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Jazzahead! 2016

Mai 2016 / Victoriah Szirmai

In meiner vorletzten Rezension an dieser Stelle habe ich, vielleicht etwas voreilig, Zweisamkeit als musikalisches Motto des Jahres ausgerufen. Dabei gibt es 2016 noch einen weiteren starken Trend, der sich mit „Die Schweizer kommen!“ trefflich zusammenfassen lässt.

Schließlich ist da nicht nur der Zürcher Lieblingsgeiger Tobias Preisig mit seinem neuen Duo Egopusher sowie im Verbund mit Stefan Rusconi, da ist auch der eidgenössische Wahl-New Yorker Beat Kaestli, der, begleitet von einem traumwandlerisch eingespielten Walter Fischbacher Trio, mit dem Club-Mitschnitt Live in Europe seinen Ruf als Balladensänger sondergleichen verteidigt. Beim Hauptstadtstopp versichert sich Kaestli der Unterstützung Alexa Rodrians und Esther Kaisers, was ich mir nicht entgehen lassen kann, weshalb ich beschließe, dass die diesjährige Jazzahead!, deren Partnerland die Schweiz ist, für mich bereits an ihrem Vorabend inoffiziell im Berliner Zig Zag Jazzclub beginnt.

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In Bremen dann treffe ich Kaestli im Publikum der Messe-Eröffnungsveranstaltung wieder, wo seine Landsfrau Erika Stucky mit ihren Bubbles & Bangs einen kleinen Vorgeschmack auf jene Furore gibt, für die sie später noch sorgen soll. Ansonsten setzt die elfte Jazzahead!, zu der 950 ausstellende Firmen und 3000 Fachbesucher erwartet werden, auf den bewährten Programmrahmen: Der Donnerstag gehört mit der Swiss Night dem Partnerland, der Freitagnachmittag der German Jazz Expo, während der spätere Abend für die Overseas Night reserviert ist und Samstag das European Jazz Meeting mit der Clubnight um Aufmerksamkeit konkurriert.

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Zu den acht Acts, die auserwählt sind, auf der Swiss Night das Jazzspektrum des kleinen Alpenlandes zu repräsentieren, gehören unter anderem die experimentellen Future-Punk-Jazzer von Weird Beird, Elektro-HipHop-Drummer Julian Sartorius und das minimalistische Piano-Trio Plaistow. Ganz im Zeichen des Piano-Trios steht auch die German Jazz Expo am nächsten Tag, wo wir neben dem als „phishbacher trio“ firmierenden Walter Fischbacher Trio von Kaestlis Live-Album, das hier mit dem George-Harrison-Hit „While my guitar gently weeps“ und einer es von allen anderen Piano-Trios grundsätzlich unterscheidenden Rhythmusgruppe besticht, auf das Pablo Held Trio treffen, aber auch auf Klarinettistin Rebecca Trescher mit ihrem Ensemble 11, Saxophonistin Nicole Johänntgen von Nicole Jo oder Trompeter Frederik Köster mit seiner kafkaesken Verwandlung. Das Partnerland begegnet uns an diesem Tag in Form des wohl subversivsten Moments der ganzen Messe, wenn Erika Stucky, flankiert von Marc Unternährer an der Tuba und Lukas Niggli am Kofferschlagzeug, mit Akkordeon und selbstmörderischen Yodels zum „Latrinen-Yutz“ in die Herrenpissoirs lädt.

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Der vorläufige Höhepunkt der Messe aber wird uns noch am Freitagabend durch den Zürcher Pianisten Nik Bärtsch beschert, der mit seinem „Zen-Funk“-Quartett Ronin beim renommierten Galakonzert in der Glocke das zu Gehör bringt, was er selbst „Ritual Groove Music“ nennt, hier aber derart industriell-spirituell daherkommt, dass es eher an neuzeitlichen Regenzauber, der sich dann und wann zur Derwischraserei steigert, erinnert. In der Tat ist es das Ewig-Repetitive, das den hypnotischen Ritualcharakter seiner Musik prägt, wenn Bärtsch am Klavier täuschend ähnlich im Duett mit dem Saxophon singt oder, stakkatoartige Beschwörungsformeln zelebrierend, dem mit allerlei Gerätschaft (teil-)präparierten Instrument boxensprengendes Geräusch abringt. Der Begriff „gebetsmühlenartig“ bekommt an diesem Abend eine ganz neue Bedeutung: Das monoton sich Wiederholende, auch mal mit dem Pentatonsichen flirtende, immer aber dem unbedingten ästhetischen Willen Unterworfene trägt selbst den hartgesottenen Kritiker fort, der nur noch notiert: „Wie unglaublich groß! Was für eine Stunde!“, um in der Pause unter Aufgabe jeglicher professioneller Distanz mit den Fans um Autogramme anzustehen.

Naturgemäß hat es das Sextett Hildegard lernt fliegen, das den zweiten Teil des Galaabends bestreitet, erst einmal schwer. Zu sehr prallt der musikalische Humor von Hildegards atonalem Swing auf den Nachhall Bärtsch’scher Geistigkeit, wenn Frontmann Andreas Schaerer die Trompete gibt und aus dem eigentlich dreistimmigen Bläsersatz kurzerhand einen vierstimmigen macht. Auch die Breakbeatspeedpolka, die klingt, als würde Aram Chatschaturjan säbelrasselnd mitmischen, ist zwar unglaublich lustig, aber erst einmal unpassennd – zumindest für die Ohren derjenigen, die zuvorderst auf der Suche nach dem geheiligten Moment in der Musik sind.

Abenddramaturgisch wäre es klüger gewesen, erst Hildegard und dann Bärtsch auf die Glockenbühne zu lassen. Und tatsächlich lichten sich die Reihen. Doch die, die bleiben, erleben nicht nur Schaerers weit übers Beatboxen hinausgehende Vokalakrobatik irgendwo zwischen Freddy Mercury und Countertenor, die ich „Beatbox-Scat“ zu nennen geneigt bin, sondern ganz zum Schluss auch noch eine Art universalmenschlich-spirituelle Reise, die letzten Endes mehr Applaus bekommt als Bärtsch. Was für ein rauschender Abend!

Nach so viel Praxis soll auch die Theorie zu ihrem Recht kommen: Neben dem Dauerbrennerthema „Jazz im digitalen Zeitalter – Möglichkeiten für Künstler und Labels“ steht am Samstag die Jazzstudie 2016 zu den Lebens- und Arbeitsbedingungen von Jazzmusikern in Deutschland im Fokus, deren Veröffentlichung im März für so einiges mediales Echo sorgte. In Bremen diskutieren Autoren und Auftraggeber die Ergebnisse der Studie. Mit dabei: Dr. Thomas Renz von der Uni Hildesheim, Uli Kempendorff von der IG Jazz Berlin, Sebastian Scotney (Londonjazznews) und Urs Röllin (Schweizer Musik Syndikat).

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Zunächst stellt Renz als Urheber der Studie, die auf Initiative der IG Jazz, des Jazzinstituts Darmstadt sowie der Union Deutscher Jazzmusiker entstanden ist (schließlich datiert die letzte Erhebung dieser Art mit dem „Künstlerreport“ aus dem Jahr 1975, dessen Konsequenz die Gründung der Künstlersozialkasse war), die empirischen Eckdaten vor. Die Jazzstudie 2016 basiert auf einem offenen Onlinefragebogen, der im letzten Frühsommer ins Feld ging und 2.135 verwertbare Datensätze produzierte. Nicht endgültig geklärt ist die Frage nach deren Repräsentativität, lässt sich doch nicht mit Sicherheit sagen, wie viele Jazzmusiker in Deutschland absolut existieren, sodass es keine Bezugsgröße gibt. Doch wurden die Strukturdaten verglichen, sprich: 40 % der in der Künstlersozialkasse gemeldeten Musiker sind in der Studie vertreten, sodass laut Renz letztendlich auf eine „gewisse Repräsentativität“ geschlossen werden kann.

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Die Ergebnisse indessen sind erschreckend: Mehr als 50 % der Jazzmusiker in Deutschland erreichen kein existenzsicherndes Einkommen. Hauptgrund sind die gerade in den konkurrenzstarken Großstädten gezahlten Gagen, die von einer tragbaren Einstiegsgage von 250 Euro pro Person pro Abend meilenweit entfernt sind. Insbesondere Berlin als „quantitative Jazzmetropole Nummer eins“ erweist sich hier einmal mehr als „arm, aber sexy“, beträgt die maximale Gage hier doch lediglich fünfzig Euro. Es verwundert nicht, dass bei diesen Aussichten siebzig Prozent der Jazzmusiker auch Musikunterricht geben – vielen ist dies sogar die einzige planbare Einnahmequelle.

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Neben der eindeutigen Großstadtpräferenz mit 70 % der Jazzmusiker beweist auch diese Studie mit 80 % der Befragten, dass Jazz eine Spielwiese für (große) Jungs ist. Interessanterweise gibt es keine Geschlechterungerechtigkeit bei der Entlohnung, wodurch sich der Jazz von anderen Branchen stark unterscheidet – was hier allerdings nicht heißt, dass Frauen genauso gut bezahlt werden wie Männer, sondern Männer genauso schlecht wie Frauen. 50 % der Jazzmusiker verfügen über ein absolutes Gesamtjahreseinkommen von weniger als 12.500 Euro. Die Konsequenz der Studie: Mit Jazz lässt sich kein existenzsicherndes Einkommen erzielen, weshalb eine Auslagerung an den privaten Musikmarkt nicht möglich ist – vielmehr brauchen künstlerische Innovationen Förderung. Man müsse sich als Musiker, so Kempendorff, doch „trauen, nicht die BWL-Rechnung á la ‚Ich locke so-und-so-viele Touristen an‘ aufzumachen“ – schließlich leisteten Jazzmusiker einen gesellschaftspolitischen Beitrag, der förderungswürdig sein sollte. Wenn nun ein Land seit dreißig Jahren seine Kulturförderung immer weiter zurückschraubt, könne man dies auch als Signal für die Frage sehen, in was für einem Land man eigentlich leben möchte.

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Eine europäische Perspektive bringt Scotney ins Blickfeld, der zu bedenken gibt, dass es in Großbritannien kaum öffentliche Förderung durch den Arts Council gäbe und Deutschland trotz der zitierten Studienergebnisse im Vergleich gut dastünde. In Großbritannien, so Scotney, schiene es schlicht akzeptierter, dass ein Jazzmusiker allein durch seine Jazztätigkeit keine Vollzeitexistenz erreichen könne. Das Partnerland Schweiz, vertreten durch Röllin, weise sehr ähnliche Zahlen wie Deutschland auf. Mut machen könne hier allein die Tatsache, dass Jazz so lebendig sei wie nie. So richtig ermutigt dies dann aber doch nicht, und so hebt die nicht so recht in Schwung kommen wollende Publikumsdiskussion dann auch lediglich auf den eventuellen methodischen Mangel ab, dass auch Studenten mit naturgemäß geringem Einkommen in die Studie einbezogen wurden. Dieser konnte durch Renz zerstreut werden, mache sich im Jazz doch kein Alterseffekt bemerkbar, sprich: Der 50-jährige gestandene Musiker, wenn er nicht gerade zu den Spitzenverdienern á la Till Brönner zählt, stagniert auf demselben Einkommensniveau, auf dem er als hoffnungsvoller Junior begonnen hat. Auch hier scheint die einzige Perspektive in der radikalen Abkopplung von der Privatwirtschaft zu liegen.

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Die gedrückte Stimmung aufheitern kann jetzt nur noch das Eintauchen in die zahlreichen Showcases des European Jazz Meetings, zum Beispiel den des Trondheim Jazz Orchestra mit Ole Morten Vågan. Eine Privatvorführung via Tablet bekomme ich von Johannes Bartmes‚ neuem Trio Cobody, das mit fünfzehnjähriger Zusammenspielpraxis so neu dann doch nicht ist, doch erst jetzt mit Under Cover sein charmantes Vintage-Jazzrock-Albumdebüt vorlegt, von dem hier demnächst noch zu lesen sein wird. Eine weitere Entdeckung sind Woody Black, ein mit drei Bassklarinetten und einer Klarinette höchst ungewöhnlich besetztes Quartett aus Österreich, das auch schon mal Ventilklappenpercussion spielt. Es folgen Treffen mit alten Bekannten wie Veronica Harcsa und Bálint Gyémánt, die gerade am Nachfolger ihres Duo-Debütalbums Lifelover arbeiten, das voraussichtlich Anfang 2017 in den Läden steht, und neuen Freunden wie den dänischen Offpiste Gurus, von denen an dieser Stelle auch schon bald zu hören sein wird.

Besonderer Aussteller in diesem Jahr ist Stefan Beyer, der mit seinen sbip-Instrumenten elektrische Streichinstrumente nicht von der Instrumentenbauerseite, sondern aus Ingenieursperspektive neu denkt. Zu den Abnehmern seiner dank Aluminiumkorpus extrem leichten, aber dennoch mit ungestörtem Schwingverhalten bestechenden Instrumente zählen nicht nur Rockmusiker, sondern bezeichnenderweise auch die Mitglieder klassischer Orchester, die Zuhause im Partykeller nach einem langen Arbeitstag mal den Hendrix rauslassen wollen, der hier mit magnetischen Tonabnehmer realisiert wird. Neben Violinen und Celli sind die pseudoakustischen Bässe eine Spezialität von Sbip: Ohne externen Verstärker spielbare Bassgitarren, die Lautsprecher, Verstärker und einen Akku enthalten, was die mobil wie eine Gitarre und laut wie einen Kontrabass macht.

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Ein weiterer Höhepunkt der diesjährigen Jazzahead! ist die 20-Jahr-Feier von Bugge Wesseltofts Nu-Jazz-Label jazzland recordings, anlässlich derer der umtriebige Norweger drei seiner Acts der ersten Stunde im wunderschönen Sendesaal Bremen präsentiert: Sängerin Beate S. Lech, die mit ihrem Projekt Beady Belle erstmals als Solokünstlerin in Erscheinung tritt, Tenorsaxophonist Håkon Kornstad sowie Wesseltofts New Conception of Jazz, das gemeinsam mit dem jüngsten Label-Signing Moksha die Nacht beschließt.

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Und während Wesseltofts Kultensemble mit dem Trio um die nepalesische Tablaspielerin Sanskrits Shrestha noch den Sendesaal zum Brodeln bringt, bin ich schon wieder unterwegs zurück in die Messehallen, um den letzten Showcase dieses Jahres zu sehen, der von Mopo aus Finnland bestritten wird. Wacker den Ruf der spinnenden Finnen verteidigend, kommt es bei den respektlosen Jazzpunks zu denkwürdigen Szenen, bei denen Saxophonistin Linda Fredriksson und Bassist Eero Tikkanen Schlagzeuger Eeti Nieminen mitten in seinem Solo mit Hundespielzeuggummiquietschschweinen bewerfen, wofür dieser sich prompt rächt, indem er den Kontrabass als Trommel zweckentfremdet. Das vom Publikum jenseits des starren Zeitrahmens ebenso vehement wie erfolgreich eingeforderte letzte Stück des Abends ist ein irrer Polka-Waltz, der Appetit auf 2017 macht, wenn Finnland Partnerland der Jazzahead! wird.

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