Warren Haynes – Million Voices Whisper
Kleiner Blick zurück: Im Herbst letzten Jahres ist ein Album mit so viel Strahlkraft erschienen, dass es bis in unsere frühen Frühjahrstage leuchtet. Die Rede ist von Million Voices Whisper von Warren Haynes. Der Kopf von Gov’t Mule, von seiner Zunft als einer der größten Gitarristen der Gegenwart geadelt, hat schon fast eine Dekade seit seinem letzten Soloalbum verstreichen lassen. Doch was heißt bei einem unermüdlich tourenden Musiker wie ihm schon „verstreichen“? Er war und ist mit seiner Hauptband Gov’t Mule, solo oder zusammen mit anderen Bands und Musikern ständig auf den Bühnen der Welt, wenn er nicht zwischendurch mit Charity-Konzerten Gutes unterstützt.
Auf den Soloalben hat sich Haynes die Gelegenheit verschafft, seine Liebe zu Soul, R&B und Funk stärker auszuleben als früher mit den noch deutlich straighter rockenden Gov’t Mule; spätestens mit Shout (2003) sind auch dort vermehrt soulige und funkige Töne eingemischt. Zwei Welten sind es also nicht mehr, zumal mit dem versierten und jamverspielten Bassisten Kevin Scott auf der aktuellen Soloplatte jener Bartträger vertreten ist, der bei Gov’t Mule mittlerweile fest am Viersaiter engagiert ist.
Million Voices Whisper steht nicht nur musikalisch auf dem Nährboden der Southernrock-Legenden Allman Brothers Band (ABB) – zu deren Lineup Haynes in ihrer Spätphase gehörte. Gewidmet ist die Platte der Slide-Ikone der ABB, Dickey Betts. Und auch Derek Trucks, der seinerzeit noch als Jungspund gemeinsam mit Haynes zur ABB stieß, ist hier bei einigen Songs mit von der Partie und liefert sich mit dem Herrn im Ring virtuose Dialoge zum Zungenschnalzen – keine Duelle.
Der Titel der großartig transparent und detailscharf aufgenommenen Platte ist eine Textzeile aus einem der herausragenden Songs – „Day of Reckoning“. Bei diesem fulminanten Song mit gospelhafter Inbrunst sind Lukas Nelson und Jamey Johnson mit von der Partie; sie betonen die raue, unbehauene, eindringliche Note dieser Nummer. Gipfel sind auf diesem über 60-minütigen Album schwer zu erkennen – Million Voices Whisper ist ein einziges Bergmassiv mit lauter Zweitausendern. Man findet darauf keine Talfahrt.
Schon der Einstieg mit „These Changes“ gelingt grandios. Zwischen Zweier- und Dreiermetrum beschwingt pendelnd, hat der Song einen unwiderstehlichen Groove, unterstützt von saftigen Bläsern. Trotz des intensiven Schlagabtauschs mit Derek Trucks atmet der Song eine lockere Entspanntheit, die zum Zurücklehnen und Augenschließen einlädt. Und dennoch gibt es immer wieder Interessantes, das auf- und hinhorchen lässt, etwa wenn Haynes deutlich früher als erwartet schon in einen himmlisch schönen Chorus einbiegt.
„Go Down Swinging“ erzählt lässig schlendernd und mit einem detailfein gewebten Arrangement von wiederaufflammender Liebe. Überhaupt die Liebe: Sie ist das Herzensthema des Albums und strahlt – auch mit ihren schmerzlichen Seiten oder dem Erschrecken über deren überwältigenden Gefühle in „Terrified“ – durch das ganze Album. Das Thema findet in „Day of Reckoning“ in der Textzeile „All come together as one“ zusammen – ein Weckruf der Mitmenschlichkeit in unseren Zeiten, in denen das Recht des Stärkeren wieder zur Leitschnur zu werden droht. Kein Wunder, dass Haynes die Texte mit seiner leicht angerauten Stimme intensiv auflädt.
Mit am Start hat Haynes neben herzerwärmenden Soulballaden wie „Real Real Love“ geradezu tanzbare Grooves von Songs wie „This Life As We Know It“, die von der tollen Band mit warmen Tastentönen von John Medeski und dem filigranen Drumming von Terence Higgings zelebriert werden. Und auch das Einflechten eigener oder fremder Songs, die man von den jamlastigen Konzerten von Gov’t Mule kennt, ist hier im bissigen Funk von „Lies, Lies, Lies > Monkey Dance > Lies, Lies, Lies“ im Studio realisiert. Im Schlusssong „Hall of Future Saints“ beschwört Haynes all die Heroen aus Blues, Soul, Jazz und Southernrock herauf, die ihn geprägt haben. Doch ein so herausragender Songwriter, Sänger und Gitarrist wird man nicht durch epigonale Nachahmung, sondern indem all das Vorangehende hineinschmilzt in eigene musikalische Größe, in Können, Virtuosität und Kreativität. Dass Warren Haynes von all dem im Übermaß hat, zeigt dieses von Anfang bis Ende bärenstärke Album. Ein Ausnahmewerk.
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Nik Bärtsch‘s RONIN – SPIN
Zen-Funk – das war über mehrere Jahre die Schublade, die man für die Musik des Quartetts RONIN um den Schweizer Pianisten Nik Bärtsch gefunden hat. Das Quartett selbst charakterisiert seine hochcharakteristische Musik als „Ritual Groove Music“. Die rein instrumentalen Nummern leben von der rhythmisch hochkomplexen Schichtung ungerader Takte, Motivgruppen, Metren. Die oft spiralförmigen Formanlagen lassen nicht nur ungemeinen Drive zu, sondern entfalten auch große Spannungsbögen mit eruptiven Entladungen. Bärtsch bezeichnet diese rhythmisch-harmonischen Strukturen, durch Wiederholung und Anverwandlung der Minimal Music verwandt, als „Module“ und nummeriert sie einfach durch.
Seit 2001 besteht die Band um den Pianisten Nik Bärtsch, doch mit dem Neuzugang Jeremias Keller am Bass hat sie nochmals neuen und frischen Wind bekommen. Das hört man sogleich in „Modul 66“, dem Eingangsstück der neuen Platte SPIN, das der Pianist und spiritus rector der Band mit Kellers besonderem Bassspiel im Hinterkopf ersonnen hat. Die zen-funkig verschobenen Wiederholungsmuster, die man von RONIN kennt, tragen in dem neuen Stück nach oben strebende harmonische Rückungen, die in der Schlussklimax wie in einem Sternenregen des tremolierenden Klaviers kulminieren. Wie von Nik Bärtsch gewohnt, pulsiert das Stück durch komplizierte rhythmische Überlagerungen, die eine hypnotisierende Sogwirkung entfalten. Die Töne, die Sha (hier am Altsaxofon) beisteuert, wirken wie ein Nebelhorn in einer Klanglandschaft, die ihre Energie aus der tektonischen Verschiebung rhythmischer Muster gewinnt. Mittendrin scheint es, man sei in einem neuen Stück angekommen, denn mit einem Mal ändert sich die Gangart und die Musik gewinnt deutlich mehr Zugkraft nach vorn. Der knackig tönende Bass von Jeremias Keller hat neben Drummer und Gründungsmitglied Kaspar Rast hier wesentliche Anteile.
Das ebenfalls neue entstandene „Modul 63“, leise in Gang gesetzt vom Becken und ebenfalls in Bogenform angelegt, entwickelt gleichermaßen eine bezwingende Wirkung, doch auf ganz andere Weise. Nach einem geheimnisvoll düsteren, durch seine Offenheit Erwartung schürenden Pendelmotiv im Klavier lässt der stetige Anlauf von Sha, mit Bläsermotiven dem unbeirrbar fortschreitenden Groove von Klavier, Bass und Schlagzeug Richtung und Ziel zu geben, an einen atemlos ackernden Sisyphus denken, der unendlich viele Anläufe nimmt, um zum Ziel zu gelangen. Und auch hier stellt sich eine geradezu hypnotisierende Wirkung ein, wenn nach den vertrackten rhythmischen Überlagerungen die Bläsermotive des Anfangs nach dem Mittelteil wieder durchscheinen und in gewohntes Terrain mitnehmen.
Nach „Modul 70_51“, in dem Nik Bärtsch mit gestoppten Tönen die perkussiven Qualitäten des Klaviers akzentuiert und warme Bläsertöne sich wie mit feinem Legato schwebend auf die intrikat verzahnten rhythmischen Schichten der anderen Instrumente legen, zeigen neue Lesarten der beiden älteren Stücke „Modul 23“ und „Modul 14“, wie sich Nik Bärtsch’s RONIN entwickelt und verändert hat. Jeremias Keller spielt den Bass mitunter wie eine Gitarre und lässt angeschlagene Akkorde klingen. Dieser profunde, zupackende Sound ist die Grundlage für kammermusikalische Feinarbeit und Dichte, die das Quartett musikalisch ausbreitet. Manchmal ergibt die rhythmische Schichtung von Disparatem den Eindruck einer Schluckauf-Folge unregelmäßiger Betonungen („Modul 63“), um später wie von Zauberhand quasi einzurasten und ineinanderzugreifen.
Nik Bärtsch’s RONIN klingt auf SPIN fülliger, voluminöser, feiner ausgearbeitet in Klangfarben und Anschlagsqualitäten als auf seinen frühen Alben. Auch elektronische Elemente fließen wieder stärker in die Klangwelt, etwa in „Modul 23“. Im Gegensatz zum klanglich etwas ätherischen ECM-Kosmos, der lange Jahre die Heimat der Band war, ist diese im Eigenlabel entstandene Produktion griffiger, zupackender, in der dynamischen Detailabbildung exzellent und auch in der Räumlichkeit bestens gelungen. Die Vinylfassung ist ein Ohrenschmaus, zumal auch der bollernde Bass von Jeremias Keller, der gerne das Griffbrett rauf und runter jagt, schön präsent eingebunden erscheint. Mit SPIN hat Nik Bärtsch’s RONIN wirklich eine neue Wendung genommen und buchstäblich den Dreh für hochintensive, wache Grooves raus.
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Mathias Eick – Lullaby
Warm im Ton, samtig und rund. Mit seinen besonderen Klangqualitäten drückt der norwegische Trompeter Mathias Eick nicht nur seinen Veröffentlichungen als Leader den Stempel auf, sondern prägt auch die Klangwelten, in die er als Gast eintaucht. Die zwei letzten ECM-Releases unter eigenem Namen erschufen melancholische Klangwelten im Grenzbereich zwischen Jazz und Folk (bzw. wie althergekommene Volksweisen wirkenden Melodien) mit größeren Ensembles, bei denen jedes Instrument die innig empfundenen weichen Melodielinien mit- und forttrug. Die Neuerscheinung Lullaby zeichnet statt großer, weiter Klanglandschaften nun mit neuer Quartettbesetzung eher filigrane Linien, die sich mitunter wie einem lebhaften Dialog durchkreuzen. Der musikalische Austausch ist zuweilen quirlig und reich bewegt, auch wenn Eick weiterhin weitgespannte Melodien auf der Trompete zu singen versteht.
Am deutlichsten greifbar wird die neue Qualität von Eicks neugefundenem Stil am Spiel des Drummers Hans Hulbækmo, der mit feinnervigen Beckenschlägen und unregelmäßig gesetzten Akzenten ins kammermusikalische Geflecht aus dem Hintergrund heraus wichtige Impulse setzt, wenn sich im Zusammenspiel der anderen Räume öffnen. Das gelingt großartig, auch wenn Hulbækmo in der Ensemblebalance etwas leise wirkt. Als Gegengewicht zu seinen weiterhin eher versonnenen, wenn auch nicht so folkig-eingängig daherkommenden melodischen Linien hat sich Mathias Eick den Pianisten Kristjan Randalu ins Quartett geholt. Randalu sucht in seinen improvisatorischen Soloausflügen die unerwarteten Wendungen, bricht harmonische Klarheit auf, setzt in diesem intensiven kammermusikalischen Jazz farbkräftige Kontrapunkte in der musikalischen Textur.
Der Eingangstitel „September“ schaut noch ein wenig zurück auf Eicks frühere Alben, doch schon „Lullaby“ bringt mit einer Mischung aus dunklem Chanson und Choralwendungen eine neue Färbung, die dann in „Partisan“ in geradezu französisch abgetönte Klangräume führt. Das klingt sonnig und bewegt. Im Mittelteil erhalten in Eicks Klangwelt sogar Vokalisen Einzug, die durch ihre Unbestimmtheit, ob sie einer männlichen oder weiblichen Stimme entspringen, die harmonische Offenheit dieser völlig schwerelos schwebenden Passage unterstreichen. Die vokale Melodie löst sich auch metrisch aus jedem Korsett und schraubt sich mit leicht exotischem Kolorit ätherisch nach oben. Ähnlich geheimnisvoll geht es auch in „Free“ zu, in dem auch den instrumentalen Klangfarben etwas Uneigentliches eignet: Das Klavier klingt mit gestoppten Noten eher wie ein Bass, der Bass raunt mit Flageolett-Tönen – und auch hier klingen wieder die Vokalisen an, die selbst dann ihre im Titel anklingende Freiheit bewahren, wenn der Bass mit einem rhythmisch peppigen Motiv für Fasslichkeit sorgt.
Über all den harmonisch offenen, pulsierenden Ensembleinteraktionen zieht Mathias Eick mit butterweichem, dunkel getöntem Trompetenton seine Bahnen, keinesfalls unbeteiligt, aber wie ein Moment der Ruhe und Beständigkeit in einem reich bewegten musikalischen Geschehen. Lullaby zeigt Mathias Eick als Komponist und im Quartett-Zusammenspiel von einer neuen Seite, die noch einiges an Entwicklungspotential und viele Facetten hat.
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