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The Decemberists – As It Ever Was, So It Will Be Again

Dieses Album hängt die Messlatte verdammt hoch, die Ambitionen sind gewaltig. The Decemberists wollen es mit As It Ever Was, So It Will Be Again wissen. Das Ergebnis? Ist schlichtweg überwältigend. Ein musikalisches Highlight des Jahres.

The Decemberists - As It Ever Was, So It Will Be Again

Wer in unseren Tagen ein Album herausbringt, das über eine Stunde dauert und dieses monumentale Gesamtpaket auf vier Seiten der Doppel-LP dann noch thematisch schlüssig gebündelt in vier Kapitel unterteilt, sticht heraus und hat Großes vor. Das Beste gibt’s zum Schluss – den knapp 20-minütigen epischen Song „Joan in the Garden“, inspiriert von Jeanne d’Arc, musikalisch eine kleine Reise durch die Stile mit großem Finale. Der Anspruch der Band ist enorm. Und, alle Achtung: The Decemberists verheben sich nicht, sondern liefern mit den 13 Songs von As It Ever Was, So It Will Be Again ein Glanzstück in der bald 25-jährigen Bandkarriere ab.

The Decemberists sind eine schillernde Band, die sich gerne zwischen alle Stühle setzt. Einflüsse von Folk, Indierock, Psychedelic, Americana, Country und einigem mehr führt der Bandkopf Colin Meloy mit großem Talent zum Geschichtenerzählen und einer balsamischer Stimme zusammen. Oft gleichen die assoziationsreichen Songs der Decemberists kleinen Erzählungen oder kurzen Theaterstücken mit sicher gesetzten dramaturgischen Bögen. Die musikalische Seite braucht sich indes vor dem literarischen Ehrgeiz nicht zu verstecken: Mit Jenny Conlee steht Colin Meloy eine Virtuosin zur Seite, die neben den Tasten auch das Akkordeon und noch viele instrumentale Fähigkeiten mehr einbringt. Das macht den Sound des Quartetts aus Portland so vielschichtig und farbig: Bassist Nate Query wechselt auch mal zum Kontrabass und Chris Funk an den Gitarren kann ebenso stilvoll zupfen wie punkig los schreddern. Sechs Jahre ist es her, seit The Decemberists mit I’ll Be Your Girl zum Leidwesen einiger treuer Fans elektronische Seitenwege erkundeten. Von heute aus gesehen war das ein notwendiger Schritt, denn ohne diese Erfahrungen könnten The Decemberists auf ihrem neuen Album viele kleine elektronische Einsprengsel, die das Klangbild der hervorragend abgemischten Produktion verdichten und einfärben, nicht so gekonnt einbinden.

The Decemberists

© Holly Andres

Am meist bei sich wirken The Decemberists in den Songs, die so wirken, als hätten sie eine uralte Melodie ausgegraben und sich dazu eine abgefahrene Geschichte überlegt, zum Beispiel über eine Braut, die noch am Hochzeitstag zu Grabe getragen wird. Colin Meloy findet dafür in „Long White Veil“ eine Melodie, die so eingängig und rund wie eine Volksweise wirkt. Auch das kunstvoll zwischen 6/8- und 3/4-Metrum oszillierende „The Reapers“, das in der sparsamen Begleitung ganz filigrane Liebeslied „All I Want Is You“ oder „The Black Maria“ gehören in diese Kategorie. Meloy fallen Melodien ein, die schon Jahrhunderte alt sein könnten. Trotzdem wirken sie Songs frisch, haben stellenweise etwas von Country-Twang, kristalline Klarheit von Gitarren-Folk und durch die harmonische Grundierung der Bläser oder des Akkordeons oft etwas Düsteres, Abgründiges.

Das Spektrum an Stimmungen ist breit: Der vorwärtsdrängende Opener „Burial Ground“ trägt viel von den Beatles und den Beach Boys mit sich herum, das folgende „Oh No“ mit dezentem Tanzrhythmus lässt übermotivierte Trompeten munter hineinblasen, „Born To The Morning“ kommt stark verzerrt mit punkig-psychedelischer Attitüde daher. Das große Finale schlägt dem Fass schließlich den Boden aus: Nach munterem Folkpicking auf der Gitarre und langsamer Steigerung (das Schlagzeug setzt nach etwa fünf Minuten dann auch mal ein) zu Glocken und Wendungen aus der Pink-Floyd-Kiste erlauben sich The Decemberists, gut fünf Minuten Spannung mit übereinandergelegten Soundschnipseln aufzubauen, die am Ende in ein heftiges Rockriff auf der Gitarre münden. Dieser Song ist wie ein Buch. Colin Meloy hat schon mehrere Bücher geschrieben. Doch damit und mit der ganzen Platte ist ihm ein echter Wurf gelungen.

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Rebecca Trescher Tentett – Character Pieces

Character Pieces heißt das neue Album des Rebecca Trescher Tentetts – ein treffender Titel. Denn auch wenn die 1986 in Tübingen geborene Klarinettistin, Komponistin und Leiterin eines großbesetzten Jazzensembles dabei gar nicht so sehr an die große Tradition an Charakterstücken im 19. Jahrhunderten gedacht hat, lassen sich starke Parallelen entdecken. Charakterstücke verdichten ganz unterschiedliche Stimmungen, lassen Assoziationen frei und folgen in ihrer Form dem Lauf poetischer Ideen. Dasselbe lässt sich von den acht Stücken der Character Pieces behaupten, die dann auch noch so sprechende Titel tragen wie „Aussichtsreich“, „Wild Dreams“, „Nacht“ – und im letzten Stück erweist Rebecca Trescher dem Senftopf die Ehre („Le Moutardier“).

Rebecca Trescher Tentett - Character Pieces

Die große Kunst Rebecca Treschers als Klarinettistin, prima inter pares und komponierende Arrangeurin liegt darin, ihr zehnköpfiges Jazzensemble mal nach fein gewobenem Kammerjazz mit zarten polyphonen Linien klingen zu lassen, mal nach einem klangfarblich aufrauschenden Orchester – und das gerne von einem zum anderen Moment im selben Stück wechselnd. Die Spannung ihrer Musik lebt vom Auf und Ab klanglicher Dichte, von melodischer und rhythmischer Kontur und ungehindertem Fließen („The Cloud Walker“) und manchmal auch Suchen, etwa in der Anfangsphase von „Wild Dreams“ oder „Wildwasser“. Auch „Aussichtsreich“ (von Pianist Andreas Feith) bezieht seine Spannung aus dem Gegensatz von assoziativen Fragmenten und dem Einrasten in einen druckvollen Groove.

Rebecca Trescher

© Dovile Sermokas

Immer wieder nimmt Rebecca Trescher, die zwischendurch auch die näselnd-nörgeligen Klangfarben der Bassklarinette auspackt, nicht nur sich selbst, sondern auch die schiere Klangwucht zurück. Sie schafft Räume für Soloauftritte, etwa für den variantenreichen Pianisten Andreas Feith („High Altitude Air“), Julian Hesse an Trompete und Flügelhorn („Nacht“) oder sie räumt für Anton Mangold an der Harfe ein ganzes „Prélude“ frei.

Rebecca Trescher Tentett

© Sebastian Autenrieth

Melodien, die sich Rebecca Trescher selbst und den Mitgliedern (und Charakteren) ihres Ensembles auf den Leib schreibt, kommen in ihrer komplexen Musik nicht zu kurz. Die Melodik im Opener „High Altitude Air“ hat die schmetterlingshafte Grazie eines Charakterstücks von Edvard Grieg, während kreisende Motive in „Wild Dreams“ oder „Aussichtsreich“ ihren Nährboden in der Minimal Music nicht verhehlen. Spannend ist, was Rebecca Trescher und ihr Ensemble daraus an Neuem formen. Das ist nicht nur hochpoetisch, sondern ein Fest der Klangfarben.

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Duo Oxymoron – Scented Rushes

Harfe im Jazz? Kennt man. Akkordeon im Jazz? Auch da gibt es einige Größen, die von sich reden machen. Aber Akkordeon und Harfe als Duo? Das ist bislang wirklich exotisch. Das Duo Oxymoron bricht eine Lanze für die ungewöhnliche Besetzung. In diesem Sommer hat das von der Harfenistin Anna Steinkogler und Valentin Butt am Akkordeon gebildete Duo mit Scented Rushes sein Debütalbum herausgebracht, eine zauberhafte Aufnahme.

Duo Oxymoron - Scented Rushes

Ein Oxymoron bezeichnet in der Rhetorik eine Sprachfigur, die Kontrastierendes auf scharfsinnige Weise kombiniert. Auch die Kombination von Harfe und Akkordeon lebt von den Gegensätzen in Klangfarbe und Klangstärke, von gezupften Saiten vs. Tasten und Luft. Gleichzeitig sind beide Instrumente dazu fähig, melodische Linien zu zeichnen und akkordische Fülle zu schaffen. Dieses Potential erschließen Steinkogler und Butt in ihren eigenen Kompositionen und den Arrangements klassischer Werke und sorgen für einen lebhaften instrumentalen Schlagabtausch, der auch in seiner zart schillernden Farbigkeit klangtechnisch fein eingefangen wurde.

Duo Oxymoron

© Antje Kröger

Scented Rushes ist ein thematisch rund um Märchenhaftes konzentriertes Album. Den Auftakt bildet eine fünfsätzige Suite vom Duo Oxymoron „Scented Rushes“, das von dem britischen Schriftsteller Lewis Carroll inspiriert ist und mit jazziger Koloristik, mal an Minimal Music erinnernden Strukturen und an der Polyphonie klassischer Musik geschulter Klarheit den Boden bereitet für den zweiten Teil. Der besteht aus einem Arrangement von Maurice Ravels Märchensuite „Ma Mère L’Oye“ sowie des zweisätzigen Werks „Parvis“ aus der Feder des belgischen Komponisten Bernard Andrès. Diese Kombination ist nicht nur thematisch schlüssig, sondern darf beispielhaft für die fließenden Grenzen zwischen Klassik und Jazz des Duo Oxymoron stehen.

Anna Steinkogler und Valentin Butt schaffen in den fünf Sätzen von „Scented Rushes“ eine musikalische Erzählung, die – passend zum Titel – auf groovenden, repetierenden Mustern flüchtige, duftige Motive einstreuen. Mit Lust am klangfarblichen Schlagabtausch geben sich Harfe und Akkordeon die Klinke in die Hand und erschaffen gemeinsam einen Erzählstrang, der manchmal zu einem sanften Hauch ausgedünnt wird und trotzdem trägt. Das ist die große Kunst des Duo Oxymoron. Man darf gespannt sein, wohin es das Duo nach dem Ausflug ins Märchenreich demnächst hinführen wird.

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