doch der Reihe nach.
Dass man bei Hegel konzeptionell und klanglich einiges drauf hat, stellte bereits im Juli 2015 mein Kollege Michael Bruß fest – nicht umsonst erhielt der Hegel H160 einen fairaudio’s-favourite-Award. Mit großer Neugier stürzte ich mich also auf den H90, der auf der Hegel-Website ebenfalls bescheiden unter „Integrated Amplifier“ (also Vollverstärker) gelistet ist. Was für eine Untertreibung: Neben zwei Hochpegeleingängen verfügt der Hegel H90 nämlich auch über eine DAC-Sektion mit fünf Digitaleingängen (1 x Cinch, 3 x TosLink, 1 x USB-B) sowie einen RJ45-Netzwerkanschluss zum Streamen. Ein Variable-Out-Cinchdoppel gestattet überdies den Einsatz des H90 als Vorverstärker bzw. DAC. Umgekehrt geht’s auch – per Fernbedienung lässt sich bei den Analogeingängen die Lautstärkeregelung umgehen, der Hegel H90 spielt dann als reine Endstufe. Somit ist der H90 letztendlich nichts anderes als ein auftrennbarer Vollverstärker mit Streamer, DAC und Kopfhörerverstärker. Die Leistung wird mit 2 x 60 Watt an 8 Ohm angegeben, das klingt jetzt nicht überbordend – allerdings stimmt auch das wieder nicht so ganz. Warum? Das werden Sie später erfahren.
Zunächst noch ein paar Worte zum DAC und zur Streamingeinheit. Letztere ist in der Lage, übers Netz per UPnP und DLNA (für Android-Geräte z. B. über Bubble) zugespielte Daten zu rendern und abzuspielen, aber auch als Apple-AirPlay-Player zu fungieren, was ich ausgesprochen charmant finde: Einfach den Hegel H90 per Netzwerkkabel ins Heimnetzwerk integrieren – ohne weitere Treiberinstallation wird der H90 sofort von iTunes gefunden und als Abspielgerät angeboten. Gute Sache! Was die sonstige Hegel-Philosophie (Breitbandigkeit bis in den HF-Bereich, hoher Dämpfungsfaktor, geringstmögliche Verzerrungen) angeht, möchte ich ebenfalls auf die oben verlinkten Ausführungen von Michael Bruß verweisen, denn auch der Hegel H90 kommt mit der dort bereits beschriebenen SoundEngine, soll jedoch dank einer Überarbeitung jener Engine nun noch sauberer spielen.
Bei der D/A-Wandlung setzt Hegel auf Chips von Asahi Kasei Microdevices (AKM); welche Chips genau zum Einsatz kommen, verrät der Hersteller allerdings nicht. Nicht ganz alltäglich ist, dass der USB-Eingang eine geringere maximale Samplingrate aufweist als die S/PDIF-Eingänge: Per USB verarbeitet der Hegel H90 Material bis 96 kHz/24 Bit und die optischen wie koaxialen Digitaleingänge können mit bis zu 192 kHz/24 Bit beschickt werden.
Das Design des Hegel H90 ist schlicht, aber nicht langweilig. Ein dunkelgraues, gut elf Kilo (vornehmlich aufgrund des üppigen Ringkerntrafos) schweres Vollmetallgehäuse mit einer Front aus Plastik, die aber trotzdem alles andere als billig aussieht, sowie ein optisch symmetrischer Aufbau: mittig ein großes, gut abzulesendes und auf Wunsch dimmbares OLED-Display, links und rechts davon jeweils ein Drehregler – einer für Quellenwahl, einer für die Lautstärke. Na gut, ganz symmetrisch ist es doch nicht: Rechts unten finden wir noch einen Kopfhörerausgang.
Und nun nimmt der Hegel H90 im Rack Platz und der geneigte Zuhörer im Sessel. Was kann der Norweger klanglich?
Klangeindruck Hegel H90
Zugegeben, das passiert mir selten: Bereits wenige Minuten, nachdem ich den Hegel H90 angekabelt hatte, reifte in mir die Gewissheit, diesen Amp nach der Testzeit nicht zurückzugeben, sondern zu behalten. Irgendetwas machte dieser Verstärker nämlich so „ohrenfällig“ anders – und richtig – als so viele andere Vertreter seiner Zunft, dass er mich von Beginn an elektrisierte. So klar, so fein, so luftig, so unglaublich offen und transparent, aber auch so zupackend und dynamisch – was ist denn hier los?
Tonales
Beginnen wir mit dem, was leicht einzugrenzen ist, nämlich mit der Tonalität (zunächst wurde der Hegel H90 über die analogen Hochpegeleingänge gefüttert). Hier darf einmal das Klischee des linealglatten Frequenzgangs bemüht werden. Keinerlei Auffälligkeiten diesbezüglich: keine Oberbassbetonung, aber auch keine Verschlankung oder Verknappung im Basskeller. Ebenfalls keine Auffälligkeiten oder Betonungen im Mittenband – und im Hochtonbereich das gleiche Bild: Hier ist nichts gleißend oder crisp, aber auch nichts abgedunkelt oder abgesoftet. Ein echter „Flatliner“ also. Nun könnte man natürlich anführen, dass das Fehlen jedweder tonaler Betonungen ja prinzipiell das Postulat für jeden Baustein einer HiFi-Kette darstellt – man will ja normalerweise keine „Verfälschungen“. Nichtsdestotrotz gibt es Situationen, in denen ein Oberbasshöckerchen oder ein bisschen Extrafunkeln im Hochtonbereich Freude machen oder dem Amp zumindest einen eigenen Charakter verleihen können. Wer sich jedoch ein bisschen mehr – und länger – mit HiFi befasst, der weiß: Es gibt auch andere Wege zu überzeugen. Beim Hegel H90 ist dies die in dieser Preisklasse meiner Meinung nach geradezu einzigartig gute Feinauflösung.
Auflösung und Dynamik
Exemplarisch lässt sich das an dem Track „Eisenmann“ von Turbostaat (Album: Abalonia, auf Amazon anhören) zeigen: Hier wird nicht nur instrumentell, sondern auch in Sachen Dynamik eine große Bandbreite geboten – vom gutturalen Bass über zarte wie harte E-Gitarren bis zum großen, wuchtigen Schlagzeug. Das Stück beginnt mit drei Gitarrenspuren, die nacheinander einsetzen und einander umranken – die erste gibt mit einer punktierten Viertonphrase den Beat vor, die zweite schrammelt Sechzehntelnoten, die dritte spielt mit viel Hall versehene, gebrochene Akkorde. Obwohl es sich bei allen drei Gitarren um cleane bzw. nur minimal angezerrte E-Gitarren handelt, fächert der Hegel H90 diese drei unterschiedlichen Klänge optimal auf und webt daraus einerseits einen dichten Soundteppich, andererseits aber eben keinen Brei – vielmehr bleibt jede Gitarre für sich fein unterscheidbar. Das sorgt für Klangfülle und verleiht dem Song viel Weite.
Nach 18 Takten Intro kommt ein schleppendes Schlagzeug hinzu, dessen Becken bewusst etwas dunkler abgemischt wurden, trotzdem aber über den H90 ganz genau in ihrem gesamten Anschlag- und Rauschspektrum intoniert werden – anstatt nur „dahinzumulchen“. Und als dann endlich in Takt 22 ziemlich überraschend der erste „Gesangseinsatz“ kommt, der Sänger Jan Windmeier schreit das Wort „Eisenmann!“, schiebt sich dem Hörer eine Gänsehaut auf den Arm. Warum? Weil diese fast ins Kreischende lappende, sehr spezielle und charakteristische Stimme ein so brutales Obertonspektrum hat, dass es fast schon in den Ohren reißt (und nun wissen wir auch, warum die Schlagzeugbecken im Voicing „drunter“ gemischt wurden: Die Stimme soll hier die Top-Position haben!). Damit nicht genug, die Stimme setzt aufgrund des langen „Vorspiels“ sehr überraschend ein – wer den Track zum ersten Mal hört, wähnt sich bei einer Instrumentalnummer – und ebendieser Einsatz lässt den Zuhörer vor Schreck im Fauteuil zusammenzucken: So schnell und unmittelbar gibt der Hegel ihn wieder.
Der Track stolpert voran und Windmeier schreit weiter: „Spürst du dich noch selbst? Ist das Quietschen schon bedrohlich – oder was?“ Was der Hegel H90 hier wirklich phänomenal hinbekommt, ist, dass trotz des nun sehr dominanten Gesangs alle weiteren Instrumente und auch Melodielinien jederzeit glasklar vernehmlich und unterscheidbar bleiben. Zugleich erfreut, wie substanziell der Bass dargeboten wird und wie klar er sich von der Bassdrum absetzen kann, obwohl beide stets synchron erklingen. Der Tiefgang und auch der Druck, den der Hegel H90 erzeugen kann, sind beachtlich. Die Bassdrum schiebt sich fast sichtbar in den Raum – inklusive des ihr zugeteilten leichten Raumhalls – und der Bass kommt richtig schön tief, dabei aber klar umrissen und konturiert. Es sind genau diese schwer vereinbaren Qualitäten „breit und tief aufgefächertes Klanggeschehen“ und „Punch und Exaktheit“, die der Hegel H90 bestens unter die Haube bekommt. Wirklich stark.
Was dieser Verstärker ebenfalls richtig gut kann, sind Grob- und Feindynamik. Bleiben wir in deutschen Gefilden, und zwar bei dem stilistisch schwer zwischen Dada, Hip-Hop und Elektro schillernden Romano und seinem neuen Album Copyshop (auf Amazon anhören). Der Titeltrack wirkt beim ersten Hören wie eine stumpf-humorvolle Rap-Dance-Nummer, weist aber bei näherer Betrachtung viele produktionstechnische und klangliche Leckerbissen auf. Hier ist richtig was los: Schräge Synthesizer-Akkorde und -einzeltöne, mehrfach übereinanderliegende Vocals, massive synthetische Drums, hauptsächlich bestehend aus trockenen Bassdrums, Snares und diversen Percussiongeräuschen bilden die Basis der Strophen, während sich im Refrain die Dimensionen verschieben: So werden der Stimme, den Synthesizern und den Drumbeats hier immer wieder leise, aber lange Hallfahnen hinzugefügt, die Stereo-Basisbreite verändert sich – und das Gesamtbild bekommt durch brutale, lang stehende Subbässe eine völlig neue Färbung, während gleichzeitig am oberen Frequenzgangende wild-triolische Hi-Hat-Attacken herumflirren.
Der Hegel H90 löst dieses gesamte „Durcheinander“ mit einer stupenden Klarheit und Transparenz auf und „listet“ jede einzelne Klangquelle inklusive der ihnen zugeeigneten dynamischen Effekte exakt auf. Die Bassdrum und die dumpfen Percussiongeräusche in der Strophe: stumpf, kurz, schnell und pointiert. Die Subbässe im Refrain setzen blitzschnell ein, bleiben lange stehen und erzeugen im wahrsten Sinne des Wortes „Wind im Hörraum“, während aber gleichzeitig das messerscharfe Hi-Hat-Ticken ungebremst durchgereicht wird und die oben erwähnten Hallfahnen klar und deutlich bis zu ihrem allerletzten Verlöschen zu vernehmen sind. Auch das ist wirklich stark, weil es nicht nur über die dynamischen Qualitäten einiges sagt, sondern auch über die musikalische Gangart: Denn trotz aller Präzision der Darstellung hat man zu keiner Zeit das Gefühl, einer klinischen Studioproduktion beizuwohnen, sondern es rockt richtig, das Tanzbein zappelt ungeduldig.
Das bisher Gesagte über Tonalität, Auflösung und Dynamik gilt übrigens nicht nur für die analogen Eingänge, sondern auch für die digitale Zuspielung. Als Quelle diente mein C.E.C. CD5, den ich parallel per S/PDIF-Koaxialkabel, optischem Kabel und analog mit dem Hegel H90 verband. Hin- und herswitchen zwischen diesen drei Zuspielmöglichkeiten brachte diesbezüglich keine erwähnenswerten Klangunterschiede.
Raumdarstellung
Etwas anders sieht es hingegen bei der „Bühnengestaltung“ aus. Über den internen DAC des Hegel H90 spielt die Musik tendenziell ein Stück weiter vorne, die Bühne wird horizontal von den Positionen der Lautsprecher eingefasst und geht weit nach hinten, mit einer ausgezeichneten Ausleuchtung der Ränder auch an den „hinteren Ecken“. Will heißen, der Raumeindruck „nach hinten raus“ ist kein Oval, sondern gleicht wirklich einem rechteckigen Raum. Die virtuelle Mittenmanifestation von Mono-Signalen gelingt ausgezeichnet, Stimmen sind körper- und nicht geisterhaft eingepasst. Die genaue Abbildung – „wer steht wo“ abseits der Mitte – gehört indes nicht zu den Spezialgebieten dieses DAC, hier gibt es statt Präzision eher ein wenig „Effekt“, nämlich besagte, durchaus beeindruckende Tiefenwirkung.
Nochmal zurückgeschaltet zu den Analogeingängen: Diese zeigen deutlich auf, dass das Profil des im C.E.C. CD5 verbauten DAC hinsichtlich der Bühne ein anderes ist: Sie wird merklich breiter und etwas flacher dargestellt, allerdings sind die einzelnen Schallquellen hier nachgerade reißbrettartig klar und deutlich verortet. Interessanterweise konnte ich mich bei der Frage, was mir nun eigentlich besser gefällt, nicht so richtig entscheiden: Beides hatte etwas. Das Gute: Man muss sich nicht unbedingt entscheiden, wenn man Quellen wie den C.E.C. CD 5 hat, der einem beide Szenarien gestattet – und Analogeingänge wie beim Hegel, die sich auch den Feinheiten der Raumdarstellung gegenüber so durchlässig zeigen. Übrigens: Zuspielung per USB oder per Streamer förderte vergleichbare Ergebnisse hinsichtlich Tonalität, Dynamik und Bühnenbild zutage, daher gehe ich an dieser Stelle nicht mehr darauf ein.
Verstärkervergleiche
Wie sortiert sich der Hegel H90 in Bezug auf andere Vertreter der Zunft ein? Nun, ich finde schon, dass ihm eine Sonderstellung gebührt. Denn hinsichtlich der Hauptkriterien, mit denen man den Klang üblicherweise einkreist, spielt er bei analoger Zuspielung klar und deutlich eine bis zwei Preisklassen höher. Was die Tonalität und Feinauflösung sowie Grob- und Feindynamik angeht, kann er sich tatsächlich locker mit dem Abacus Ampollo (Preis 2.900 Euro als reine Endstufe), ja sogar dem Accustic Arts Power I MK4 (Preis: 6.490 Euro als Vollverstärker ohne DAC) messen. Das betrifft die „Glattheit“ des Frequenzgangs, die Feinauflösung aller Frequenzbänder sowie die Bruchlosigkeit der Übergänge, die Bassqualität hinsichtlich Tiefgang und Schub, aber auch die Antrittsschnelligkeit und den Umgang mit feindynamischen Spezereien.
Was die beiden anderen Verstärker besser können, ist, schiere Leistung bereitzustellen: Beide Amps sind in der Lage, ausnehmende große Hörräume mühelos zu beschallen, während der Hegel H90 bei mittleren bis „nicht allzu großen“ sein Leistungsspektrum absteckt. Das fällt bei kleinen Besetzungen oder auch Jazz nicht so sehr ins Gewicht, anders sieht es bei brachialer Rockmusik oder großem Orchester auf. Wenn in Gustav Mahlers Symphonie Nr. 3 im letzten langsamen Satz die furiose Coda ertönt, bei der das gesamte Orchester minutenlang immer wieder auf ein- und demselben Akkord beharrt, während die Pauken ohn‘ Unterlass um ihr Leben poltern, dann braucht es halt eine gewisse Mindestlautstärke, um dieses Orchestererlebnis in den heimischen Wänden wirklich so spürbar zu machen, wie es eine Livedarbietung täte. Wenn Ihr Hörraum mehr als 30 Quadratmeter groß ist, könnte das mit dem Hegel H90 etwas eng werden.
Allerdings muss gesagt werden, dass der H90 auch auf intelligente Weise „abgeregelt“ ist, selbst bei voll aufgerissener Lautstärke klingt er noch klar, transparent und nahezu verzerrungsfrei; man kann also den gesamten Lautstärkebereich tatsächlich sinnvoll ausnutzen, während die meisten anderen mir bekannten Amps im Grunde beim letzten Fünftel der Lautstärkestellmöglichkeit schon unbotmäßig komprimieren oder zerren, spätestens bei nahe an der Nulllinie gemasterten Tracks.
Was die Bühnenabbildung angeht, gefällt mir der Hegel sogar besser als der Abacus Ampollo, weil er tiefer ausleuchtet und einen Raum bildet, der trotz seiner Tiefe natürlich und effektvoll zu gleich wirkt. Der Accustic Arts Power I MK4 wiederum vermag die Akteure und Schallquellen merklich genauer und trennschärfer zu positionieren als der Hegel H90.
Natürlich „erkauft“ man sich mit einem transparent und analytisch aufspielenden Verstärker wie dem Hegel auch dann und wann den Effekt, dass die Schwächen schlechter Aufnahmen oder Produktionen „durchgereicht“ werden. Hier können tonal eher warm aufspielende Amps wie meine MS-3-Monoblöcke von Audreal etwas mehr „gnädigen Röhrenschmelz“ über das Gehörte streichen.
Test: Hegel H90 | Vollverstärker