„Die Kunst ist das Mittel, durch das wir uns der Perfektion nähern.“ Das ist ein Zitat von Edward Elgar (1857-1934). Ob die folgenden Aufnahmen nennenswerte Schritte auf dem Weg zur Perfektion gemacht haben, soll hier diskutiert werden. Was sich sicher schon mal sagen lässt, ist, dass alle drei Einspielungen in klanglicher Hinsicht nahezu perfekt sind und höchsten audiophilen Ansprüchen genügen. Keine Selbstverständlichkeit, insbesondere dann, wenn es darum geht, das Zusammenspiel von Orchestern und Solisten zu reproduzieren. Technisch sind diese Neuerscheinungen ohne Fehl und Tadel.
Und sonst? Liegen hier interessante Neu-Interpretationen vor? Immerhin handelt es sich durchweg um Klassiker der Orchester-Literatur. Wurden Ansätze entwickelt, die es bislang nicht zu hören gab und den gegen Null tendierenden Repertoirewert dieser Aufnahmen womöglich kompensieren könnten?
Raphaela Gromes, Volodymyr Sirenko, National Symphony Orchestra of Ukraine – Dvořák Cello Concerto
Raphaela Gromes, diese ungemein sympathische Cellistin, hat sich immerhin nicht nur am bekannten Cello-Konzert von Antonin Dvořák (1841-1904) versucht, sondern auch einige kleinere Werke ukrainischer Komponisten eingespielt. Arrangiert für das Orchester wurden diese Werke von Julian Riem, der seit längerem in höchst gedeihlicher Art und Weise mit Raphaela Gromes zusammenarbeitet. Eine Routine-Arbeit ist dieses Album allerdings nicht geworden, schon deshalb nicht, weil es politisch so aufgeladen ist – es steht in Verbindung mit dem Ukraine-Krieg. Wie sehr prägt dieser das Werk?
Keine leicht zu beantwortende Frage. Zwar musiziert das Orchester mit großem sinfonischen Elan, weit ausgreifend und im Zusammenspiel schwelgend. Das gelingt in besonderem Maße bei Dvořáks Bravourstück, mehr als bei den anderen Kompositionen auf diesem Album. Zwar agiert auch die Solistin mit leichter Hand, souverän, akzentuiert und mit viel Gespür für das Spektrum ihres Instruments. Und das ist ein besonders wertvolles Bergonzi-Cello aus dem Jahr 1740.
Aber – und das ist ein etwas größeres „Aber“ – dieses Werk ist in seiner Gesamtanlage zu ostentativ, zu demonstrativ. Es ist zunächst noch nicht allzu irritierend, dass hier eine sehr auf Harmonie und Melodie ausgerichtete Lesart dargeboten wird. Eher eine spätromantische Lesart, keine postromantische. Dazu passen die virtuose Beherrschung aller Instrumente, die sängerische Auslegung der Partitur. Alles legitim, alles vertretbar. Gleichwohl, die Exposition des Orchesters erfährt keinerlei Einspruch, keinerlei Dementi durch die solistische Stimme. Die fügt sich ein in das sinfonische Statement und nivelliert ästhetische Optionen. Da war schon Jacqueline du Prés Auslegung von 1971 schroffer, widerborstiger und komplexer. Bei den Musikern aus der Ukraine scheint hingegen Melancholie das für diese Einspielung von allen verabschiedete Programm zu sein, musikalischer Widerspruch wird nicht zugelassen. Die Grundstimmung ist Moll, eine Stimmung, der sich alle Musiker verpflichtet haben. Jedes Stück auf diesem Album hat etwas Beschwörendes, ja, das musikalische Szenario bietet nichts anderes an als kultivierte Melancholie.
Dazu passen natürlich die Ressourcen des Orchesters, die Tradition eines immer etwas schwermütigen Wohlklangs. Das lässt sich alles sehr gut anhören, zumal die Aufnahme klanglich fast perfekt, ja, bezwingend ist. Allerdings gesellt sich zur programmatischen Traurigkeit westliche Ästhetik im schlechteren Sinne: Hier wird alles in Cinemascope dargeboten, hier wird die klangliche Überwältigungsästhetik aus Hollywood zum Einsatz gebracht.
Indes, nichts ist weniger lustig, als wenn es lustig sein soll; nichts weniger traurig, wenn es traurig sein soll. Dvořáks Cello-Konzert erfährt auf diese Art und Weise keine nennenswerte Neu-Interpretation, und alle anderen Stücke geraten so eher zu Beispielen des merkwürdigen Genres „New Classic“. Vieles, was diesem Genre zugeordnet werden kann, lässt sich mit Fug und Recht als Kitsch bezeichnen, als Gebrauchsmusik, die Emotionen homogenisieren soll. Wer genauer hinhört, geht da nicht mit und wird angesichts der Absicht verstimmt sein.
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Nathalie Stutzmann, Atlanta Symphony Orchestra – Dvořák Symphony No. 9 „From the New World“. American Suite
Stellt sich derlei Verstimmung auch mit der Aufnahme von Dvořáks neunter Sinfonie unter der Leitung von Nathalie Stutzmann ein? Auch das ist nicht leicht zu beantworten. Mit den Fakten ist es etwas einfacher: Nathalie Stutzmann ist eine französische Opernsängerin und Dirigentin. Das Orchester in Atlanta leitet sie seit der Spielzeit 2022/23. Man hört es mit den ersten Tönen: Dieses Orchester gehört musikalisch und klanglich zur ersten Liga. Und das Dirigat von Stutzmann ist ausgesprochen präzise und erinnert in seiner Genauigkeit an die besten Dirigate von Abbado oder Boulez. Dadurch entsteht enorm viel Raum, Luft und Transparenz. Diese Aufnahme vermittelt eine außerordentlich hohe Klangkultur. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es sich hier um eine Live-Aufnahme handelt.
Bei all den klanglichen und ästhetischen Vorzügen muss gleichwohl die Frage erlaubt sein: Warum noch eine Aufnahme dieses absoluten Bestsellers in der Aufführungs- und Aufnahmehistorie? Gibt es Neues über Dvořáks neunte Sinfonie mitzuteilen? Dvořák selbst soll gesagt haben: „Im Grunde genommen finde ich, dass der Mensch Musik nicht machen kann – er entdeckt sie nur.“ Ist es also so? Entdecken die Musiker aus Atlanta unter der Anleitung von Stutzmann etwas?
Wagen wir die Probe aufs Exempel und kramen die quasi ewige Referenz für dieses Werk raus, Kubeliks Aufnahme mit den Berlinern Philharmonikern aus dem Jahr 1966. Im direkten Vergleich offenbaren sich die Unterschiede in der ästhetischen Philosophie sofort: Bei Stutzmann ist viel Verheißung, viel Elan und Zuversicht – die Neue Welt erscheint klar und geordnet und, ja, auch das, etwas steril. Denn bei Kubelik tritt neben die Verheißung das Scheitern, neben das Strukturierte der Architektur der Lärm, die Hektik und der Unrat. Stutzmann erzählt die Geschichte „Vom Tellerwäscher zum Millionär“, Kubelik die Geschichte vom Tellerwäscher und vom Millionär.
Die Musiker aus Atlanta agieren ungemein klar, transparent und wohlgeordnet; zwischen den Tönen viel Sauerstoff und klare Sicht. Dabei zögern die Sinfoniker nichts hinaus, es wird keineswegs zu langsam gespielt. Aber unter Stutzmann ist alles sehr konturiert und klar terminiert. Wie anders bei Kubelik? Hier rumpelt und knarrt es, hier sind die Dynamiksprünge größer, in jedem Falle aber heftiger und abrupter. Welche Aufnahme ist ehrlicher, authentischer?
Das lässt sich so nicht sagen. Die neue Einspielung besticht durch außerordentliche Klangästhetik, durch klare Linien und ein sorgfältiges Gespür für Details in der Partitur. Nichts davon verhallt ungehört oder klingt gar nicht an. Insofern ist diese Aufnahme zweifellos für jeden Audiophilen ein Genuss. Aber besagte Sterilität nimmt auch etwas vom emotionalen, expressiven Potential der Komposition Dvořáks. Und man gewinnt über die technischen Finessen hinaus kaum den Eindruck, dass der Rezeptionsgeschichte ein neuer, wichtiger Beitrag hinzugefügt worden sei.
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Vilde Frang, Robin Ticciati, Deutsches Symphonie-Orchester Berlin – Elgar Violin Concerto
Einen solchen Beweis müsste natürlich auch die neue Einspielung von Vilde Frang antreten können, will sie ihren Platz in der Diskographie legitimieren. Die norwegische Musikerin hat sich Elgars bekanntes Violinen-Konzert vorgenommen. Gemeinsam mit Robin Ticciati und dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin (DSO). Robin Ticciati hat das DSO in den letzten Jahren zu einem hervorragenden Klangkörper gemacht. Zur inzwischen äußerst positiven Reputation des Orchesters haben diverse audiophile Aufnahmen bei Linn-Records beigetragen.
Wollte man jetzt diese Aufnahme mit den beiden zuvor genannten vergleichen, wäre spontan festzuhalten, dass hier mit deutlich mehr Verve und Aplomb ans Werk gegangen wird. Dem Melancholischen oder Antiseptischen werden hier Klangfarben entgegengesetzt, lebensvoller Ausdruck und die Vielfalt an Emotionen. Das geht vom ersten Ton an so zu. Und so werden andere Gefühlslagen, andere klangliche Höhen erreicht. Apropos Klang: Auch dieses Album ist in dieser Hinsicht hervorragend und präsentiert ein großes akustisches Panorama, das fein gearbeitet und sorgfältig ausgeleuchtet ist. Besser kann man das kaum machen.
Der Diskurs zwischen Orchester und Solistin verkümmert hier nicht zur gegenseitigen Bestätigung der aktuellen Gefühlslage, sondern er ist ein lebendiges Streitgespräch mit Widersprüchen, leisen und lauten Tönen, wechselnden „Redeanteilen“ und unterschiedlichsten Stimmlagen. Und hier wirkt alles etwas skandalöser, etwas draller und lebensvoller, weder programmatisch schwermütig noch steril poliert. So kommt das Widersprüchliche, Antagonistische, Überraschende und Übermütige in Elgars erratisch-sinfonischem Konzert zum Ausdruck.
Ob diese Einspielung über den Tag hinaus Bedeutung erhalten wird, muss sich weisen. Für den Moment kann allerdings konstatiert werden, dass sie eine ungemein zeitgemäße Deutung von Elgars Violinen-Konzert enthält, in klanglicher wie in ästhetischer Hinsicht. Dazu kommt, dass Vilde Frang gar nicht versucht, das Schwierige, Widerborstige dieser Komposition zu bändigen. Ihr Spiel weist ein komplexes Widerspiel von fließender, flirrender Melodik – mit zum Teil extrem feinen Zwischentönen – und harscher, fast atonaler Gegenrede auf. Das ist im engeren Sinne vielleicht gar nicht virtuos, aber dafür umso mehr der emotionalen Komplexität von Elgars Komposition verpflichtet.
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