Demnächst im Test:

Billboard
Lindemann Move

Hellmut Hattler

November 2014 / Victoriah Szirmai

Ein kränkelndes Selbstbewusstsein kann man Superbassist Hellmut Hattler nun wirklich nicht gerade unterstellen: In schöner Regelmäßigkeit beglückt der ehemalige Kraan-Krautrocker sein Publikum mit den Live-Aufnahmen seines Lieblingsprojekts HATTLER. Veröffentlichte er erst neulich mit Live in Glems einen kompletten Konzertmitschnitt, gibt es mit den Live Cuts II jetzt schon wieder HATTLER live auf die Ohren: Einundzwanzig Stücke, die während sieben verschiedener Konzerte mitgeschnitten wurden und gewissermaßen als Essenz der letzten acht Schaffensjahre des umtriebigen Meisters gesehen (und vor allem gehört) werden können. Im Interview spricht er über posthumes Glück, visualisierten Sound und Live-Konzerte zum Live-Album – denn live ist eben nicht live, wenn man dem Ulmer Glauben schenken darf. Den Bogen spannt er dabei von Nietzsche über Sex und Drogen, um dann doch ganz konventionell beim Vaterstolz zu landen.

Hellmut Hattler Cover

Victoriah Szirmai: Schon deine letzte Veröffentlichung Live in Glems vom letzten Jahr war ein Live-Mitschnitt. Warum folgt da mit den Live-Cuts II gleich wieder ein Live-Album?

Hellmut Hattler: Weil ich die Sachen zu gut für die Schublade fand und weil ich mich freue, Sachen rausbringen zu können, die mir selber Spaß machen. Besonders im Produktstadium ist Musik ja lediglich ein Angebot an das Ohr draußen – und es ist höchst erregend zu sehen, was an Resonanz auf dieses Angebot zurückkommt. Das galt für Live Cuts I, und das gilt jetzt für Live Cuts II. Live in Glems dagegen ist kein Live-Album, sondern ein 1:1-Konzertmitschnitt, der für die Tourbesucher als Nachhöroption und ausschließlich zum Runterladen angeboten wurde und so gesehen in der Reihe der HATTLER-Alben gar nicht zählt. Auf Live Cuts II gibt es, bis auf zwei Titel, die sich ziemlich verändert haben, keine Repertoire-Überschneidungen zum ersten Live Cuts-Album; und auch und grade weil sich in den letzten Jahren so viel Gutes angesammelt hatte, gibt’s jetzt die Fortsetzung.

Nach welchen Kriterien hast du ausgewählt, was man auf den Live Cuts schließlich nachhören kann?

Eine gewisse Exklusivität war mir wichtig, also bislang unveröffentlichte Live-Versionen von möglichst selten gespielten Sachen – wie zum Beispiel „Noël“, „Tag 2“, „Ballhaus Rubeau“, „Wonderworld“ und „Swing ur Soul“ –, aber natürlich auch die Darstellung von wohlbekannten Kleinhits wie „Dimitri“, „Fine Days“ & Co., die halt live schon einen gewisse Metamorphose durchlaufen haben und im Gegensatz zur Originalversion auf den Studioalben oft deutlich lockerer oder vitaler daherkommen.

Oft ist es bei Live-Aufnahmen mit der Klangqualität ja so eine Sache, wenn man sie im heimischen Wohnzimmer wiedergibt … Wie löst ihr das Problem und wie wichtig ist dir überhaupt die Klangqualität von Liveaufnahmen?

Ich bin in der glücklichen Lage, von hochqualifiziertem Fachpersonal umgeben zu sein – und das nicht nur auf der Bühne, sondern auch unterwegs bei den Konzerten. Es gibt zwei Quellen für digitale Mehrspurmitschnitte der HATTLER-Gigs: Im Normalfall schneidet mein Toningenieur/FoH-Mann Daniel Staemmler jeden seiner zu mischenden Kanäle separat mit. Oder Thierry Miguet, der Videomann, der für uns die Konzerte abfilmt (und meistens gleich bei YouTube reinstellt) schickt seine 24 Tonspuren in das 36music-Tonstudio, wo die Tracks hochqualitativ editiert, gemischt und gemastert werden. Ich finde es in Zeiten von inflationärer Massenverbreitung von Publikumsmitschnitten extrem wichtig, supergute Qualität abzuliefern, um sich deutlich abzuheben – und letztlich auch, um sich selber einen Gefallen zu tun, denn die Musik ist für mich ja kein kurzfristiger Zeitvertreib, sondern schlicht und ergreifend mein Leben. Und wenn einige meiner wohlklingenden Kompositionen bzw. Songs über dasselbe hinaus wirken würden, würde mich das auch posthum noch sehr glücklich machen.

Du hast gerade das Problem der inflationären Publikumsmitschnitte angesprochen: Segen oder Fluch für den heutigen Künstler?

Man hofft auf den Segen und ertappt sich beim Fluchen.

Kann und will man als Künstler überhaupt noch etwas dagegen tun?

Wir befinden uns ja in einem gewaltigen Umbruch, nicht nur, was die digitale Verbreitung von Musik betrifft. Ich vertraue da ein bisschen auf die Intelligenz und die natürliche, begrenzte Aufnahmefähigkeit der Menschen. Wenn’s zu viel wird, macht man zu oder man wird irre, also sondiert man. Vor diesem Hintergrund sehe ich meine Aufgabe darin, meine Sachen einigermaßen sensibel anzubieten, und dieses Angebot wird ganz offensichtlich genau von den richtigen Leuten entdeckt und geschätzt, also muss man sich nicht kirre machen vor den neuen Zeiten, sondern nur etwas anzubieten haben, das andere mehr oder weniger dringend gebrauchen können. Dazu muss man aber halt einen langen Atem haben als Künstler – und den hast du nur, wenn dich dein eigenes Werk selber ein bisschen glücklich macht …

hellmut hattler 1.1

Da bin ich ganz bei dir! Wenn es um Recherche geht, sage ich meinen Studenten auch gern: Heute muss man lernen zu filtern, früher mussten wir lernen zu suchen. Was gibst du jüngeren Musikern mit auf den Weg? Dass sie einen langen Atem brauchen?

Indirekt ja. Ich empfehle ihnen, all das aus sich herauszuholen, was ohnehin schon vorhanden ist; man spürt ja, ob etwas mit einem zu tun hat oder nicht, besonders in der Kunst – und das funktioniert, glaube ich, auch unabhängig vom Belohnungssystem des Lernerfolgs. Der eigene lange Atem verliert auf diesem Wege auf jeden Fall so seinen Schrecken. Wer den schnellen Erfolg sucht, kriegt ja genügend schlaue Tipps von überall her, aber ich denke, dass diese gern mal direkt ins Hamsterrad führen. Man könnte all das auch mit weniger Worten und mit Friedrich Nietzsche sagen, der es auf den Punkt brachte: „Werde, der du bist.“

Wir sprachen vorhin vom Umbruch der Musikbranche, der sich ja nun einmal auch durch einen massiven Einbruch der CD-Verkäufe äußert. Wie gehst du als Labelchef von Bassball Recordings damit um? Ich sehe, dass du beispielsweise deine CDs ohne Kopierschutz rausbringst.

Wozu soll ein Kopierschutz nützen, wenn deine Alben auf zig osteuropäischen Foren frei herunterladbar sind? Ich finde den Umgang mit urheberrechtlich geschütztem Gut grauenvoll, aber er passt in die momentane Denke des schnellen Konsums. Ich vertraue auf die ethisch denkende Minderheit, die weiß, was es heißt, einen liebevoll bis supergut produzierten Tonträger angeboten zu kriegen. Außerdem fahre ich auf zwei Ebenen: Zu den Konzerten möchte ich ein aktuelles Album am Start haben und die Albumrezensionen schaffen wiederum ein bisschen Aufmerksamkeit für die Konzertdaten. Ich studiere nach Konzerten gern auch mal heimlich den Abverkauf der Alben und sehe hautnah den Zusammenhang zwischen Konzert und Album.

Ist Vinyl ein Thema für dich?

Mein wunder Punkt. Ich bin da zwar dran, zögere aber noch immer, weil ich überhaupt nicht einschätzen kann, ob meine bestehenden Vertriebswege für Vinyl ausgelegt sind und ob meine Community tatsächlich so supergierig nach Vinyl lechzt. Einer meiner Anhänger hat ein Profil dafür ins Leben gerufen samt wählbarer Tracklist, aber selbst das motiviert einen schlechten Rechner wie mich nicht so richtig. Ich hab schon überlegt, meine Tourknete einzusetzen und ’ne kleine Weihnachtsedition mit den schönsten HATTLER-Liedern aufzulegen, und dieser Gedanke malträtiert mich seitdem regelmäßig. Mal sehen, ob und wann ich diesem Schmerz endgültig nachgeben muss …

Jenseits vom Thema Vinyl: Wohin geht der Weg von Bassball? Zurzeit werden ja ausschließlich deine eigenen Projekte dort veröffentlicht. Kannst du dir vorstellen, auch andere Künstler zu signen?

Nee, Bassball Recordings hab ich lediglich zur Veröffentlichung meiner eigenen Sachen gegründet. Eine Labelarbeit für andere Künstler krieg ich schon zeitlich nicht gebacken – und es dann trotzdem zu machen, wäre ja letztlich für alle Beteiligten keine allzu gute Idee.

hellmut hattler 1.3

Die Gründung des Labels war aus der Not geboren, hab ich mal gehört …

Hmm, „Not“ ist ein starkes Wort. Mein Debüt No eats Yes kam ja ursprünglich bei Universal raus (und hat auch ausschließlich deshalb einen ECHO bekommen), doch nach drei Monaten waren alle, die das Album an Bord geholt hatten, nicht mehr in der Firma – der klassische Supergau für einen Künstler! Mein Verleger Walter Holzbaur riet mir dann, es selber zu machen, was ich erstmal komplett ablehnte, weil ich mir nicht vorstellen konnte, sowas zu packen – aber wenn etwas auf verschiedene Schultern gepackt wird, geht ja alles. Inzwischen ist mein Freund und Studiomann Juergen Schlachter der Label-Admin, der meine Sachen über sein Label 36music lizensiert und die Schnittstelle zu Presswerk und Vertrieb ist. Ich kümmere mich nur noch um die Bezahlung von temporär angeheuerten Agenturen, wenn Radio- und Printpromo anliegt, das ist leicht und macht viel Spaß – auch ganz ohne BWL-Getue.

Dann befrage ich dich doch lieber in deiner Eigenschaft als künstlerischer Leiter weiter. Kaum eine Besprechung deiner Konzerte kommt ohne Lobpreisung für die Visuals von Pete Delgado aus, und, wenn ich mich nicht täusche, hast du im April erstmals mit deinem Sohn Max, dem Videokünstler, ein Bass meets Visuals-Set gespielt. Worauf ich hinaus will ist die visuelle Komponente der Hattler-Shows. Mit den Surround Cuts hast du 2005 ja schon eine DVD herausgegeben – ist da aktuell auch etwas in Planung? Surround Cuts II vielleicht?

Es gibt in meinem Leben ja auch noch diese zweite künstlerische Ader. Ich habe viel gezeichnet und gemalt und hatte eigentlich seit Anbeginn die Vorstellung, die Musik und das Visuelle zu verbinden, aber außer ein paar Covergestaltungen habe ich diesbezüglich nicht allzu viel vorzuweisen. Da ich aber auch ein großer Freund der Arbeitsteilung bin, habe ich alle Bestrebungen von Künstlern, meine Musik zu visualisieren, sehr begrüßt. HATTLERs Lichtmann Pete Delgado fing sehr früh an, bei Konzerten mit Beamern und Rechnern anzutanzen. Er hat sich im Laufe der Jahre stetig weiterentwickelt, womit er zu einem wichtigen Partner auf dem langen Weg zum Gesamtkunstwerk geworden ist. Mit meinem Sohn Max, der ja inzwischen zu einer echten Lichtgestalt junger internationaler Videokünstler avanciert ist, habe ich auch zwei Abende zusammengearbeitet, das geschah aber spontan und improvisiert, sozusagen eine Light’n’Sound Jam Session. Er wollte das so und es hat wunderbar funktioniert. Die HATTLER Surround Cuts-DVD war mein bislang einziger Versuch, meine Vorstellung von visualisiertem Sound auch mal als Produkt zu vermarkten, wobei bei diesem Album der Schwerpunkt doch noch sehr auf den 5.1-Mischungen lag und die Videos sozusagen der „Picturetrack“ zur Musik waren. Ich hatte damals gehofft, dass alle Heimkinobesitzer dieser Welt das Konzept verstehen würden, die Klang-/Bild-Prioritäten einfach mal zu vertauschen. Allerdings hab ich von den dereinst gepressten 1.000 Exemplaren immer noch welche im Lager lungern. Aber ich geb‘ nicht auf! (lacht)

Du hast vorhin davon gesprochen, dass du für eine Tour immer gern ein aktuelles Album im Gepäck hast. Wird es eine Live-Tour zu den Live Cuts geben?

Diese Tour gibt es bereits. Ich hatte lediglich noch Plakate mit dem Kite-Motiv und die wollte ich nicht der Umwelt in den Vorgarten schmeißen, sonst wäre die laufende Tour bestimmt auch Live Cuts II-Tour genannt worden. Ob das nun allerdings jemanden, der sich ein HATTLER-Konzert geben will, wirklich juckt, weiß niemand.

Wie trägt sich so eine Hattler-Tour eigentlich? Finanziell, meine ich?

Da ich ja nicht nur Plattenboss und Kapellmeister bin, sondern auch die Konzertbuchungen selber mache, kann ich dir auch dazu was aus erster Hand sagen: Ich lasse mich halt auf keine „Doors“-Deals ein. Darum spiele ich auch kaum in Metropolen, weil es dort gang und gäbe ist, Bands auf Fünfzig-Prozent-Basis auftreten zu lassen und zu verlangen, dass sie die Hotelkosten selber tragen. Ich brauche eine Mindestgarantie, die sich aus den Gagen der Mietmusiker und der beiden Techniker samt Reisekosten inklusive Mietwagen speist. Falls siebzig Prozent des eingenommenen Eintritts mehr sind, als die Garantie, kriegt die Band diese siebzig Prozent, von den übrigen dreißig Prozent bezahlt der Veranstalter Hotel, Gema und Künstlersozialkasse. Der Getränkeumsatz gehört ihm auch komplett. Ich will halt meine Leute einigermaßen adäquat entlohnen, weil es einfach Spitzenkräfte sind – obwohl mir in dieser Besetzung noch nie jemand einen Betrag genannt hat, den er unbedingt pro Abend haben müsse. Das zeugt von Weisheit, und auch deshalb wird intern brüderlich geteilt. Es ist also nicht etwa so, dass ich mehr Gage kriege als die anderen. Diesbezüglich bin ich immer noch der Vollhippie.

hellmut hattler 1.4

Vielen Dank für diesen detaillierten Einblick – es ist selten, dass jemand so offen über Finanzielles spricht. Vom Monetären noch einmal zum Musikalischen: Immer wieder liest man über deine künstlerische Empathie für Jazz (selbst Wikipedia listet dich an erster Stelle als Jazzbassist), aber wenn ich mir die Sachen von Hattler anhöre, fallen mir viel eher Begriffe wie Groove, Funk und Future Electro, von mir aus sogar Pop-Rock, ein. In wieweit begreifst du dich selbst als Jazzer?

Ich bin kein Jazzer. Ich lasse das, was ich am Jazz liebe, in meine Musik mit einfließen – oder ich lasse Jazzer ihre Scales auf meine eher pentatonisch gehaltenen Abläufe spielen, das ergibt dann eine charmante Mischung. Stilistiken, die bereits gelabelt sind, interessieren mich traditionell nicht so sehr, aber da ich ja die ganzen HATTLER-Titel ja nicht nur spiele, sondern auch komponiere, kann ich meine Themen und Melodien harmonisch umdeuten, wie’s mir passt und muss keine Stilistik auf Abruf parat haben. Das ist die Freiheit, die ich mir geschaffen habe und die ich mir auch in schweren Zeiten nicht abnehmen lassen will. Womit wir wieder beim langen Atem wären.

Ein schöner Schluss des Kreises. Erlaube mir eine letzte Frage: In einem älteren Interview hast du mal gesagt, dir sei Musikmachen mit das Wichtigste, was es überhaupt gibt. Was sind die anderen wichtigsten Dinge?

Meine sechs Kinder – und die Freiheit, Musik zu machen, und sie und mich davon ernähren zu können. Ja gut, was noch? Drogen nicht, aber Sex schon. Schnelle Autos auch nicht, dafür aber mein Haus, in dem ich mich fallen lassen kann, ohne dass die Nachbarn was davon hören. Und klar, der Weltfrieden wär‘ schon auch noch toll … So, und jetzt muss ich einkaufen fürs Kinderwochenende!

Na, dann mal los – und ganz herzlichen Dank für das anregende Gespräch!

Kommentar/Leserbrief zu diesem Bericht schreiben

Billboard
Dali Epikore 11

Über die Autorin / den Autor