Victoriah Szirmai / Januar 2011
Diese Ausgabe unserer Musik-Kolumne enthält acht neue Platten von folgenden Künstlern: Wollny/Kruse/Schaefer | Norah Jones | Caroline Henderson | Ben L’Oncle Soul | Jamiroquai | An Pierlé & White Velvet | Beady Belle | Paolo Conte
Wollny | Kruse | Schaefer, [em]Live
Von allen Monaten ist mir der Januar der unliebsamste. Dunkel, kalt und nass ist es zwar auch zu anderen Zeiten. November-Blues? Geschenkt!
Den erwartet man ja gewissermaßen und ist jedes Mal wieder erstaunt, wenn er sich nicht einstellt. Dezember lässt durch Endjahreshektik einerseits und Festtagsglanz andererseits gar keine trübe Stimmung aufkommen. Besinnlichkeit erwünscht, Sofa kuscheln, Teepunsch trinken, Plätzchen naschen … Alles schick. Im Januar dann verlöschen die blinkenden Lichter. Es ist aber immer noch dunkel. Und irgendwie leer. Nie braucht man den Frühling so sehr wie im Januar! Der ist aber noch weit weg und stattdessen stellt sich eine gewaltige Neujahrsdepression ein. Der Januar ist der ideale Monat, sich mit Auswanderungsphantasien zu tragen.
Dagegen hilft nur zweierlei: Musik, die nicht beim Trübsalblasen stört, die einen sanft an die Hand nimmt und tröstet. Und Musik, die so laut und wild und gutgelaunt ist, auf dass der Trübsal der Marsch geblasen wird, der Mensch den Hintern hoch und das Hirn frei kriegt. Beides haben wir heute im Angebot.
Los geht es mit einem der wohl interessantesten Alben der letzten Wochen: [em]Live. Em – das war für mich bis jetzt vor allem der Kosename von meinem Hund. Musikalisch kannte ich das Kürzel als Bezeichnung für den Rapper Eminem. Und jetzt prägt sich eine weitere Bedeutung ein.
2002 von der Bassistin Eva Kruse gegründet, sorgte das Nu-Generation-Avantgarde-Trio [em]schon mit seinem 2005er Debütalbum Debüt Call It [em]für Aufsehen und bescherte Kruse und ihren Mitstreitern Eric Schafer (dr) und Michael Wollny (p) eine Blitzkarriere: Die Kritiker sahen in [em]die Retter des deutschen Jazz‘ (Süddeutsche), ja, das aufregendste Piano-Trio der Welt (Zeit). Und tatsächlich hat wohl niemand dem Neuen Deutschen Jazz in den letzten Jahren so nachhaltig seinen Stempel aufgedrückt wie die drei von Siggi Loch produzierten Berliner mit Call It [em]und den beiden Nachfolgealben [em]II und [em]3 – bis hin zum Jazz-Echo für Michael Wollny reichen die dafür verdienten Preise. Doch wie das so ist, wenn man seit Jahren zusammenspielt und miteinander wächst: Irgendwann setzt ein Abnutzungseffekt ein.
Babypausen und Terminkoordinationsprobleme ob der zunehmenden Nebenprojekte der [em]-Mitglieder gestalteten die Trio-Arbeit zunehmend schwieriger. Und wie in einer Beziehung musste man sich die Frage stellen: trennen oder zusammen bleiben? Bei [em]entschied man sich, die Krise gemeinsam durchzustehen.
Man hatte lange nicht zusammengespielt und stand unter großem Druck – schließlich war allen bewusst, dass der Abend mitgeschnitten wird -, dennoch (oder gerade deshalb) geriet der Auftritt bei JazzBaltica am 4. Juli 2010 zum „Befreiungsschlag“ (Kruse) für das Trio. Es hätte auch daneben gehen können. Stattdessen flossen all die Affekte in die Energien dieses Abends – und ließen [em]zum umjubelten Höhepunkt des Festivals werden.
Wie sie das gemacht haben? Mit einer Mischung aus vier ihrer „alten“ Hits (Phlegma Phighter und Gorilla Biscuits von [em]II und Arsène Somnambule und Kiyoshi von [em]3) sowie sechs neuen Stücken, in denen der Groove mehr im Vordergrund steht als bisher – wie beispielsweise im Kruses Tochter gewidmeten Sov Lilla Alma. Der fast schon rockige Ansatz [em]s spiegelt sich auch in der Reaktion des sonst so gesitteten Festivalpublikums wider: Klatscht es zunächst noch verhalten, hört man es schon ab der Albummitte johlen und schreien. Man wolle dem Jazz seine Dringlichkeit zurückgeben – schließlich sei sein Grundgedanke doch das Risiko, so Pianist Wollny, man wolle gewissermaßen den Punk im Jazz.
[em]machen keine Wohlfühlmusik, keinen Smooth Jazz, der auf Konsens setzt. Hier geht es auch mal atonal zu, wild und laut, die Improvisation nimmt mindestens soviel Raum an wie die ausnotierten Parts. Eine Art Post-Free Jazz. Bestimmt nicht immer einfach zu hören. Für ein bestimmtes Klangbild wirft Schäfer auch schon mal Eisenketten auf die Trommelfelle, und Wollny stellt Aschenbecher auf seine Klaviersaiten. „Schön“ klingt anders. Und genau das ist so wohltuend im Norah Jones- und Till Brönner-Land.Die Auszeichnung zum „besten Jazzalbum der letzten 25 Jahre“ durch den britischen Jazz-Papst Stuart Nicholson hat [em]live hundertprozentig verdient.
Okay, halten wir ihr zu Gute: Jeder, der nach [em]in meinem Wohnzimmer Musik machen möchte, hat erst einmal zwangsläufig verloren. Man kann sich aber auch direkter fragen: Wie kann man nur mit einer der schönsten Stimmen der Gegenwart gesegnet sein und dann solch schalen Sch… damit machen? Weinen möchte man da! Und so also geht meine Hassliebe zu Miss Jones (siehe auch Rezension Februar/2010) mit der 18-Track-Compilation-CD Featuring in die nächste Runde.
Schade, denn die Idee eines Albums mit gesammelten Duetten ist an sich schön. Man muss nicht mühevoll suchen und daraufhin in tausend verschiedene CDs investieren, um alle Kollaborationen eines Künstlers hören zu können. Ich selbst besitze eine uralte tschechische Pressung des Ray Charles-Albums Friendship. Der betagte Soulmann im Zwiegesang mit allerlei Country-Größen wie Johnny Cash und Willie Nelson – das hat mir schon damals gut gefallen. Country-Freunde kommen auch bei Norah Jones‘ Neuer auf ihre Kosten: Willie Nelson gibt sich auf dem 1944-er Frank Loesser-Klassiker Baby It’s Cold Outside die Ehre, Country-Königin Dolly Parton wurde eingeladen, um Creepin’ In, das im Original von Jones’ Album Feels Like Home stammt, als Duett neu einzusingen; mit Jazz-Sängerin Sasha Dobson singt sie die „live fast/die young/no fools/no fun“-Johnny-Cash-Nummer Bull Rider; und selbst Ray Charles wird studiotechnisch noch einmal von den Toten erweckt, um mit Jones seinen Hit Here We Go Again zum Besten zu geben. Seit Natalie Cole mit ihrem verstorbenen Vater Nat „King“ Cole in Unforgettable brillierte, ist der Überraschungseffekt allerdings etwas abgenutzt. Und ob sich jemand dazu aufschwingen sollte, sich mit einem der ganz Großen, der sich nicht mehr dagegen wehren kann, durch ein „unechtes“ Duett auf dieselbe Stufe zu stellen, sei dahingestellt. Von großem Selbstbewusstsein zeugt es zumindest.
Wie auch der Rest der Platte, denn die Kollaborationspartner der Dame mit dem Talent zur Fahrstuhlmusik und dem Hang zu einem musikalischen Spektrum irgendwo zwischen banal und seicht verfügen allesamt über Reputation, Rang und Namen in der Musikszene. Ob Rapper wie OutKast, Q-Tip oder Talib Kweli, Jazz-Größen wie Herbie Hancock, Rocker wie die Foo Fighters (deren Beitrag Virginia Moon an den Zwiegesang von Robbie Williams und Nicole Kidman auf Somethin’ Stupid erinnert), Indie-Popper wie Belle & Sebastian, Singer-Songwriter wie Ryan Adams oder eben die eingangs erwähnten Country-Barden – Norah Jones macht vor keiner Gattung Halt.
Dabei tummelt man sich nicht zwangsläufig im jeweiligen Heimatgenre der Duettpartner. Take Off Your Cool mit OutKast beispielsweise kommt als relaxte Akustikgitarrennummer daher, die man eher den Red Hot Chilli Peppers zugetraut hätte als den HipHoppern aus Atlanta. Ein wirklich schöner Track, wie auch The Best Part mit den Punk Rockern von El Madmo – meiner Meinung nach die coolste Nummer auf dem Album. Allerdings kann man das nicht wirklich als Kollaboration bezeichnen, schließlich ist El Madmo ein Inkognito-Nebenprojekt von Norah Jones. So würde ich sie gern öfter hören! Ganz großartig ist – bis auf den wie aus dem Nichts auftauchenden, höchst irritierenden Geigenton im Refrain – auch Dear John mit Ryan Adams, was wohl aber größtenteils dem charismatischen Sänger zu verdanken ist. Gar nicht schlecht auch der Schlusstrack Blue Bayou mit Country-Gitarrist M. Ward.
Im Prinzip aber steht das Country-Idiom Norah Jones nicht. Augenfällig wird dies im direkten Vergleich wie dem Duett mit Dolly Parton. Die musikalischen Fähigkeiten von Norah Jones sind eben beschränkt – und zwar auf smoothen Pop Jazz. Für „richtigen“ Jazz wie beispielsweise die Herbie Hancock-Kollaboration reicht ihre musikalische Phantasie leider nicht. Will da heißen: Featuring tut Norah Jones keinen Gefallen und ist für jeden echten Musikliebhaber ein Ärgernis, um nicht zu sagen, ein Affront, und vor allem: nicht schön. Und wo „nicht schön“ bei [em]ein Kompliment ist, meint es hier genau das, was man in herkömmlichem Sinne darunter versteht.
Und für die wenigen Highlights muss man Featuring sicherlich nicht kaufen. Stattdessen könnte man lieber in die Originalalben investieren, auf denen sie enthalten sind. Beispielsweise in El Madmos 2008er-Debüt oder in das Doppelalbum Speakerboxx – The Love Below von OutKast. Haken wir Featuring unter dem Stichwort „Weihnachtsgeschäft“ ab. Immerhin dürfte dieses Album ein nettes Weihnachtsgeschenk abgegeben haben. Kratzende Selbstgestrickte sind da schon schlimmer – allerdings nicht viel.
Caroline Henderson, Keeper of the Flame
Wie man „richtigen“ Jazz richtig macht, zeigt die schwedisch-dänische Jazz-Diva Caroline Henderson. Ihr neues Album Keeper of the Flame reiht sich ein in jene Aufnahmen der Sängerin, die sie zunächst ganz für sich allein gemacht hatte. Nach Jahren als Mitglied einer Popgruppe sowie diversen Soulpop-Alben und Soundtracks als Solokünstlerin war Henderson an einem Punkt angelangt, wo sie mit einem Zuviel an Musikindustrie, aber einem Zuwenig an Musik selbst konfrontiert wurde. Sie beschloss, die Notbremse zu ziehen und ein Album aufzunehmen, welches für sich spricht: ohne Interviews, Fotoshootings oder andere Promo-Aktivitäten, ganz pur. Heraus kam Don’t Explain (2004), ein Nachhausekommen zu der Musik aus Hendersons Kindheit. Billie-Holiday-Klassiker fanden sich hier ebenso wie verjazzte Versionen der Lieder von beispielsweise Grace Jones oder Velvet Underground. Und zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Caroline Henderson das Gefühl, zu ihrer eigenen Stimme gefunden zu haben.
Don’t Explain fand seine Fortsetzung in No. 8 (2008), wieder eine smoothe Mixtur aus supertraditionell und hochmodern, aus Cole-Porter-Standards und ins jazzige Idiom übertragenen Popsongs – damit hat es immerhin schon Cassandra Wilson (siehe Rezension Juli/2008) zum Superstar am internationalen Jazzhimmel geschafft. Als aber die Aufnahmen zu No. 8 beendet waren, hatte Henderson das Gefühl, diesbezüglich noch jede Menge sagen zu müssen. Und so wird mit Keeper oft the Flame nun gewissermaßen Seite zwei von Don’t Explain und No. 8 aufgeschlagen.
Mit einem Unterschied: Reflektierten die Vorgängeralben noch das Leben und die Liebe im Allgemeinen, geht es auf Keeper oft the Flame detaillierter zur Sache. Vor allem aber wird es politisch, beispielsweise mit der grandiosen Eigenkomposition Evolution, einem Song im Stil der großen James-Bond-Themen. Oder dem Bob-Dylan-Track Ring Them Bells, laut Henderson „one of the greatest lyrics that’s ever been written”, ein Aufruf für mehr soziale Verantwortung mit spirituellen Zwischentönen. Sie könne, so Henderson, der Botschaft von Ring Them Bells in jedem Detail zustimmen. Nachdem sie diesen Song eingesungen hatte, beschloss sie, ihm zum Ausgangspunkt des gesamten Albums zu machen, auf den sich jeder weitere Song zu beziehen hatte. Dennoch fehlt hier auch eine gewisse Sexiness nicht: Schließlich müsse überall dort, wo eine Aussage über das Leben gemacht wird, auch etwas Lust enthalten sein. Und so verwandelt Henderson den PJ Harvey-Track This Is Love in das, was sie im Interview (siehe klangverfuehrer.de) die „Essenz der Lust“ nennt.
Ein großartiges Album einer großartigen Sängerin. Besser geht kaum.
Ben L’Oncle Soul, Ben L’Oncle Soul
Und gleich noch einer, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Flamme weiterzutragen und die alten Songs am Leben zu halten – ebenso wie neueren den Stempel seines ureigenen Stils aufzudrücken. Diesmal geht es allerdings um das Liedgut des Sixties’ Soul, ein bisschen Motown hier, ein bisschen Stax dort. Nicht schon wieder eines dieser Jüngelchen (wie zum Beispiel hier, hier oder hier (-:), höre ich Sie schon seufzen. Nee, bestimmt nicht, denn auch wenn der 1984 als Benjamin Duterde geborene Ben L’Oncle Soul ebenso jung ist wie seine Retro-Soul-Kollegen, ist er unter ihnen etwas Besonderes: nämlich Franzose. Und Frankreich ist schließlich nicht unbedingt berühmt dafür, den Soul erfunden zu haben – ja nicht einmal dafür, überhaupt Soulsänger hervorzubringen. Spontan fällt mir da jetzt nur Mathieu Edward ein.
Und der lustige Franzose kann mehr, als nur die alten Klassiker wie Sam & Daves Soul Man so zu covern, dass man glauben könnte, man habe es mit den Originalen zu tun: Zum Schreien komisch und genial, wie er Songs wie Seven Nation Army der White Stripes oder Katy Perrys I Kissed A Girl seinem Genre einverleibt – wetten, dass Sie die noch nie so gehört haben? Zum ersten Mal konnte man sich 2008 via Internet von Ben L’Oncle Souls Sangesqualitäten überzeugen. Kein Wunder, dass Motown France ihm postwendend einen Vertrag schickte. Es folgte die 2009er-EP Soulwash mit Interpretationen des besagten White Stripes-Songs, außerdem der Spice Girls, Gnarls Barkley und Aqua. Barbie Girl auf Soul – das war und hatte Klasse, obgleich das Ganze zunächst als Jux gedacht war.
Hier sitzt jedes „Ohh, well well, haha“ so, wie man es von James Brown & Co. kennt. Überhaupt ist Bens Groove völlig unfranzösisch, respektiert er trotz allen Schabernacks doch die Standards des Genres, das er sich zu Eigen gemacht hat. Das fanden auch amerikanische Soulsänger wie Musiq Soulchild, Raphael Saadiq oder India Arie, die ihn glattweg mit auf Tour nahmen. So richtig ernst nimmt Ben L’Oncle Soul sich und seine Musik trotzdem nicht. Nicht zuletzt kündet die Stilisierung zum golfspielenden Onkel samt abgeschrappelter Plattencoverästhetik von Bens Humor. Umso erstaunlicher, dass seine Musik ernsthaft gut ist!
Mir persönlich gefällt auf dem selbstbetitelten Album der Song Come Home am besten; dicht gefolgt von L’Ombre D’Un Homme, der klingt wie Amy Winehouse auf männlich und passenderweise den Alkoholismus zum Thema hat.