Oktober 2012 / Victoriah Szirmai
Privat höre ich nur sehr wenig Musik. Das mag auch einer gewissen Lähmung angesichts der Vielzahl von Möglichkeiten geschuldet sein – wahrscheinlicher aber ist es, dass ich mit wohltuender Stille den Vielklang der musikalischen Viel(be-)schreiberei zu kompensieren suche.
Auf den Plattenteller kommt daher nur, was den Geist freiräumt. Bachs Cellosuiten, beispielsweise. Oder das letzten Mai veröffentlichte The Brothel der jungen Norwegerin Susanne Sundfør, und hier insbesondere der Titeltrack, der zwischen magischen Klangflächen und sphärischen Chorälen eine unbeschreibliche Weite zu schaffen vermag, klanglicher wie geistiger Natur.
Veröffentlicht solch ein auch privat gern gehörter Künstler ein weiteres Album, ist das eine Nachricht, die sowohl Vorfreude als auch Furcht auszulösen vermag. Die Vorfreude ist mit purer Gier schnell erklärt: Hier geht es schlicht um mehr davon. Die Furcht indessen gestaltet sich komplexer: Wird das neue Album an das liebgewonnene alte heranreichen? Wird es einfach nur anders als erwartet sein oder wird es gar enttäuschen? Manchmal dauert es tagelang, ehe man sich an den Nachfolger heranwagt, Tage, in denen, erstarrt zwischen Angriff und Flucht, um das noch fabrikneu eingeschweißte Album herumgeschlichen wird.
Auch The Silicone Veil will den Spagat zwischen Fortsetzung und Neuanfang meistern. Das nach seinem A-Capella-Intro überraschend technoide, ja fast Drum & Bass- oder gar Tribal-Beat-artige „Diamonds“, das allein durch seine vertrackte Choralik und den träumerisch-schönen „Ring The Bells/Cut The Wires/Slip Away“-Refrain an den Sundfør-Sound von The Brothel erinnert, ist ein Album-Opener, der Zeichen setzt und die Hörer aufweckt, wenn nicht gar -schreckt. Nein, ich bin nicht in meinen selbstreferentiellen Klangwelten versumpft, scheint uns die 26-jährige Künstlerin hier zuzurufen. Ich weiß durchaus, was gerade angesagt ist – und ja, ich habe mich weiterentwickelt!
Behutsamer wäre das mit Track 2 gelungen, der Piano-dominierten Vorab-Single „White Foxes“, die noch am ehesten in die düsteren Schauerwelten von The Brothel hineinpassen könnte und damit einen perfekten Opener für The Silicone Veil abgegeben hätte. Schließlich schlägt „White Foxes“ mit seiner dunkel-eröffnenden Klaviermelodie, seinem langsam in Fahrt kommenden, hypnotischen Rhythmus und seinen bedrohlichen, mit jedem Satz neue Wendungen nehmenden Lyrics, neue Töne an und damit eine Brücke zu The Silicone Veil, das mit den Huren und Heiligen von The Brothel bis auf die hochkomplexen Klangschichtungen wenig gemein hat. Eher denn ein Popsong ist „White Foxes“ dann auch ritueller Gesang, mit einem Refrain, der wie aus heiterem Himmel einfach passiertund in einer öden Landschaft widerhallt – und damit sind wir auch schon mitten im Herzen von The Silicone Veil angekommen.
War es Sundfør auf The Brothel noch am ehesten darum zu tun, in die Abgründe der Menschheit zu blicken und deren verborgene Schönheit hervorzukitzeln, kreist The Silicone Veil um die Grauzone zwischen zwei Daseinszuständen, zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Glaube und Desillusionierung, Leben und Tod. Vor allem Tod. Oder zumindest das pure, weiße Nichts nach dem Weltuntergang: die menschenverlassene Erde mit ihren ebenso ausgedehnten wie desolaten Flächen, in den Worten der Künstlerin: „Apokalypse, Tod, Liebe und Schnee“. Weniger abstrakt gefasst, geht es auf The Silicone Veil um nichts Geringeres als den – endgültigen, alles entscheidenden, das Ende jedweder Zeiten einläutenden – Kampf der Alten gegen die Neue Welt. Archaisches gegen Überkultur, Wald gegen Technologie, Steinruinen gegen Silikon. Was der Schnee damit zu tun hat? Das Szenario dieses Endkampfes ist komplett schneebedeckt, „ genau wie in Die Toten von James Joyce. Wir sind alle isoliert“, so die Sängerin.
Wirklich fröhlich wird es auch auf „Rome“ nicht, wo das untergegangene Reich nebst schwarzen Leichen und Höhlen besungen wird, natürlich unter Hinweisnahme auf den nahenden Winter. Musikalisch wiederum löst „Rome“ das Versprechen des Openers ein und beweist, dass The Silicone Veil weitaus elektronischer daherkommt als The Brothel; Akustikpianonummern wie „Can You Feel The Thunder“ sind hier eher seltene Ausnahmen. Bei diesen scheint das Motto allerdings „wenn, dann richtig“ zu lauten. So etwa fährt das rein instrumentale „Meditation In An Emergency“ mit den Trondheim Solistene gleich ein komplettes, aus neun Geigen, drei Bratschen, drei Celli und einem Kontrabass bestehendes Streichorchester auf.
„Among Us“ weist wieder mehr in Richtung Disco, wobei ich mir unschlüssig bin, ob die komplexen, irgendwo zwischen Mittelalter und New Age oszillierenden Choralsätze der Sundfør, die durchaus als eigenständige A-Capella-Stücke Bestand haben könnten, zu diesen Beats passen – und dabei bin ich die Letzte, die dagegen ist, traditionelle(re) Liedformen mit Elektrobeats zu unterlegen. Mein Problem ist hier eher, dass mir die elektronischen „Among Us“-Klänge nicht tiefgründig genug sind; sie erinnern eher an Italodisco als an Verve Remixed, woran sich tiefsinnige Elektronika bis heute messen lassen müssen. Dabei hätte der richtige Produzent aus dem Stück so viel mehr herausholen können! Schade um die tollen Vocals.
Umso ansprechender der Titeltrack „The Silicone Veil“, der ganz pur mit Stimme und Autoharp, denen sich erst reichlich spät dezentes Elektrogedröhn zugesellt, daherkommt und für mich die Essenz des Sundfør’schen Könnens darstellt. Schlau, diesen Song dem großartigen „White Foxes“ als zweite Single-Auskopplung hinterherzuschicken, denn die beiden zusammengenommen sind in der Tat das Highlight dieses klassischen Zehn-Track-Albums, das auch auf Vinyl zu haben ist. „When“ dagegen meint es mit dem Hall etwas zu gut – wobei zugegeben werden muss, dass die Kirchenschiff-Akustik der Sundfør perfekt zu Gesicht steht. Kontinuität ist diesem Album allerdings fremd, denn auf hoch-inspirierte Momente folgen eher flache. Und so kommt mit „Stop (Don’t Push The Button)“ dann auch schon wieder eine reichlich überflüssige Electro-Clash-Nummer; und auch der Closer „Your Prelude“ will es elektronisch und dreckig. Wenn das der Silikonschleier ist, der sich da über die Electro-Gothic-Welt von Susanne Sundfør gelegt hat, dann möge er sich doch bitte lüften und mehr Songs wie den Titeltrack zum Vorschein bringen. Allein für diesen aber lohnt sich das ganze Album.