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Wer kennt sie nicht, die Firma aus Erlangen, die seit Jahrzehnten einer der großen Player im Analogsektor ist? Nun, ich kenne sie schon, aber ob Sie es glauben oder nicht – das Charisma V2 (Preis: 1.640 Euro) ist das erste Clearaudio-Produkt (Web: https://clearaudio.de/), das ich in meinem langen Audioleben in den Fingern halte.
Clearaudio ist vor allem für außergewöhnliche MC-Systeme bekannt, doch hier geht‘s um den Top-MM-Abtaster der Erlanger Firma. Zu diesem Tonabnehmer finden sich in einem Interview mit den Suchy-Brüdern einige interessante Statements, die meine Erfahrungen mit ihm bestätigen. Robert Suchy meint dort unter anderem: „Das ist kein Glaubenskrieg! – Natürlich kann ein MM-Set-up im direkten Vergleich niemals mit einem MC-Set-up mithalten. Wir sprechen hier nach wie vor von zwei Klangwelten. Aber es gehört eben zur Idee von Clearaudio, auch die audiophilen Möglichkeiten der MM-Nutzer zu perfektionieren. Vorausgesetzt, dass sie bereit sind, entsprechend zu investieren.“
Als absolutes Statement in Sachen MM-Abtaster, wie man das bei Clearaudio formuliert, sehe ich das Charisma V2 nicht, denn da muss man vor allem die japanischen TOP-WING-Systeme nennen, deren Gene von den legendären Grace-MMs der 70er und 80er Jahre stammen. Das große TOP WING Suzaku kostet allerdings auch fast zehnmal (!) so viel wie das fränkische Edel-MM.
Technik und Historie
Wenn schon nicht hundertprozentig belegt ist, dass Elac der Erfinder der MM-, ausgeschrieben Moving-Magnet-Tonabnehmer ist, so sind die Kieler doch ein absoluter Vorreiter dieser Technologie mit ihren bewegten Magneten. Sprich, die Technik hat deutsche Gene, wobei sich seit den 50er Jahren natürlich eine Menge getan hat. Clearaudio weist darauf hin, dass das Charisma V2 zur recht seltenen Gattung der MM-Systeme mit Bor-Nadelträgern gehört. Borstäbchen nutzen viele MCs gerne, da das Material sehr steif und leicht ist. Auch beim Ortofon-MM 2M Black LVB kommt dieses Material zum Einsatz und aus der Historie fällt mir spontan noch das feine Nagaoka MP-11 Boron ein, bei dem es sich ebenso verhält.
Der größte Vorteil von MM-Tonabnehmern ist ihre hohe Ausgangsspannung, mit der sie direkt an MM-Phonostufen ohne zusätzliche Verstärkung durch Übertrager oder aktive Vorvorverstärker betrieben werden können. Das erkaufen sie sich mit einer höheren bewegten Masse, da der Magnet nun mal mehr wiegt als die meist windungsarmen Spulen von MC-Systemen. Das Clearaudio Charisma V2 spuckt gesunde 3,6 mV aus und qualifiziert sich durch seine Nadelnachgiebigkeit von 17 µm für viele mittelschwere Tonarme, an denen auch typische MCs sehr gut funktionieren. Ein weiterer Bonus von MMs ist der kostengünstige Ersatz des austauschbaren Nadeleinschubs, typischerweise reden wir da von wenigen Hundert Euro. Da das Charisma V2 klanglich aber bei den MCs mitspielen will, operiert Clearaudio auch hier anders und bietet einzig an, dass Nadelträger und Nadel nur im Werk inklusive großem Check für 1.090 Euro getauscht werden können. Ortofon agiert bei seinem neuen Top-MM 2M Black LVB ähnlich.
Nicht von der Stange
Zurück zum Clearaudio Charisma V2. Sein mit Diamantstaub beschichteter Bor-Nadelträger inklusive des doppelt polierten Diamanten mit Clearaudio-Prime-Line-Schliff kommt tatsächlich direkt vom mehr als 13.000 Euro teuren Goldfinger Statement – das nenne ich mal einen fetten Werttransfer. Der Diamant wird im Borröhrchen verpresst und nur sicherheitshalber mit ein wenig Kleber fixiert. Die starken Magnete sind Teil des gut einjährigen Entwicklungsprozesses und werden laut Clearaudio zu hundert Prozent gepaart. Ebenholz als Korpusmaterial ist bei den Erlangern nicht neu, neu ist aber die Einlage aus Neusilber, einer dichten und resonanzarmen Legierung aus Kupfer, Nickel und Zink, die den Kontakt zur Headshell sichert.
Die optimale Kombination der beiden Materialien sowie ihre genauen Masseverhältnisse wurden in langen Hör-Versuchsreihen ermittelt. Das Ebenholz wird übrigens von einem regionalen, alt eingesessenen Handwerksbetrieb verarbeitet. Eigentlich nicht erwähnenswert, aber löblich, da immer noch nicht Standard, sind sowohl die Gewindebohrungen wie auch der über seitliche Nuten sicher anzubringende Nadelschutz.
Clearaudio Charisma V2: Klangtest und Vergleiche
Ob es am massiven Ebenholzkorpus liegt? Jedenfalls empfängt mich das Clearaudio Charisma V2 direkt mit seinem sonoren Grundton. Dieses System liegt vom Grundcharakter auf der wärmeren, dunkleren Seite und hat einen vollmundigen Bass. Im Vergleich zu meinem praktisch gleich teuren Lyra Delos zeigt sich der Unterschied der MM- und MC-Klangwelten, die Robert Suchy angesprochen hat, besonders deutlich. Das Clearaudio versucht und schafft die Integration von Kopf und Bauch und wird viele Hörer mit seinem ausgewogen-sonoren Klang ansprechen.
Zu Hause im Club
Schon aus dem Stand, sprich völlig uneingespielt, begeistert mich die wunderbare Einspielung von Charlie Haden und Hampton Hawes (Album: As long as there’s music) mit einem integrierten, homogenen Klang und hoher Abtastruhe. Ich würde niemals als erste Platte irgendeine „Testplatte“ auflegen – ich habe sowieso keine. Nein, mein Test ist Musik, die ich kenne, liebe, die mir vertraut ist und die Emotionen in mir freisetzt.
Mit dem Clearaudio Charisma V2 bekomme ich ein „Zu-Hause-Gefühl“, ein direktes Ankommen, ich kann mich fallen lassen. Neben der für das System typischen Grundtonwärme scheint mir der Bass ein wenig runder auszufallen und nicht so tief zu reichen wie der des Lyra Delos, das in dieser Hinsicht aber auch fast schon rücksichtslos ist. Donald Byrd (Album: Fuego) spielt seine Trompete mit dem Clearaudio Charisma V2 etwas zurückhaltender als mit dem Lyra, aber mit großer tonaler Schönheit und räumlicher Intimität, die es dem Hörer leicht macht, diese Art der Wiedergabe ganz zu umarmen. Der Raum wirkt etwas kleiner, wie ein intimer Club, in dem die Musiker näher beieinandersitzen.
Klavierklänge bildet das Clearaudio sehr lebendig, rund und involvierend ab. So bin ich auf Red Garlands früher Prestige-Aufnahme (Album: Can’t see for looking) auch von der Feindynamik angetan, mit der Art Taylors Besen über die Trommeln sausen, während er zackig seine Bassdrum einsetzt.
Organische Dynamik
Kraftwerk (Album: Computerwelt; auf Amazon) blubbert geschmeidig in meinen Hörraum, und wenn mir dabei etwas auffällt, dann das die Synthie-Schläge auf „Heimcomputer“ schon noch trockener definiert klingen könnten. Doch verstehen Sie mich nicht falsch, wirklich „hart“ klingt Kraftwerk nie, alle Beats zeichnen sich durch eine gewisse organische Weichheit aus, die die Band ja gerade zu so einer musikalisch-zeitlosen Größe haben werden lassen. Aber innerhalb dieser Weichheit gibt es Abstufungen, und hier zeigt sich das Clearaudio eher organisch-rund als furztrocken-kantig. Ein van den Hul Frog (circa 2.100 Euro) spielt da etwas giftiger, ein Audio Technica ART-9 (circa 1.100 Euro) analytischer und tonal weniger „schön“. Wie bereits erwähnt, ist die Abstimmung des Clearaudio Charisma V2 die eines „Crowd-Pleasers“, ich kann mir kaum vorstellen, dass es Hörer gibt, denen es gar nicht gefällt.
Stimmige Stimmung und angenehme Auflösung
Bob Dylans „Shine your light“ (Album: Slow Train coming) zeigt erneut die tonal etwas dunklere Abstimmung des Clearaudio Charisma V2. Das Titelstück „Slow Train coming“ erinnert mich an Dire Straits „Once upon a time in the west“, vielleicht das Highlight auf ihrer zweiten LP Communique. Mark Knopflers Solo perlt wunderbar aus den Lautsprechern und klingt lebendig, organisch und involvierend. Den lässigen Groove der Band vermittelt mir das System perfekt.
„Help me” von Joni Mitchell (Album: Court and Spark, auf Amazon) ist immer wieder eine Herausforderung für einen Tonabnehmer, denn Stimmen abzubilden, speziell, wenn es eine wie die von Mitchell ist, gehört zu den Königsdisziplinen. Glasklar und stufenlos bis fast in ihre höchsten Höhen ausgedehnt besteht das Clearaudio Charisma V2 diese Herausforderung und integriert die lässigen Bläserarrangements perfekt. Auch bei Jazzrock von Miles Davis (Album: Agharta) verliert das Clearaudio Charisma V2 nicht den Überblick in Sachen Auflösung, auch wenn die große Band nicht so selbstverständlich in den virtuellen Raum gestellt wird wie mit dem Lyra Delos. Aber auch daraus entsteht ein Vorteil, denn wie bei einem guten Breitbänder lenkt hier nichts von der Musik ab und macht sie so besonders gut verständlich.
Testfazit: Clearaudio Charisma V2
Ob das Clearaudio Charisma V2 das beste MM-System auf dem Markt ist, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Mit Sicherheit ist es ein fantastischer Allrounder, der auf dem MM-Markt wenig Konkurrenz hat. In seiner Preisklasse trifft es eher auf Gegenspieler aus dem MC-Lager – und kann sich dort gut behaupten.
Ja, das Clearaudio gibt sich an den Frequenzgangenden gegenüber den besten MCs minimal zurückgenommen, doch das merkt man nur im direkten Vergleich. Für sich genommen klingt es sehr ausgewogen und einfach „schön“ dank der wärmeren Tonalität, die sich aus fast fleischig wirkenden Mitten speist. Dynamisch lässt es nichts anbrennen, transportiert einen in intime Hörräume und löst dank seines Bor-Nadelträgers und des Diamanten mit Prime-Line-Schliff ausgezeichnet auf. Letztlich macht es einem das Clearaudio Charisma V2 sehr leicht, es zu mögen und der Musik zu folgen. Und das ist es doch, was zählt.
Fakten:
- Modell: Clearaudio Charisma V2
- Konzept: MM-Tonabnehmer
- Preis: 1.640 Euro
- Gewicht: 9 g
- Empfohlene Auflagekraft: circa 2,4 g
- Ausgangsspannung: 3,6 mV (5 cm/s)
- Empfohlener Abschlusswiderstand: 47 kOhm
- Sonstiges: Bor-Nadelträger; Nadelschliff Clearaudio Prime Line, doppelt poliert; Ebenholz-Korpus
- Garantie: 2 Jahre
Weitere technische Daten zum Clearaudio Charisma V2 auf der Herstellerseite.
Hersteller & Vertrieb:
Clearaudio electronic GmbH
Spardorferstraße 150 | 91054 Erlangen
Telefon: +49(0)9131-40300100
E-Mail: info@clearaudio.de
Web: https://clearaudio.de/
Test: Clearaudio Charisma V2 | Tonabnehmer