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Es gibt eine ungute Mechanik im Rezensionswesen, die Produktionen der klassischen Musik in besonderem Maße betrifft: Einige Medien mit großer Reichweite publizieren euphorische Kritiken zu Neuveröffentlichungen, die so wirkmächtig sind, dass kaum jemand mehr die Traute hat, etwas anderes zu schreiben als Lobeshymnen auf das in Rede stehende Werk.

Eine etwas chaotische Verbeugung vor der Musik Nordamerikas

Daniil Trifonov - My American Story „North“

Gut studieren lässt sich diese Konformitätsverzerrung am neuen Album des russischen Pianisten Daniil Trifonov, das er gemeinsam mit dem Philadelphia Orchestra unter der Leitung des kanadischen Dirigenten Yannick Nézet-Séguin aufgenommen hat. Die Besprechungen dieser Einspielung sind durchweg ausgesprochen positiv. Dabei gibt es durchaus Anlass, etwas skeptischer hinter die Kulissen zu blicken.

Da ist zunächst der inzwischen zu einiger Prominenz gelangte Maestro Nézet-Séguin, dem es gelungen ist, mit den bis dato eher zweitrangigen Philharmonikern aus Rotterdam einige sehr beachtliche Aufführungen und Produktionen zu bewerkstelligen. Und wer eine Mannschaft aus der zweiten Liga in die Königsklasse bringt, hat bewiesen, dass er das Zeug zu mehr hat. Nézet-Séguin kann sich die Engagements seither aussuchen; seit 2012 ist er Musikdirektor des Orchesters in Philadelphia. So weit, so gut und verdient.

Dabei sollte aber nicht übersehen werden, dass die schon recht umfangreiche Diskografie des Kanadiers einige Lackschäden hat, an erster Stelle den völlig misslungenen Beethoven-Zyklus. Es scheint, der Dirigent schicke sich an, in die Fußstapfen von Seiji Ozawa zu treten. Der hat eine Vielzahl höchst gelungener Produktionen zu verantworten, aber auch jede Menge Mittelmäßiges. Nézet-Séguin im Line-up ist also kein Garant für musikalische Selbstläufer. Dazu später mehr.

Nach eigenem Bekunden will Trifonov mit dieser Einspielung seiner Wahlheimat, den Vereinigten Staaten, eine musikalische Reverenz erweisen. Das scheint aktuell in Mode zu sein. Die Produktionen mit musikalischen Danksagungen an Länder und Regionen schießen aktuell ins Kraut – mit sehr unterschiedlichen Erfolgen. Trifonovs pianistische Reise durch die USA erstreckt sich über Gershwins Klavierkonzert in F-Dur, Transkriptionen von Art Tatums „I Cover the Waterfront“ und Bill Evans’ „When I Fall in Love“, Ausflüge in die Filmmusik bis hin zu Kompositionen von Aaron Copland und John Adams. Veredelt wird das Ganze durch ein eigens für Trifonov komponiertes Klavierkonzert von Mason Bates, beschlossen durch John Cages berüchtigte Nullnummer „4′33″“.

Soweit die Papierlage. Und ganz ehrlich, nach Konzept klingt das nicht. Und das ist es auch nicht. Ganz im Gegenteil. Hier passt nichts zueinander; das Ganze wirkt höchst willkürlich, ja erratisch. Und für das Repertoire wird hier nichts getan: Die Neukomposition von Bates ist eine musikalische und eklektische Nichtigkeit ohne Richtung und Charakter und daher bei aller modernistischen Ambition schnell vergessen. Die Transkriptionen aus der Jazzgeschichte offenbaren Trifonovs pianistisches Geschick, sind davon abgesehen aber entbehrlich. Wenn man Jazz in das Säurebad der Klassik taucht, bleibt zumeist nicht viel Jazz übrig.

Musikalische Spannung entsteht lediglich bei den „echten“ Klassikern, namentlich bei Adams und Copland. Bei Adams kommt das Ganze aber kaum über einen Appetizer hinaus. Wer mehr erfahren möchte, der sei auf die großartige Neueinspielung der Berliner Philharmoniker von Adams’ „Harmonielehre“ oder die Naxos-Aufnahme seiner „City Noir“ hingewiesen. Gleichwohl gelingt es Trifonov mit Adams’ Komposition, eine geradezu cineastische Spannung zu erzeugen, und das lediglich mit den Mitteln pianistischer Virtuosität.

Hier liegt sein spezifisches Talent. Das hat er bereits mit seinen Rachmaninow-Einspielungen bewiesen. Trifonov musiziert außergewöhnlich prägnant, zupackend und kraftvoll und kann sein Instrument zugleich durchscheinend, luftig und perlend klingen lassen. Dabei hat er ein ausgeprägtes Gespür für Dramatik und musikalische Szenerie. Das Interesse für Filmmusik ist daher gut nachvollziehbar und hier glänzend umgesetzt.

Auch Gershwins Klavierkonzert hat Trifonov buchstäblich fest im Griff; keiner der unterschiedlichen Charaktere innerhalb dieser Komposition entgleitet ihm, keiner bleibt fahl oder zu wenig konturiert. Besonders sympathisch: Trifonov ist frei von Attitüde; die Angeberei eines Ivo Pogorelich etwa ist ihm erkennbar und hörbar fremd.

Aber hätte es einer weiteren Einspielung von Gershwins Klavierkonzert bedurft? Es ist zwar gleichsam die kleine, keineswegs aber unscheinbare Schwester der berühmten „Rhapsody in Blue“. Auch von ihr existieren zahllose Aufnahmen, denn sie hat ihre Reize. So sind die Stimmungs- und Genrewechsel innerhalb dieses Konzerts zum Teil noch rasanter und waghalsiger als in der zugänglicheren „Rhapsody“. Und Trifonov meistert all das souverän.

Vom Orchester lässt sich das so nicht sagen. Klar, Gershwins musikalischer Großstadtlärm braucht keinen sinfonischen Wohlklang. Aber muss das Orchester deswegen wie eine Zirkuskapelle klingen, die überhaupt nicht ins Spiel findet, die der Virtuosität des Pianisten nichts entgegensetzen kann – oder will?

So konzeptionslos das vermeintliche Konzept ist, so fahrig und unsortiert agiert hier das eigentlich hochkompetente Orchester. Pianist und Ensemble finden so nicht zueinander und musizieren streckenweise nebeneinander her. Das hebt die solistischen Passagen positiv hervor, lässt aber das Orchester etwas ungeschickt aussehen. Zur etwas obskuren und gewollten Titelauswahl gesellt sich daher eine bestenfalls durchschnittliche Orchesterleistung. Der Klang des Ganzen ist, typisch für die Deutsche Grammophon, sehr ordentlich, aber nicht herausragend. Audiophile Hörer kommen also auch nur in Grenzen auf ihre Kosten.

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Schwermütiges aus der Zeit des Fin de Siècle

Daniel Barenboim - Symphony in D minor

Das gilt auch für die neueste Produktion mit Daniel Barenboim am Pult der Berliner Philharmoniker. Dafür ist allerdings nicht die Leistung des Ensembles verantwortlich zu machen, sondern vielmehr die seit Langem eher mittelmäßige Klangqualität der Produktionen des „gelben“ Labels. Wer dessen Einspielungen mit Produktionen von BIS, Hyperion, Naïve oder Pentatone u. a. vergleicht, wird verstehen, was ich meine.

Davon abgesehen ist dieses Album mit französischem Schwerpunkt im positiven Sinne bemerkenswert: Es enthält die immer noch zu entdeckende Sinfonie von César Franck (1822–1890) aus dem Jahre 1888 und die Suite „Pelléas et Mélisande“ von Gabriel Fauré (1845–1924) von 1898 – zwei sehr unterschiedliche Stücke.

Die dreisätzige Sinfonie von Franck – seine einzige Sinfonie – hat einen tendenziell dunklen und ernsten Charakter, trotz der Scherzo-Passagen im zweiten Satz. Sie wirkt feierlich und zeremoniell, sie ist auf das Erhabene bedacht und kommt gleichsam gemessenen Schrittes daher. Allerdings nicht, ohne immer wieder eine traurige Erinnerung an die unbedarfte Naivität vergangener Zeiten anklingen zu lassen. Die Tonlage dieser Sinfonie und ihr Entstehungsdatum markieren quasi einen musikhistorischen Umbruch, von der hochromantischen Sinfonik Bruckners oder Wagners zur Dekonstruktion der sinfonischen Selbstvergessenheit bei Mahler oder Ravel.

Barenboims Zugang zu diesem Werk wird ihm in besonderem Maße gerecht: Seine grundsätzlich eher distanzierte, beherrschte, ja strenge Lesart führt dazu, dass hier nichts ins Pathetische, in den Überschwang oder in die hohle Gefühlsduselei abdriftet. Barenboim weiß darum, wie sehr diese Sinfonie religiös und weltanschaulich aufgeladen ist, und hält dieses riskante Potenzial präzise im Zaum. Gerade diese Beherrschung macht den Epochenwandel besonders gut hörbar. Barenboim zeichnet ihn mit spitzem Stift nach. Hinzu tritt eine enorme Klangkultur bei den Berliner Philharmonikern, insbesondere bei den Streichern und Blasinstrumenten. Barenboims Auslegung ist daher geeignet, Francks wenig bekannte Sinfonie einem größeren Hörerkreis zugänglich zu machen.

Faurés Suite ist zehn Jahre später entstanden; sie hat den Epochenwandel schon gemeistert, zumindest aber stärker in sich aufgenommen. Barenboims Ansatz verliert daher ein wenig von seiner Überzeugungskraft. Schon früher profitierten nicht alle Aufnahmen vom disziplinierten Dirigat Barenboims: Einige Aufnahmen mit dem von ihm mitgegründeten West-Eastern Divan Orchestra wirken steril, antiseptisch, leblos. Dagegen ist er in der Interpretation von Faurés „Schauspielmusik“ nicht gefeit. So sehr die Strenge und Nüchternheit dem ebenfalls eher dunklen und verhangenen Timbre dieser Komposition entsprechen, so wenig treten Stil, Charakter, Dialogisches oder Expressives zutage. Und all das ist hier in deutlich höherem Maße enthalten als in der fast liturgisch wirkenden Sinfonie von Franck.

Man könnte sagen, die Auslegung der musikalischen Erzählung Francks gelingt ihm in besonderem Maße, die Exposition der eher szenischen Tondichtung von Fauré stößt aber an selbst gesetzte Grenzen. Gleichwohl hat Barenboims Ausleuchtung dieser musikhistorischen Episoden eine ungemeine Attraktivität, gerade in ihrer Klarheit, Nüchternheit und Präzision. Dabei liegt ihm das Narrative, das Lineare etwas mehr als das Dialogische, das Kontrastierende. Aber er bleibt ein unbestechlicher Exeget der musikalischen Substanz. Das verdient intensives Hin- und Zuhören.

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Unaufgeregter Barock

Leonidas Kavakos - Bach

Können wir dergleichen auch über die dritte Neuerscheinung sagen? Lohnt sich auch hier das konzentrierte Zuhören? Nun, immerhin verspricht das Label Sony Classical etwas mehr klangliche Akkuratesse. Ein Versprechen, das diese Produktion einhält. Mühelos. Das wird schon mit den ersten Takten klar. Diese Aufnahme ist audiophil – auf eine sehr angenehme Art und Weise. Harmonisch, ausgewogen, mit hinreichend großer Bühne und ausreichend Luft zwischen den einzelnen Instrumenten. Die gehören dem Apollon Ensemble und dem griechischen Violinisten Leonidas Kavakos.

Geboten werden auf dieser Neuerscheinung ausschließlich Violinkonzerte von Johann Sebastian Bach (1685–1750); den Abschluss bildet die ausgesprochen populäre Komposition „Air“. Einen nennenswerten Repertoirewert hat dieses Album also nicht. Ästhetisch hingegen ist diese Einspielung recht ansprechend: Mit großer Selbstverständlichkeit, Gelassenheit und Ruhe musizieren Ensemble und Solist. Das entspricht dem philosophischen und religiösen Weltbild des Barock in hohem Maße. Hier wird auf eine sehr beruhigende und sympathische Art und Weise auf jedes Spektakel verzichtet, auf Effekt oder mutwillige Überspitzung.

Die Aufnahme zeichnet sich durch eine hohe Homogenität in der Spielweise aus. Ensemble und Solist stehen in keinerlei Konkurrenz zueinander. Insgesamt wird ein warmer, harmonischer Klang erzeugt. Das nicht zu hoch gelagerte, eher schimmernde denn glänzende Timbre von Kavakos’ Stradivari „Willemotte“ aus dem Jahr 1734 trägt zu dieser ausgewogenen Darstellung bei, ohne die musikalische Exposition zu dominieren. All das verleiht dieser Einspielung eine überraschende Modernität – eine Modernität, wie sie sonst viel eher in Vivaldis Violinkonzerten zu empfinden ist.

Freilich, der Markt hat sicher auf keine weitere Reproduktion dieser hinlänglich bekannten Werke von Bach gewartet. Aber dieser gelingt es, in einer kontemplativen Zurückhaltung auf außermusikalische Intentionen zu verzichten, auf weltanschauliche Statements, die dem Barock fremd wären, oder glamouröse Neuinterpretationen für die nächste Castingshow. Dieser Verzicht wird zum Gewinn. Man erhält einen Bach, frei von Getöse, warm, fließend, in milder Stimmung, homogen und in klanglich exzellenter Qualität. Unterm Strich also lohnt auch hier das konzentrierte Zuhören.

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Abacus Trifon 5x

Über die Autorin / den Autor

Equipment

Digitale Quellen: D/A-Wandler: Musical Fidelity M6sdac CD-Player: Musical Fidelity M6cd, Sony CDP XA 5 ES, Sony CDP XA 7 ES, Sony SCD 555 ES Streamer: WiiM Pro Plus, Sonos Port

Vollverstärker: Musical Fidelity M6si, Akai AM 75, harman/kardon HK 1400 und PM 665 Vxi, Sansui AU 919

Lautsprecher: Dynaudio Contour 20, Harwood Acoustics LS3/5a

Kabel: Lautsprecherkabel: Reson LSC NF-Kabel: Kimber PBJ WBT-147, Audioquest Z1, Oehlbach NF 14 Master X Digitalkabel: Audioquest Cinnamon RJ/E Ethernet, Oehlbach NF 113 D Netzkabel: Oehlbach Powercord C13 Netzleiste: Oehlbach Powersocket 907 MKII

Zubehör: Stromfilter: Dynavox HiFi-Netzfilter X4100S Sonstiges: Doppelsteckdose Furutech FP-SWS-D (Wandeinbau)

Sonstiges: Lautsprecher-Ständer von Mission Audio

Größe des Hörraumes: Grundfläche: 32 Quadratmeter Höhe: 3,80 Meter