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Dan D'Agostino

Sinfonisch angelegte Genesis-Songs bekommen durch Steve Hackett mit Orchester und Band ungeahnte Tiefe, während Long Distance Calling ihrem Instrumentalrock durch spiralförmige Steigerungen unwiderstehliche Sogkraft geben. Das Sahnehäubchen beider Live-Scheiben ist der beiliegende Videomitschnitt. Das Bild verleiht der mehrschichtigen Musik eine weitere Dimension, vor allem die atmosphärische Dichte bei Long Distance Calling gewinnt cineastische Größe.

Steve Hackett – Genesis Revisited Band & Orchestra: Live at the Royal Festival Hall

Orchesterarrangements von Rock- und Popmusik fordern einiges Know-how. Die gewaltige Aufgabe potenziert sich, wenn Arrangeure Band und Orchester zusammenführen möchten. Wie heikel das ist, zeigen unzählige halbgare bis schwer erträgliche Versuche, die über Formeln aus dem Setzkasten der Filmmusik nicht hinauskommen. Oft verbinden sich Band und Orchester klanglich einfach nicht. Das lässt ein wenig zögern, sich auf Steve Hacketts neues Live-Album Genesis Revisited Band & Orchestra einzulassen. Zumal der rührigste Nachlassverwalter von Genesis frei von kreativen Ermüdungserscheinungen neben mehr als beachtlicher Neuware seit einigen Jahren bereits einige (absolut hörenswerte) Liveaufnahmen aus der „Genesis Revisited“-Reihe veröffentlicht hat.

Genesis Revisited Band & Orchestra- Live

Nun also ein weiterer Aufguss? Mitnichten! Es ist dem bescheidenen Meistergitarristen Steve Hackett gelungen, mit Bradley Thachuk (der in Personalunion auch als Dirigent des Heart Of England Philharmonic Orchestra wirkt) sowie Steve Thachuk und Thorvaldur Bjarni Arrangeure zu gewinnen, die den Genesis-Songs der Hackett-Ära sowie einigen Titeln von Hacketts Soloalben durch gekonnte, feinsinnige Arrangements ganz neue Farben und noch mehr Tiefe verleihen. Auch wenn sich einige Songs mit den anderen Live-Alben überschneiden – diese Doppel-CD samt technisch einwandfrei gestaltetem Konzert-Videomitschnitt auf Blu-ray hebt die Stücke durch opulente Orchesterarrangements auf ein noch höheres Niveau und macht das Album unverzichtbar für Anhänger progressiver Rockmusik.

Klassische Genesis-Songs aus der progressiven Schaffensphase wie „Firth of Fifth“, „Blood on the Rooftops“, „Afterglow“, „The Musical Box“ oder die Schaffenskrönung „Supper’s Ready“ sind selbst schon beinahe sinfonisch in der Entwicklung der musikalischen Ideen und ihren kunstvoll gestalteten Übergängen. Das hier hinzutretende Orchester ist indes keine Verdoppelung bereits in den Originalsongs angelegter sinfonischer Merkmale, sondern fügt bei diesem 2018 aufgezeichneten Mitschnitt aus der Royal Festival Hall in London der Musik neue Facetten und damit eine neue Dimension hinzu. Bei den klangfarblich im Original bereits vielfältigen Songs trägt das natürlich reifere Früchte als beispielsweise beim einleitenden „Dance on a Volcano“, das vor allem von seiner rhythmischen Energie lebt.

Aber wie reich ist dann die Ernte etwa bei Songs, in denen das Orchester als eigenständiger Akteur zur Band fein austariert hinzutritt und somit das gesamte musikalische Geschehen stark bereichert. So schmiegt sich bezauberndes Gitarrensolo in „Shadow of the Hierophant“ grandios und hochpathetisch in den strahlenden Hörnersatz ein. In „The Steppes“ unterstreicht das Orchester die orientalisierende Note, „Firth of Fifth“ steigert den sinfonischen Bombast aufs Effektvollste, aber nicht überambitioniert. Die Arrangeure gingen hier – wie auch in „Afterglow“, einer überwältigenden Walze purer Schönheit, oder dem heimlichen Favoriten des Albums, „Shadow of the Hierophant“ – mit viel Geschmack und einem sicheren Händchen zu Werke. Auf jeden Fall sind die Orchesterarrangements stilsicher gemacht und geben dem Orchester ein differenziertes Aufgabenprofil; damit sind sie weitaus „sinfonischer“ als die jüngeren Orchesterstücke des Genesis-Keyboarders Tony Banks, die leider wie am Reißbrett entstanden wirken.

Auch die exzellente Band, die in der sehr guten Klangstaffelung der Aufnahme stets etwas präsenter ist als das begleitende Orchester, lässt keine Wünsche offen. Die Namen zergehen jedem Prog-Fan ohnehin auf der Zunge: Roger King (Keyboards), Gary O’Toole (Schlagzeug), Rob Townsend (Saxophon), Jonas Reingold (Bass), dazu John Hackett (Flöte) und Amanda Lehmann (Gesang). Und dann ist da noch der geniale Nad Sylvan, der mit seiner Exzentrik den Part Peter Gabriels kolossal ausfüllt, eine wahnsinnige Präsenz hat und sich die Songs mit kreativem Sinn für Freiräume richtig zu eigen macht. Aus der „Genesis Revisited“-Reihe wird mit dieser tollen Live-Scheibe „Genesis Revitalized“.

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Long Distance Calling – Stummfilm

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Die Kunst des Übergangs in der Musik besteht darin, von einem Abschnitt in den nächsten zu gleiten, ohne dass man merkt, wie einem geschieht. Genesis waren Meister darin, vor allem in ihren epischen Songs. Das in Münster beheimatete Quartett Long Distance Calling ist in dieser Disziplin ebenfalls ein Ass. Das hat die Band, ihres Zeichens Speerspitze des Instrumentalrock, seit ihrer Gründung 2006 bereits auf sechs Alben bewiesen. Für gewöhnlich im Bereich des instrumentalen Post-Rock verortet, konnte die Band sich mit einigen Tool-Seitenhieben zwischen dem hochvirtuosen Instrumentalmetal von Bands wie Animals As Leaders und dem psychedelisch angehauchten Spacerock von Monkey3 einen festen Platz erarbeiten. Hin und wieder experimentierte man mit Gesang, doch auf dem letzten Album ist Long Distance Calling (LDC) zu seinen rein instrumentalen Wurzeln zurückgekehrt. Nun legt die Band ihre erste Live-Scheibe vor, die vor allem in Begleitung des Konzertmitschnitts auf Blu-ray in ihren Bann zieht. Denn die rockigen Klanggemälde von cineastischer Größe wirken in Verbindung mit der Visualisierung noch intensiver. Stummfilm ist ein Gesamtkunstwerk – das ganz ohne Gesang auskommt, aber jede Menge Bilder und Assoziationen hervorruft.

Der Mitschnitt fängt die dichte Atmosphäre des Hamburger Konzerts, aufgenommen im Rahmen der „Seats & Sounds“-Shows 2018, großartig ein. Der weit dimensionierte (ehemals) sakrale Raum ist eine wunderbare Kulisse für die ebenso großzügigen Songs von Long Distance Calling, hier unterstützt durch Luca Gilles (Cello) sowie Aaron Schrade (Percussion & Electronics). Sich wiederholende, in sich kreisende Elemente und deren stetige Metamorphose geben den Stücken epische Größe. Fast durchweg hat man es mit Longtracks zu tun, deren ausgefeilte Dramaturgie darauf hinausläuft, dass durch andauernde Verwandlung der kompositorisch fein zusammengefügten Elemente eine Steigerung in Gang gesetzt wird, die durch spiralförmige Windungen einen absolut zwingenden Sog entwickelt. Den Bau der einzelnen Nummern darf man durchaus organisch nennen; die von Long Distance Calling betriebene Kunst des Übergangs mit detailversessen ausgetüftelten Klangbildern hat etwas naturhaft Wucherndes. Manche Songs gleichen in ihrem Spannungsaufbau – dem An- und Abschwellen der Wall of Sound – einer Wellenbewegung.

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Die Nähe zur Natur spiegelt sich auch direkt in der Musik wider. „The Very Last Day“ kündet von den folgenschweren Umstürzen durch den Klimawandel. Die Gitarren von David Jordan und Florian Füntmann tönen wie Möwengeschrei, das Cello zieht melancholische Fluglinien, der Kirchenraum ist in tiefes Blau getaucht. Long Distance Calling verfällt dabei allerdings trotz solcher klanglichen Anspielungen nicht ins Illustrierende; ihre Musik bleibt abstrakt und dabei hoch anregend. Ebenso der Natur abgelauscht wirkt die Balance der Band mit ihrem Spiel von Nähe und Distanz. Wie beim Blick über eine Landschaft tritt in raschem Wechsel Unterschiedliches in den Fokus, mal der profunde, räumlich im Zentrum stehende Bass von Jan Hoffmann (herrlich fette Akkorde in „Out There“), mal die Gitarren. Die vielleicht größte Kunst von Long Distance Calling ist allerdings, dass das Fehlen des Gesangs deshalb gar nicht ins Gewicht fällt, weil alle Instrumente abwechselnd melodische Funktion übernehmen – auch das grandiose Schlagzeug von Janosch Rathmer, der mit filigranen Fills oder unbarmherziger Rhythmusarbeit zuweilen zum Herz des Geschehens wird.

Die Musik von Long Distance Calling trägt locker über zwei CDs. Auf einem breiten Feld zwischen Ambient-Klangflächen, filigraner Gitarrenarbeit, deftigen Metalriffs und weit tragenden Melodien erhält die Musik genug Raum, um ihre Intensität zu entfalten. Dass die Zuschauer gerade bei Songs wie „Black Paper Planes“ vom fast komplett gespielten Album „Avoid the Light“ in der zweiten Konzerthälfte nicht in kollektives Headbangen verfallen, ist schon erstaunlich. Aber letztlich ist die Musik von Long Distance Calling zu fesselnd und detailreich, um sie im Begeisterungstaumel wegzuschütteln. Und innerlich bewegend ist das Meisterstück „Stummfilm“ allemal.

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