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April 2010 / Victoriah Szirmai
Goldfrapp – Head First
Eigentlich sollte diese Rezension mit dem launigen Kommentar starten, dass Goldfrapp wohl offensichtlich zur eher schnellen Truppe gehören: Gerade noch wurde Seventh Tree besprochen, schon legen sie mit Head First nach. Beim Schreiben dann der Schock: Die letzte Veröffentlichung und Besprechung liegt schon zwei ganze Jahre zurück! Mir kommt es vor wie gestern, und ich frage mich einmal mehr, wo die Zeit geblieben ist. Diese Frage, nagender und drängender, je älter man wird, paart sich mit der Sehnsucht nach Beständigkeit, Kontinuität, Stabilität, Sicherheit, kurz: Halt – verweile doch, du bist so schön! Das Mantra einer verlorenen Generation. Ich will nicht aufwachen und mich fragen, wer der Fremde da neben mir ist, weil er sich so völlig anders benimmt als der, den ich damals kennengelernt hatte und zu kennen glaubte. Ich will nicht, dass die Verpackungen meiner Lieblingslebensmittel „moderner“ designt werden und dafür Vertrautes dem Zeitgeist geopfert wird. Und – auf die Gefahr hin, dass ich mich hiermit als konservativer oute als es einer Musikkritikerin gut tut – ich will nicht, dass meine Lieblingsbands mit einem Mal eine völlig andere Musik machen als jene, weshalb sie eigentlich meine Lieblingsbands sind.
Dieses Unbehagen trieb mich schon bei der letzten Veröffentlichung Goldfrapps um. Ein TripHop-Elektronik-Duo, das plötzlich Folk spielt? Auf echten Instrumenten? Uff. Daran hatte ich lange zu knabbern. Und jetzt ist wieder alles anders. Im Gegensatz beispielsweise zu Madonna, die zwar ihr komplettes Image bei jeder Platte neu erfindet, dafür aber konstant gute Popmusik macht, erfinden Goldfrapp die Band bei jeder Platte komplett neu. Sind sie damit nicht eigentlich eher augenblickliches Projekt als beständige Band? Denn Goldfrapps Stil-Hopping sprengt alles, was man Künstlern üblicherweise an musikalischer „Entwicklung“ zugestehen würde.
Das Einzige, was die fünfte Veröffentlichung des nach Sängerin Alison Goldfrapp benannten Duos mit dem Vorgänger gemein hat, ist die schon damals postulierte „neue Fröhlichkeit“: Head First strotzt vor Lebensfreude, Energie und guter Laune. Verschwunden hingegen die psychedelischen Folk-Songs, weg die Harfen und Gitarren. Stattdessen lebt mit künstlichen Synthesizer-Klängen, Drumcomputern und lässigem Gesang die Disco-Ära wieder auf; das alte Spiel mit der Gegenüberstellung von männlicher Elektronik und weiblicher Gesangsstimme, zwischen Technik und Natur, dominiert die Klangästhetik – was im Gegensatz zum organischen Konzept des Vorgängers steht. Head First ist ein Zeitreisealbum, wie auf kürzestem Wege direkt aus den tanz(film)besessenen Achtzigern eingetroffen. Ob Flashdance, Fame oder Fast Forward, Irene Cara, die Pointer Sisters oder Donna Summer … Schon bei den ersten Klängen des Openers Rocket sind Disco, Pop und Kitsch wieder so präsent, als wären sie nie weg gewesen. Neonfarbene Stirnbänder, toupierte Stirnfransen- oder gar Minipli-Frisuren, Schulterpolster – es hat nur ein paar Takte gebraucht, um all das mit einem Mal wieder vor dem geistigen Auge des Hörers wiederauferstehen zu lassen. Ob das jetzt gut ist oder nicht, ist ein anderes Thema.
Im Grunde aber wollten Goldfrapp mit Head First ganz woanders hin: „Wir haben die Session für das Album ästhetisch dort angesetzt, wo wir mit Seventh Tree aufgehört haben, aber es hat sich einfach nicht richtig angefühlt.“ Dass der Sprung von den ländlich-verträumten Folk-Tunes, die über Naturerfahrungen und Heidentum sinnieren, zum spontan-unbekümmertem Nachtleben unter Diskokugeln dann doch recht groß, wenn nicht gar gewagt ist, spiegelt sich schon im Titel: mit dem Kopf voran ins kalte Wasser, ohne groß nachzudenken – Head First eben.
Zwischenzeitlich hat man sich dann aber doch Sorgen gemacht, ob man sich mit diesem – mit 9 Tracks angenehm kurz geratenem – Album nicht allzu weit von all dem entfernt hat, wofür die „Diva und der Schattenmann“ (Rolling Stone) bislang standen. Der erste, dem sie ihre Songskizzen präsentierten, war Synthie-Pionier und Mute Records-Firmengründer Daniel Miller. Und erst als dieser meinte, das neue Material klänge zwar komplett anders als die Vorgängeralben des Duos, aber unbestreitbar wie Goldfrapp, wichen die Bedenken der Euphorie über den frischen Sound. Dennoch sei dies eigentlich verrückt, sinniert Sängerin Alison. „Manchmal denke ich, weshalb machen wir uns das Leben eigentlich nicht leicht und bringen wieder und wieder dasselbe Album heraus?“ Doch selbst wenn sie wollten, sie könnten nicht: „Immerhin geht es darum, Klänge zu entdecken und eine Geschichte darüber zu erzählen, was gerade in deinem Leben passiert. Natürlich könnte man mehr Geld verdienen, wenn man einer einmal erfolgreichen Formel treu bliebe. Aber in meinen Augen scheint das total sinnlos.“ Es lebe die Veränderung.
P.S.: Der Schattenmann hat übrigens auch einen Namen: Will Gregory.
Plattenkritik: Goldfrapp | Dee Dee Bridgewater