Dillon – Kind
Denkt man an junge Musikerinnen aus Berlin, gehören zu den Entdeckungen der Saison – neben den obertonreichen, surrealen Soundscapes von Lea W. Freys Plateaus, deren letztes Album an dieser Stelle nicht gerade auf ungeteilte Begeisterung stieß – unbedingt die neuen Platten von Dillon und Kid Be Kid.
Es war vor allem die Stimme, die von Dillons 2011er-Debüt This Silence Kills – und ganz besonders dem Ohrwurm „Tip Tapping“ – im Gedächtnis blieb. Diese immer leicht heisere Stimme, deren einem klanggewordenem Kindchenschema gleichkommende Naivität nie so recht zu den Abgründen von Text und Musik zu passen schien. Mädchenhaft ist die Stimme der als Dominique Dillon de Byington in Brasilien geborenen Wahlberlinerin immer noch, hat auf Kind, ihrem mittlerweile dritten Album, aber ein ungeheures Maß an Intensität dazugewonnen.
Auf knapp fünfunddreißig Minuten balanciert sie hier über einer Schlucht voller schräger Tubaklänge und reduziert-düsterer Elektronika, die so manches Mal an James Blake und andere Dubstep-Heroen gemahnen. Dann wieder kreieren die Bläser eine geradezu geheiligte Atmosphäre, wie man sie eher zu Allerheiligen, Allerseelen oder an den Adventswochenenden auf dem katholischen Friedhof erwarten würde („Stern Leaf“), während die ansonsten so dezente Elektronik, die sich am ehesten als atmosphärischer Hauch bezeichnen lässt, unversehens ins Berghain entführt. Dillons Ringen um jedes Wort und jeden Ton, das beim letzten Album in quälender Schreibblockade gipfelte, spürt man stets – und die Erleichterung, ja: Erlösung, wenn sich alles fügt und nicht nur die Schatten, sondern auch die letzten Zweifel schwinden („Shades Fade“).
Und dann ist da plötzlich ein nervenzerrendes Klirren, das mühelos auch von den Spiegelsplittern der Schneekönigin herrühren könnte, die Herzen so kalt werden lässt wie Eis und den Hörer spätestens dann Gruseln macht, wenn Dillon für ein suggestives „Schlaf ein, schlaf ein“ ins Deutsche wechselt und sich das Klirren ins Piepen eines Herzmonitors zu verwandeln scheint („Lullaby“). Einschlafen? Bestimmt nicht!, sträubt sich alles. Auch nicht wirklich optimistisch geht es weiter mit dem zwar auf Portugiesisch gesungenen, doch gänzlich ohne Ipanema-Feeling auskommenden „Te Procuro“ und der spröden A-Cappella-Rezitation „The Present“, wonach erst das Album zum feierlich-adventlichen Bläserton über düsterem Dubstepgrund zurückfindet („Regular Mobements“). Mehr Performance denn Popsong ist trotz seines vordergründig unbeschwerten Mitsingschemas „Contact Us“, während „Killing Time“ eine Art Stammesritual zu zelebrieren scheint, um in der glockenschlagreichen Reprise des Openers die Kontrolle über die Elektronik komplett zu verlieren, die wild brizzelt wie ein sich selbst überlassenes, irr blinkendes Raumschiff, das verzweifelt versucht, den Kontakt zur Bodenstation wiederherzustellen und dem Hörer den Genre-Begriff „Future Industrial“ regelrecht aufdrängt.
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Kid Be Kid – Sold Out
Nicht nur die Wahlheimat, sondern auch den One Woman-Ansatz teilt Dillon mit der studierten Jazzsängerin und Produzentin aus Dresden, die bislang vor allem unter dem Namen Loop Motor mundgemachte elektronische Musik zwischen HipHop und Drum’n’Bass in die Clubs und auf die Festivalbühnen brachte und jetzt als Kid Be Kid ihr Debüt mit Gesang, Klavier und Live-Beatboxing veröffentlicht hat. Unter dem Motto „drei Musikerinnen in einer“ und dem konsequenten Verzicht auf Overdubs, Loops oder Prerecordings haftet Sold Out, das aus Improvisationen am Klavier entstanden ist, etwas charmant Selbstgemachtes an, befeuert vom warmen, nachgerade persönlichen Ton des alten Pianos, dem sie ihren Neo Soul entlockt.
Den Auftakt macht nach einer kurzen „Introduction“ das ruhig vor sich hinswingende „Clown“. My body’s covered with colors, singt sie hier, but my soul is pure – und das gilt auch für diese Songs, die in ihrer Gradlinigkeit mal an NuSoul-Matadorin Jill Scott erinnern, mal an India-Arie, mal an Angie Stone. Auch die häufigen Interludes, die sich zwischen jedem der Full-Length-Songs finden, gemahnen an die NuSoul-Alben der frühen Zweitausender. Damals wie heute steht fest, dass diese Zwischenspielereien eher dem Künstler denn dem Hörer Freude bereiten, zerhacken sie Letzterem doch den Albumgenuss aus einem Guss, sprich: die Durchhörbarkeit der Platte. Ein Hinhörer dagegen, dass der Beat immer dann stoppt, wenn Kid Be Kid singt, da sie schließlich beides live (und ergo nie gleichzeitig) betreibt, was dem Ganzen einen breakbeatartigen Charakter verleiht – der hier noch dazu nicht clever hinproduziert werden musste, sondern sich quasi organisch ergibt.
„Like“ ist allein von der Phrasierung her purer Soul, wobei hier nicht an unerträglich Hochglanzpoliertes à la Beyoncé gedacht werden soll, sondern an Soul in seiner ursprünglichen Gefühlsintensität, die nie plakativ, sondern eher nach innen gekehrt war und der auch immer etwas Zart-Zerbrechliches, Tastendes, Suchendes eignete. Kid Be Kids Gesang muss sich hinter der Stimmgewalt kommerzieller Soul-Diven zwar nicht verstecken, hat es allerdings auch nicht nötig, auf den Effekt zu setzen. Fein ziseliert und nuanciert reizt sie koloraturenartige Verzierungen bis zur Grenze des Geradenocherträglichen aus, fängt sich aber immer wieder, wenn es allzu langatmig zu werden droht.
Auf „Colors“ treffen ihre selbstgezimmerten Klänge auf die schlauen Riffs von Beatdenker, die er so lange durch seinen „magischen Synthesizer“ jagt, modifiziert und loopt, bis ihnen manches Mal eine Art Spieluhrcharakter, manches Mal richtiggehender (Retro-)Rock-Appeal, zuweilen gar etwas neurofunkig abgedreht Enervierendes zukommt, aufdass er sie nach etwas mehr als vier Minuten blubbernd absaufen lassen kann. „Invisible Bridges“ dagegen scheint zunächst reine Nordklangschaft – ein Soundscapepiece, das vom Wesen her instrumental bleiben müsste. Kid Be Kid aber gelingt es, ihren Beat derart behutsam in das akustische Landschaftsgemälde einzuweben, dass er seinerseits den Hörer auf die Vocals einzustimmen weiß, mal hechelnd, mal hauchend, womit ihr eine Art cinematographisch-sensuelle Breakbeat-Ballade gelungen ist.
Einer der Höhepunkte des Albums ist sicherlich der Titeltrack, dem etwas Mystisches, ja, Beschwörendes innewohnt, als verbürge sich hinter den ganzen Elektrosounds eigentlich ein Mönchschor, der ein – nicht ganz so christliches – Ritual zelebriert, mit Kid Be Kid als Hohepriesterin, steckt ihre Ausdrucksfähigkeit die Herren doch locker in die Tasche. Für den mal schmutzigen, mal unheimlichen Unterton sorgt hier der Bautzener Bassist Bernhard „Abbo“ Stiehle, der schon beim 2016 aufgelösten Quintett Strandlichter (vorher: Café Jazz) die tiefen Saiten rührte. „Bird“ dagegen ist wieder eine NuSoul-Nummer purster Provenienz mit Beats, wie sie ehedem auch Erykah Badu oder D’Angelo hätten kreieren können – nur, und das kann gar nicht oft genug betont werden, kommen sie hier nicht von allerlei tricky Effektgerätgefrickel, sondern werden live gebeatboxt, was wiederum Badu & Konsorten ganz schön alt aussehen lässt.
„The World’s Making Of“ versetzt den Hörer in einen Poetry Slam und erinnert damit einmal mehr an die der Spoken Word Szene entstammende Jill Scott, während das komplexe Klavierspiel von Tastenprofi Julia Kadel den Slamkeller zum Jazzclub macht. Heimgebracht wird Sold Out von „Home & Outro“, wobei der enervierend-repetitive Klavierlauf der Groove Noir-Ballade dafür Sorge trägt, dass es nie zu kuschelig wird, während einzig das – Hidden Track-artig verborgene – Outro eine Art Zauberstaub zu verteilen scheint, der wie perlende Harfentöne über die ansonsten so ungeschönte, minimalistische, geradezu rohe Szenerie gestreut wird. Dass sich das Album in den Amazon-Charts zwischen dem dahinplätschernden Easylistening einer Norah Jones und den Hoheliedern der Einsamkeit von Frank Sinatra platziert hat, ist komplett unverständlich.
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