Wer unter den geschätzten Lesern meine Einladung angenommen hat, mir drei euphorische Nächte lang durch die fünfte Ausgabe des Berliner XJAZZ-Festivals zu folgen, ist schon ein bisschen auf das Wiener Wahnsinnsseptett eingestimmt, das mit Rise And Rise Again jetzt seine zweite Platte auf Traumton Records veröffentlicht hat, denn Euphorie ist auch hier, das sei vorab verraten, das Stichwort der Stunde.
Schon das erste Shake-Stew-Album, The Golden Fang, wurde von Kritik wie Publikum gleichermaßen gefeiert. Und das, obwohl die Band ursprünglich nur als einmaliges Projekt für das Jazzfestival Saalfelden gegründet wurde, erhielt doch Kontrabassist Lukas Kranzelbinder – als bislang jüngster Musiker in der Geschichte des Festivals – den Auftrag zur Komposition des 2016er-Eröffnungskonzerts. Doch nachdem der Wieder Standard den Auftritt als „magische Eröffnungsstunde“ beschrieb, die laut Kurier „ein intergalaktisches Roadmovie für die Ohren“ und der Süddeutschen zufolge „ein intelligentes Vexierspiel mit der Tradition, gerahmt von zwei wunderbaren Alpen-Gospel-Stücken” gezeitigt habe, stand für Kranzelbinder schnell fest, „dass dies kein einmaliges Konzertprojekt, sondern die Möglichkeit zum Start von etwas Großem sein sollte“.
Ähnlich schnell wie sein Debüt, das von dem mit drei Bläsern, zwei Bässen und zwei Schlagzeugen unkonventionell besetzten Septett in der Saalfelder Probenresidenz an nur einem Tag zwischen zehn und fünfzehn Uhr eingespielt wurde, ist auch Rise And Rise Again an nur zwei Nachmittagen aufgenommen worden. Kein Wunder, dass es sich ein bisschen wie ein Live-Album anfühlt – und auch sonst in jeder Hinsicht format- bzw. konventionensprengend ist. So etwa schert sich die Platte mit ihren nur sechs Stücken wenig bis gar nicht ums klassische Albumkonzept. Und das umso weniger, da sich mit jedem beliebigen Stück einsteigen lässt. „Je nachdem, wie man sich gerade fühlt“, erklärt Kranzelbinder, „kann man zum Beispiel auch einmal mit dem letzten Track starten“.
Wer Rise And Rise Again von Anfang an durchhören möchte, sieht sich erst einmal mit dem Opener „Dancing In a Cage of a Soul“ konfrontiert, der eines der einprägsamsten Motive des Albums aufweist. Der energetische Groove, vor allem aber der angedeutete Orientalismus des Stücks tun ihr übriges, den Hörer schon nach kurzer Zeit gefangen zu nehmen. Nachdem der Tanz im Seelenkäfig mit einem Tusch endet, lässt es „How We See Things“ ruhiger angehen, um nicht zu sagen: entfaltet mit seinen leicht pentatonischen Pizzicato-Bässen das Szenario einer fernöstlichen Teezeremonie, zu der flügelschlagende Papierdrachen geladen sind, die Ehrengast Shabaka Hutchings, Gründer der Sons of Kemet, herzschlaglangsam huldigen. Dank dem britischen Musiker, der definitiv die Geheimwaffe von Rise And Rise Again ist, beschwören jetzt gleich drei Tenorsaxophone eine spirituell-meditative Atmosphäre herauf, die so manches Mal an Alice Coltranes modale Klangreisen erinnert. Darüber kreist Mario Roms Trompete um ein hypnotisches Motiv, bis sie sich mit dem Saxophonchor verwebt – was bleibt, ist pure Gänsehaut.
War für das erste Album eine mystische Grundstimmung tonangebend, ist es hier der Flirt mit dem Fremden, bei dem der Balkan so nahe liegt wie der Orient, aber auch Afrika und seine Riten – nicht nur dank entsprechenden Schlagwerks – immer mitschwingen. Von „Afrobeat“, wie viele Kritiker es tun, würde ich hier dennoch nicht sprechen wollen. Gemein dagegen ist allen Stücken, dass sie über die Zeit eine zunehmende Dringlichkeit entfalten. So etwa auf „Good bye, Johnny Staccato“, das den Hörer nach seinem Fanfaren-Weckruf mit Balkananklängen, die auch im Entferntesten nichts mit populären „Balkan-Beats“ gemein haben, förmlich einsaugt. Das ist Brass in seiner besten Form, bittersüß, traurigschön – einem südserbischen Begräbnis-Orkestar gleich, das wacker die Stellung hält, bis sich aus ihm ein Hardbop-Quintett hervorschält und das Ganze in wildes Quietschen ausartet, das mal Qual, mal Lust ist. Und selbst, wenn sodann alles rauscherschöpft umfällt, spielt der Trauermarsch weiter und weiter und weiter und lässt träumen, wie Johnny zu Grabe getragen wird, der sich noch ein letztes Mal aufbäumt, bevor der Wecker klingelt.
Ums Umfallen und Wiederaufstehen geht es auch auf den folgenden beiden Tracks, die als zusammenhängende Suite zu verstehen sind. Da wäre zunächst „Fall Down Seven Times …“, das langsam und leise wie das Wiegenlied für eine Katze, die schon acht ihrer neun Leben hinter sich hat, erklingt. Groß: Der behutsame Dia-, nein: Trialog zwischen Kranzelbinders links und Manuel Mayrs rechts behutsam flüsterndem Bass mit Roms heiserem Trompetenton, bei dem ein bisschen jonasknutssoneskes „Syskonöga“ aufblitzt, das nordisches Weltenweh ins Spiel bringt. Doch Shake Stew wären nicht Shake Stew, würde es mit „Get Up Eight“ nicht bald schon wieder gehörig im Karton rappeln. Das Schlagzeug gibt in Form eines Stepptänzers auf Speed den halsbrecherischen Takt vor, die Balkanbrassband folgt atemlos, derweil ein stoischer Bass sich von all dem Chaos gänzlich unbeeindruckt zeigt. Und dann kommt auch schon Hutchings‘ Sternstunde, die in einer Art Simultan-Call-and-Response mit Rom gipfelt, bevor das Ganze wieder in die vollendete, nunmehr nachgerade im religiösen Sinne erbauliche Harmonie des Anfangs zurückfindet.
Apropos Harmonie: Dass man auf dem mit Field Recordings aus Marokko gespickten „No Sleep My King“ in einer von einem dank Federhall wie synthetisch wirkenden E-Bass kreierten, technoiden Tropfsteinhöhle zunächst keinen Schlaf findet, versteht sich wohl von selbst – vor allem, wo ferne, kalimbaunterlegte Schreie so manch unerfreuliches Stammeszeremoniell antizipieren lassen, bevor ein einsames Saxophon sein Schlaflied singt und alle Bedenken zerstreut. Doch dabei belassen es die sieben Wiener nicht, deren komplette Brass-Sektion jetzt noch einmal alles gibt um einen Gleichklang zu erschaffen, der schlicht das Herz aufgehen macht und beim Hörer Euphorie in ihrer reinsten Form zurücklässt.
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