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Mit ihrem dritten Solo- und ersten eigenen Jazzalbum A Higher Desire lässt Pat Appleton endgültig die Lounge-Klänge von DePhazz hinter sich – und zwar weit. Getrieben von dem Wunsch, „mich endlich einmal so zu hören, wie das bei mir im Kopf klingt“, stellt der zwischen traditionellem Vocal Jazz (musikalisch) und NuSoul mit Blaxploitation-Einsprengseln (im Geiste) mäandernde Longplayer die Stimme seiner Protagonistin klar in den Vordergrund.

Zu beweisen hat diese allerding nichts, denn dass Appleton singen kann, hat sie spätestens auf dem im August 2014 im A-Trane aufgenommenen Live-Vinyl Garage Pompeuse – The Berlin Session gezeigt, wo die DePhazz’schen Beats ins Jazz-Gewand gehüllt wurden. Dass sie auch eine formidable Songschreiberin ist, zeigt die Sängerin jetzt mit ihrem neuen Quintett, das von Martin Auer an Trompete und Flügelhorn, Olaf Casimir an Kontrabass und Bassukulele, Michael Kersting am Schlagzeug und Sebastian Weiss am Klavier komplettiert wird.

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Die zehn Songs versprechen ein Album von klassischer Länge – und klassisch, um nicht zu sagen: im Burt-Bacharach-Stil, geht es auch auf „New World Brave“ los, genauer: mit einer Art jazzclubbigem Gerumpel, über dem Appletons verhauchte Vocals Lush Life pur verheißen, bis das Ganze immer getriebener und sehr, sehr jetztzeitig wird, wenn die Sängerin klagt, information becomes noise und slowing down is a taboo. Anstatt sich aber den An- und Übervordernissen des modernen Lebens zu ergeben, driftet die angenehm aus der Zeit Gefallene immer wieder abgelenkt weg und nimmt auch den Hörer mit. Alltagslärm hat hier keinen Zutritt!

„A Dangerous Thing“ mit seinem dominanten, ach-so-smoothen Flügelhornklang könnte dann auch glatt als Dinnerjazz durchgehen, wäre Appleton nicht so fordernd – und der Text nicht gar so mörderisch. Dabei geht es diesmal doch „nur“ um Liebe und nicht um Politik, dem Leib- und Magenthema der in den sozialen Medien einschlägig engagierten Künstlerin. Dann aber! Dann kommt „Abstract“ mit seinem unglaublich packenden und sehr, sehr sexy Groove, wo Appletons suggestive Vocals mit den Hi-Hats ver-, ach was: in sie hineinschmelzen, denn das ganze Stück lebt von einem Zeitlupenrhythmus, zu dem man knurren, schnurren, sich räkeln möchte wie zuletzt nur zu Cherokees „Blue Bottle Afta Shave“, während die etchy Trompete an Roy Hargroves RH Factor gemahnt. Hier steckt so viel gehörter Soul und Funk drin, dass man auch die nun drohende Ballade „Everyday Love“ verzeiht, bei der man nur denkt, hach ja, eine Ballade – und zwar eine derart süßliche, angesichts derer sogar die als „bissige Preußin“ bekannte Sängerin zugegeben hat, sie beim Hören des Albums gelegentlich zu überspringen … Aber auch die dauert nicht ewig und „Herbertine“ überzeugt mit seinem Kontrabasssoloauftakt, gefolgt von nervösem Jazzclub-Groove, zu dem Appleton die Jill Scott gibt. Und dann heißt es bei „Peach Blossom“ auch schon wieder Balladenalarm – für mich eindeutig Schwachpunkt eines ansonsten nicht schwachpunktarmen, sondern sogar schwachpunktlosen Albums. Im Gegensatz zu „Everyday Love“ gibt’s hier aber wenigstens eine Art experimentell-poetisches Rauschen, das hinhören lässt.

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Mit „A Higher Desire“ folgt eine echte Türöffnernummer, die mit ihrem gospeligen 6/8-Pattern, einem Sofort-Mitsing-Refrain und viel mhhh, hm hm, uh uh all das vergessen macht. Ob sich das higher desire to be with you indessen auf Jesus oder den Ehemann bezieht, bleibt hier, wie bei jedem guten Soulgospel, erst einmal der Hörerphantasie überlassen. Tatsächlich, verrät die Sängerin, geht es in dem Stück um den berühmten Münsteraner Trauerschwan, der sich in ein schwanenförmiges Tretboot verliebte – „ein Versprechen, das sich nicht erfüllte“, so Appleton. „Das hier ist ihr Schwanengesang. Es könnte sich auch um ein Zwiegespräch mit einer Gottheit handeln. Oder vielleicht um die Beschreibung eines Fetischs? Man folgt plötzlich fremdbestimmt – und der Verstand ist kurzzeitig außer Kraft gesetzt.“

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Und dann wird es wieder sozialkritisch. Auf „Paradise“ verwandelt sich die Berlinerin in einen weiblichen Curtis Mayfield, stilecht untermalt von schrägen Bläsersätzen. Zurück in den Jazzclub geht’s mit „Other People’s Lives“. Mittlerweile ist es Round Midnight, was das Pat Appleton Quintet nicht daran hindert, mit der Uptempo-Nummer „The Blame Game“, in der ganz leicht der Bahama Soul Club anklingt, noch einmal voll aufzudrehen und den Hörer mit der optimistischen Verheißung zu entlassen, dass er im Grunde doch immer die Wahl hat, und zwar bei allem, was er tut. Wer statt des Vinyls die CD abgespielt hat und nicht schnell genug bei der Stopp-Taste war, bemerkt den perfekten Kreisschluss, wenn das Album wieder von vorn beginnt: Von den selbstverlorenen Eingangszeilen living in a dream und floating in the sea nimmt es, einem Initiationsroman gleich, die Entwicklung zur Erkenntnis der Wahlfreiheit, und scheut dabei auch nicht die Zwischenstation im Unbequemen, sei es die vom Alltagstrott verschluckte Liebe oder das von Social-Media-Sucht verschluckte Leben.

Nicht schlecht für ein Quintett, das sich ursprünglich zusammengetan hat, um Galaauftritte mit Jazzstandards zu bestreiten und nun ein Album ganz ohne Produzent, dafür mit Gerhart-Hauptmann-Urenkel Emanuel am Ton gewagt und dabei gewonnen hat.

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