Inhaltsverzeichnis
Paul Brody’s Sadawi – Vanishing Night
Nachdem in letzter Zeit an dieser Stelle öfter als einmal gen Norden geschielt wurde, wird heute vor der eigenen Haustüre gekehrt, denn warum in die Ferne schweifen, und was der einschlägigen Sprichworte mehr sind, wenn das Gute doch auch in den hiesigen Vierteln wohnt und wirkt, auf dass wir seine Elaborate auf unseren Plattentellern kreisen lassen können.
Zum Beispiel die des Wahl-Berliners Paul Brody, seines Zeichens Trompeter, Komponist, Klangkünstler und Autor mit Vorliebe für Klanginstallationen und Performancetheater. Sein 2011 gegründetes Ensemble Sadawi ist angetreten, die Berührungspunkte von modernem Jazz und traditionellem Klezmer auszuloten, wobei es – getreu dem Motto „God Is My Co-Pilot“ der in den Siebzigern begründeten Radical Jewish Culture-Bewegung – jüdische Philosophen wie Buber oder Benjamin zur Inspiration heranzieht. Nachdem das Quintett drei Alben für John Zorns Label Tzadik aufgenommen hat, veröffentlicht es mit Gastvokalistin Jelena Kuljic seine aktuelle Platte auf Yellowbird Enja, wo es sich in guter Gesellschaft mit Künstlern wie den Offpiste Gurus, den Tenors of Kalma oder Alexa Rodrian befindet.
Brody nennt Vanishing Night sein autobiografischstes Album „Klangportrait des Lebens zwischen Welten: schlafend und wach, Theater und Musik, Sprache und Melodie, Vergangenheit und Gegenwart“, denn schließlich habe sich der Musiker mit dem Zustand des Dazwischen nicht nur arrangiert, sondern sei nachgerade süchtig nach ihm geworden. Den Auftakt macht „Gathering Light“ mit einem klagenden Klarinettenton, der bald schon aufgefangen wird vom warmen Bandsound und der ihn ablösenden Trompete, die sich ihrerseits aufmacht, sich emporzuschwingen, bis sie über dem Klangteppich nachgerade schwebt, um selbst dann, wenn sich das Ganze seinem Höhepunkt stetig steigernd entgegenwindet, dieser seltsam verhaltenen Zwischenstimmung verhaftet zu bleiben. Das ändert sich grundlegend mit „Mighty Max“, dessen erste Noten wachrütteln. In diesem Stück, entstanden in Meditation über einen Bildband des Malers Felix Nussbaum, findet sich am ehesten noch Widerhall osteuropäischer Tanzmusik, die, wie Nussbaums Leben, jäh verstummen soll: Da klappert der Bass, wie er es in einem herkömmlichen Tanz nicht würde, da jaulen die Bläser auf wie getreten, um wieder in den Ursprungsgroove zurückzufinden, der sich nun als eine Art Trauermarsch entpuppt, ein Tanzen in den Tod, dem dennoch, durch die Figur eines Kindes, durch Wandlung von F-Moll in As-Dur, ein hoffender, zukunftsweisender, ich scheue mich zu sagen: versöhnlicher Ausklang innewohnt.
„Two Self Portraits“ wurde ebenfalls von Nussbaums Malerei inspiriert, beide Bilder datieren aus dem Jahr 1943, eines zeigt den Maler mit offenem Hemd und Pfeife im Mund, er scheint glücklich und selbstsicher. Das andere dann mit Davidstern auf dem Mantel, den Kragen hoch aufgestellt, mit gehetztem Blick seinen mit Juif – Jood überstempelten Pass vorlegend. Hier geht es Brody darum aufzuzeigen, wie schnell sich doch ein Leben ändern kann – auch heute noch. „Wir sind“, so der Musiker, „dieser prekären Situation näher als wir uns vorstellen möchten.“ Das Unbehagen darüber vertreibt erst die warme Stimme von Jelena Kuljic, welche der dem polnischen Dichter Czesław Miłosz gewidmeten „Thankfulness“ Nachdrücklichkeit verleiht. Mit „Grimace“ schließt sich die Nussbaum-Trilogie des Albums. Dieses Stück ist einem im Karnevalsgeschehen zu verortenden Bild des Malers gewidmet, und natürlich wäre Nussbaum nicht Nussbaum (und der darüber komponierende Brody nicht Brody), zeichnete er den Karneval nur ausgelassen und fröhlich. Sadawi lässt es an scharfen, schmerzenden Tönen nicht fehlen; dennoch gelingt es dem Quintett immer wieder, in einen flüssigen (hier: Funk-)Groove zu finden, der das Ganze jenseits des bedeutungsschweren Inhalts zu schlicht guter Musik macht. Zurück in die dämmerige Stimmung des Anfangs versetzt der Zwiegesang von Trompete und Akustikgitarre auf „Night Bloom“, das fast als Nordic Jazz durchgehen könnte, klängen darin nicht immer wieder uralte osteuropäische … nicht Themen, sondern eher Ahnungen an.
Zu Beginn der viersätzigen „Theater Suite for David Marton“ wiegt einen zunächst wieder die warme Klarinette in Sicherheit, bis der schärfere Trompetenton übernimmt. Beide Stimmen umkreisen sich, konterkarieren einander, um letzten Endes doch zu einer Harmonie zu finden, und erst beim Einsatz der Gesangsstimme fällt auf, dass die Bläser hier „Lacrimosa“ aus Mozarts Requiem angestimmt haben, das sich in einem New-Orleans-esken Trauermarsch auflöst. Hat man erst einmal sein inneres „Darf das?“ überwunden, darf auch Purcells „One Charming Night“. Vor allem, da Brodys Arrangement damit behutsamer verfährt als mit Mozart. Herausfordernder ist da schon „Die Nacht“, einer aus Nr. 13 Chor mit Soli gelösten Zeile aus Haydns Schöpfung, die sich hier irgendwo zwischen Raggamuffin und Russendisko, experimenteller Spoken Word Performance und diesem immer wieder aufscheinenden, (an-)klagenden Trompetenton eingerichtet hat. Werktreue ist sicherlich anders, doch passt das Ganze – das erst durch die im Originallibretto nachgelesene, vorangestellte Zeile Dem kommenden Tage sagt es der Tag verständlich wird – mittels seines Die Nacht, die verschwand, der folgenden Nacht-Topos in die Zwischenwelten des Albums, während sich Bachs „Prelude XII“ in nahezu traditionellen Klezmer – eine Doyna vielleicht? – wandelt und dabei doch die ursprüngliche Stimmführung behält, dass man gar nicht anders kann, als sich daran zu erfreuen. Hochsymbolisch schließt das Album mit „Vanishing Night“, womit es einmal mehr zeigt, dass selbst inmitten der größten Schrecken Hoffnung zu keimen vermag, und, dass sich mit außermusikalischer Bedeutung schwer beladene Komposition auch schlicht gut anhören kann.
Paul Brody’s Sadawi – Vanishing Night auf Amazon anhören
Hans-Joachim Roedelius & Arnold Kasar – Einfluss
Gut anhören lässt sich auch das Album des ungleichen Duos Hans-Joachim Roedelius und Arnold Kasar. 1934 in Berlin geboren der eine, ein fast dreißig Jahre jüngerer Wahl-Hauptstädter der andere. Hier der große alte Mann der Avantgarde, da der Electrojazzer aus dem Umfeld von Acts wie Micatone, Nylon oder Friedrich Lichtenstein. Autodidakt der eine, klassisch ausgebildet der andere. Und doch: Als Roedelius 2010 auf Kasars erstes Soloalbum stieß, war der Krautrock-Guru so angetan, dass er ihn vom Fleck weg einlud, auf seinem Festival More Ohr Less in Lunz bei Wien zu spielen, dem „kleinsten Festival der Welt“. Der Grundstein einer Künstlerfreundschaft war gelegt – und mit ihm der Plan einer späteren Kollaboration. Der geht jetzt mit dem auf Deutsche Grammophon veröffentlichten Einfluss auf.
Das mit fünfzehn von neunzehn Titeln größtenteils aus der Improvisation – dem Roedelius’schen modus laborandi – entstandene Album lässt sich mit „Rolling“ in einer Art warmer Wellenbewegung an, wie klanggewordenes Durchs-Wasser-Gleiten, bei dem man die Zeitlupenbewegungen der Unterwasserwelt beobachten kann, während einen selbst die Sonnenstrahlen berühren. Auch die folgenden Stücke zeichnen eher eine Stimmungsmatrix, auf deren Grundlage der Hörer frei ist, seine Gedanken in beliebige Richtungen fortzuspinnen. Wo Brody konkrete Inhalte vorgibt, ist diese Musik vor allem eins: offen für individuelle Zuschreibung von Sinn, denn Roedelis‘ Klavier und Kasars Synthesizer bahnen introspektivem Gedankenfluss den Weg. Einfluss erscheint dem Hörer als einzige Klangschleife, angetan, sich meditierend in ihr zu verlieren. Beim Live-Erlebnis indessen war dies – wohl dem improvisatorischen, sich stets wandelnden Charakter des Werks geschuldet – völlig anders, hier gab es weitaus mehr die Aufmerksamkeit fokussierende Hinhörspitzen.
Doch dann kommt auch auf dem Album ein Titel wie „Wiese“, der aufhorchen lässt, einfach, weil sich die Atmosphäre ändert, kein Synthesizer dabei ist, lediglich zwei Klaviere, die erst aufeinandertreffen, dann zusammenfinden. Ist man zunächst an ein Kinderlied erinnert, greift schon bald einer – und wie sie aufeinander hören! – das Motiv des anderen auf, und während der eine noch dem Thema nachspürt, beginnt der andere, eine mögliche Begleitung auszuloten, bis sich dann doch wieder synthetische Sounds dazugesellen, behutsam, doch genug, um wieder diesen wässrigen Traumcharakter, eine Art Mutterleibsgefühl, über das Ganze zu legen. Und immer wieder taucht dieses kleine Thema auf, sieben Töne nur, und schon jetzt ist klar, dass es dieses Fragment ist, das von der Platte im Gedächtnis bleiben, sich in die Hirnwindungen fräsen und fortan auf den Straßen gepfiffen wird.
„Aare“ gefällt sehr, zumindest solange, bis ein wahrer Arpeggienregen einsetzt, der besser Niesel geblieben wäre, doch findet das Stück zu seiner anfänglichen Stärke zurück, einer klaren, aber niemals kühlen Formsprache, während auf „Mollmaterial“ kleine Brizzeleien über gebetsmühlenartig Repetiertem zum Hinhören zwingen. „Ybbs“ könnte wieder zum Davonträumen animieren, wäre man nicht so nah dran, denn wie überhaupt auf der gesamten Aufnahme hört man hier die Musiker atmen, auf ihren Stühlen rutschen, es ist, als säße man direkt daneben und hörte nicht nur, sondern sähe auch zu. Hier wird zweidimensionale Konservenmusik zu 3-D.
Wenn dann noch, wie auf „Nersis“ ein bedrohlicher Drone dazukommt, ist sichergestellt, dass Einfluss nicht als austauschbare Ambient-Tontapete taugt, und doch fühlt man sich so manches Mal an Achim Rinderles Zen-Klarinette im Liquidrom erinnert. Auf „Asco“ indessen glaubt man gar, ein bisschen John Lennon zu vernehmen – allerdings einen, der sich unverhofft zur After Hour in einem Technoclub wiederfindet. „Lullaby“ verströmt nicht nur eine Art eigenwilliges organisches Atmen, denn scheint hier nicht auch wieder, einer versteckten Reprise gleich, das Mitpfeifthema von vorhin durch? Es wäre ein guter Abschluss gewesen, denn mit „Sula“, das allzu sehr den Clayderman herauslässt, folgt das einzig verzichtbare Stück dieses ansonsten über den Verdacht bloßer Klangkulisse so erhabenen Albums.
Hans-Joachim Roedelius & Arnold Kasar – Einfluss auf Amazon anhören
Plattenkritik: Paul Brody’s Sadawi | Hans-Joachim Roedelius & Arnold Kasar