Er gilt als „einer der besten Altsaxophonisten hierzulande“ – und einer der umtriebigsten. So spielte der 1982 geborene ECHO-Jazz-Preisträger schon 2009 auf dem Moers Festival und kam, noch nicht einmal dreißigjährig, 2011 beim BMW Welt Jazz Award mit seinen Lotus Eaters auf den zweiten Platz. Auf deren nach der gleichnamigen Ballade von Billy Strayhorn benannten Debüt For Very Sad and Very Tired Lotus Eaters ist unter anderem Lisa-Bassenge-Ehemann Andreas Lang zu hören, der fairaudio-Lesern erst kürzlich als Bassist des Richard Koch Quartetts über den Weg bzw. durch die Gehörgänge gelaufen ist.
Auf dem Lotus-Eaters-Zweitling Salvation ist Lang nur noch bei einem Stück dabei, sind hier doch drei unterschiedliche Sextett-Besetzungen zu hören – geschuldet dem Umstand, dass Slavin an seinem Bandpersonal genauso unermüdlich feilt wie an seinen Arrangements, um seinem imaginierten Idealklang so nahe wie möglich zu kommen. Nach vielfältigem Personalwechsel schon im Vorfeld rekrutieren sich die Musiker des neuen Albums neben Wanja Slavin am Altsaxophon und an den Synthesizern aus Erik Kimestad Pedersen und Tom Arthurs an der Trompete, Philipp Gropper am Tenorsaxophon, Rainer Böhm an Piano und Rhodes, Petter Eldh, Andreas Lang und Bernhard Meyer am Bass sowie James Maddren, Tobias Backhus und Nasheet Waits am Schlagwerk.
Doch egal, in welcher Formation sie gerade zusammenspielen: Ganz so traurig und müde sind die Lotophagen heute nicht mehr. Dass sie es deutlich optimistischer angehen lassen auf dem Debüt, könnte eventuell daran liegen, dass die – im Nachhinein wieder verworfenen – ersten Aufnahmen für Salvation in der sonnigen Toskana entstanden sind. Wahrscheinlicher aber daran, dass Slavin an jedes neue Album mit einer ganz klaren Vorstellung von dessen Stimmung herangeht. Und die stand diesmal ganz im Zeichen der Lebensfreude, die der Komponist und Bandleader nach einer sich seinem Berlin-Umzug von 2004 anschließenden, langen Phase der Melancholie, wenn nicht gar Depression, wiedergefunden hat.
Steht der titelgebende Opener noch für sich allein, folgen ihm zwei jeweils 3-sätzige Suiten. Diese formale Dreiteiligkeit wird musikalisch vor allem durch die unterschiedlichen Rhythmusgruppen manifestiert. Besonders heraus sticht dabei das eröffnende und, soviel sei schon verraten, auch schönste Stück „Salvation“. Geschrieben hat es Slavin schon 2009 für seinen Auftritt mit der Sängerin Ibadet Ramadani auf dem Moers Festival – kein Wunder, dass es noch am ehesten in vergangener Melancholie verwurzelt ist. Der Saxophonist kreiert hier auf der Basis von ruhigem Modern Jazz eine schläfrige und gleichzeitig hellwache Stimmung, der sich der ein oder andere Misston beimischt, damit es nicht allzu wohlfühlig wird; er erschafft ein mitternächtliches Traumland aus Klängen, in denen man verschwinden möchte, mit denen man, die Grenze zwischen Innen und Außen auflösend, eins sein will.
Betont akzentuierter geht es auf „W.S.I“ zu, wozu sicherlich der Verzicht auf den klassischen Kontrabass beiträgt, der hier von seinem von Lea W. Frey-Bassist Bernhard Meyer gerührten, elektronischen Pendant abgelöst wird, was dem Ganzen einen Schub in Richtung Retro-Avantgarde gibt. Müsste man ein Genre finden, wäre „Space Ambient mit Jazzrock-Basis“ nicht allzu unpassend – piepsen die Saxophone hier doch wie der wildgewordene Bordcomputer eines Science-Fiction-Raumschiffs, während Slavin höchstselbst in den Synthesizer greift, alldieweil Böhms Rhodes jenes Wohlgefühl liefern, welches das Bild eines liebevoll restaurierten Sendesaal-Studios mit viel hölzernem Retro-Appeal evoziert.
„Melancholia I“ dagegen nimmt das träumerische Gefühl von „Salvation“ wieder auf, doch auch hier mischen sich ins sehnende Weh allerlei ungute Untertöne. Das ist nicht einfach nur klanggewordene Melancholie – vielmehr lauert da schon die Depression im Untergrund, signalisiert durch übergroße Intervalle, den einen oder anderen Tritonus und was die Tonkunst an Verstörendem mehr bietet, worauf die ohnehin aufgewühlte Seele mit purer Rastlosigkeit antwortet. Der Zustand an sich ist nicht schön – wie Slavin ihn in Musik übersetzt, schon. Mit dem letzten Teil der ersten Suite, dem durch Piano und einem tiefergelegten Woof dominierten „Melancholia II“, findet der Getriebene dann doch noch seine Ruh‘ – zumindest so lange, bis auch hier eine Tonschräglage verkündet, dass noch längst nicht alles ausgestanden ist. Im Gegenteil: Es wird f-Moll der Vier Jahreszeiten, wenn nicht gar der Seele. Erst das zunehmend repetitiver werdende Motiv gen Ende deutet an, dass auch hier der ewige Kreislauf der Jahreszeiten zum Tragen kommt und auf den Winter zwangsläufig der Frühling folgt.
Suite 2 eröffnet mit „W.S.II“, auf dem sich Lucia Cadotsch-Bassist Petter Eldh als Co-Arrangeur betätigt hat. Vielleicht ein Grund, warum das Stück so groovebetont ist, derweil die Bläser ein enervierendes Motiv wie ein flutschiges Seifenstück hin- und herwerfen. Wie spacig es auch beept und bulpt – so ganz können die Lotuseaters nicht verleugnen, dass sie zwar nicht mehr very, aber schon noch ein bisschen sad & tired sind, wobei wir es hier eher mit einer gut abgehangenen Müdigkeit im Sinne einer sich mit zunehmendem Alter ganz von selbst einstellenden Unduldsamkeit zu tun haben, die einfach nicht mehr jeden Scheiß mitmachen will. Zum Schluss hin werden sie dann noch einmal so richtig wach, denn auch die bestabgehangenste Altersunduldsamkeit weiß, wo der Scheiß aufhört und der Ernst beginnt. Etwa beim Titel „Moonlight Becomes You“, wo man eine Ballade erwartet, die Slavin mit seiner Jimmy Van Heusern-Interpretation dann auch liefert. Weitestmöglich entfernt von jeglichem Smooth-Jazz-Verdacht könnte sie Vorbereitung für den das Album abschließenden „Lovesong“ sein, wo alle Misstöne endgültig zum Schweigen gebracht werden – doch Erwartungen zu erfüllen ist der Lotophagen Sache nicht. Temporeich und nicht wirklich eingängig gelingt ihnen hier eine Art rotzige Berliner Liebeserklärung, der ein „Da kann man nich‘ meckern!“ schon das Höchste der Komplimente ist. Ebensolche hat sich Salvation durchaus auch verdient.
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