Langjährige fairaudio-Leser könnten David Helbock noch von seiner Soloplatte Purple (2012) in Erinnerung haben, auf der sich der österreichische Pianist des Prince’schen Œuvres angenommen hatte. Nach weiteren Veröffentlichungen, zu denen auch das schlichtweg wunderbare Triowerk Into the Mystic (2016) zählt, widmet sich der umtriebige Peter Madsen-Schüler nun wieder der Kunst des Coverns, wobei dies im Zusammenhang mit Helbock natürlich der völlig falsche Terminus ist, so einzigartig, ja: eigenwillig erscheint sein Zugriff auf die Originale, die er sich zu eigen macht. Ein Starrsinn, der sich schon in der Besetzung von Random Control spiegelt – jenem Trio, mit dem Helbock seine Tour d’Horizon eingespielt hat. Hier nämlich sind neben ihm selbst nur noch Blechbläser Johannes Bär und Holzbläser Andreas Broger zu hören.
Dies bedeutet indessen keineswegs, dass man sich im Verzicht auf Rhythmusgeber übt: „Für dieses Album“, so David Helbock, „habe ich Stücke meiner liebsten Jazz-Pianisten ausgewählt, die ich für Random Control arrangiert habe. Insgesamt nutzen wir drei hierfür mehr als zwanzig Instrumente!“ So etwa packen die Musiker gleich auf dem Opener, Abdullah Ibrahims „African Marketplace“, ihr umfangreiches, sich vom Didgeridoo bis zum Recorder spannendes Instrumentenarsenal aus, um der flirrenden, sich ständig wandelnden Atmosphäre eines afrikanischen Markttages beizukommen. Wo die tiefen Saiten des Klaviers, die nicht nur via Taste, sondern – wie übrigens auch der Flügelkorpus – auch direkt perkussiv gerührt werden, im Verbund mit hochluftdurchlässigem Rohr eine bedrohliche Atmosphäre entfalten, übernimmt bald schon ein vergnügter Südafrika-Swingbeat das Kommando, um mit dem meditativen Esbjörn-Svensson-Titel „Seven Days of Falling“ gleich darauf in den hohen Norden zu entführen. Ein Feuerwerk der Effekte treibt ein Verwirrspiel mit dem Hörerhirn, mal links, mal rechts rauschbrizzelt es atmosphärisch durch die Boxen, bis ein repetitives Vier-Ton-Motiv für semihypnotische Trancezustände sorgt, bevor sich perlende Pianokaskaden mit den dunklen Saiten des Instruments abwechseln und klar wird, dass wir es hier mit einer Art Café del Mar für Intellektuelle zu tun haben.
Inmitten all der Tiefenentspannung ruft das Hab-Acht-Intervall von „Concierto de Aranjuez – Adagio“ zur Aufmerksamkeit, nur, um gleich darauf wieder im – diesmal mehr fernöstlich angehauchten – Meditativen zu versinken, bevor der nahtlos anschließende Chick-Corea-Superklassiker „Spain“ endgültig munter macht, der hier klingt, als würde ein perkussiver Hummelflug en jazz aufgeführt, der tanzen, taumeln, ja: erschöpft umfallen macht. Eine Atempause erlaubt „In A Sentimental Mood“, das Helbock zum Zwitter zwischen Schubert-Romance und kontemplativer Nordic Jazz Ballade gerät, alldieweil sich Joe Zawinuls „Mercy, Mercy, Mercy“ unter seinen Fingern zum experimentellen Klopfer entpuppt, spielfreudig und mitreißend, dominiert von präpariertem Klavier bzw. Helbocks Hämmern auf den Saiten, um sich nicht zuletzt dank pupsender Tuba letztendlich zum alpinen Tanzvergnügen zu entfalten.
Im konsequenten Wechsel zwischen An- und Entspannung wird das atemlose Vergnügen gefolgt von der inhärent meditativen Miles-Davis-Nummer „Blue In Green“, über die schon The Jazz Standards: A Guide to the Repertoire-Autor Ted Gioia zu sagen wusste, „I don’t really consider it a song. It’s more a meditation, or – to borrow a term that didn’t exist at the time Davis recorded ‘Blue in Green’ – a type of improvised ambient music.” Einmal mehr gelingt es Helbocks Trio, ihr eine nordische Aura zu verleihen, und doch – gegen das übermächtige Original aus Davis‘ 1959er-Kind of Blue, das heute noch als Maßstab aller Jazzplatten gilt und Redakteure angesichts von fünf von fünf möglichen Punkten vergebenden Rezensenten gern mal fragen lässt, was diese denn zu tun gedächten, würde heutzutage ein Kind of Blue veröffentlicht, ist kein Ankommen. Vielleicht liegt der einzig gangbare Weg, Kind of Blue-Stücken beizukommen, darin, sie, wie es das – dafür vielgescholtene – New Yorker Quartett Mostly Other People Do The Killing gemacht hat, Note für Note, Nuance für Nuance, Klangfarbe für Klangfarbe zu rekreieren und trotzdem oder gerade deshalb die Unmöglichkeit, wie Davis zu klingen, hörbar zu machen. Helbocks Random Control wählt einen anderen Weg und umschifft die Interpretationsfalle elegant, indem es auf eine völlig andere Stimmung setzt als das Original.
Herbie Hancocks „Watermelon Man“ besticht nach einem Karneval-der-Tiere-Auftakt mit schwerem Pianorhythmus, Gebeatboxe und etwas Flötendem oder eher Piepsendem, gleich einem quietschenden Gummihahn, wie man ihn aus der Hundespielzeugkiste kennt. Ohrenscheinlich hat Random Control (nicht nur hier, aber hier besonders) Spaß – und der wird eins zu eins auf den Hörer übertragen, bevor die Musiker auf Keith Jarretts „My Song“ einmal mehr tief in die – diesmal dann doch ziemlich bedrohlich anmutende – nordische Kiste greifen. Der volkstanzartige und auf geheimnisvolle Weise sängerisch anmutende Mittelteil lassen das Stück zur Vokalnummer ohne Sänger geraten, die den Menschen ob ihrer humanoiden Natur seltsam anrührt.
Das gilt auch für den „Utviklingssang“ aus der Feder Carla Bleys, der schon bei seinem Erscheinen 1988 Viele an eine Volksweise erinnerte, obgleich er eigentlich in der Tradition des Protestsongs steht, genauer: dem Protest gegen den Bau von Staudämmen in Südnorwegen, der auf die Tierwelt fatale Auswirkungen zu zeitigen drohte. Random Control arbeiten die der zarten Modalmelodie eigene Trauer heraus, die unwiederbringlich Verlorenes zu antizipieren scheint, während ein sich stetig nähernder Wind von Leiden und Tod kündet. Das Trio geht das Stück dabei so unerträglich langsam an, dass den Hörer ein regelrecht körperlich spürbares Gelähmtsein angesichts der übermächtigen Maschinerie ergreift. Der einzig aktive Protest, bei Bley von den sich aneinander (auf-)reibenden Tönen dargestellt, kommt hier meisterlich von düstren Elektro-Drones, die nahtlos in das Geklopfe des Cedar-Walton-Klassikers „Bolivia“ übergehen, welcher seinerseits ob seiner Soli in allen Instrumentengruppen, vieler Ensemblepassagen und einem kurzen Latin-Part als Pflichtübung jeder Band gilt. Random Control wandeln ihn zum Jazzfunk at its best, bleiben aber trotz aller Beatboxing-Dreingaben dem verschwitzten Original gegenüber seltsam clean.
Ein dichter, alpiner Bläsersatz nebst vom Almabtrieb sattsam bekanntem Kuhschellengeläut soll sich zum tausendfach gehörten „Take Five“ entspinnen – doch bevor das berühmte Motiv von einem dreckig hingerotzten Sax in die Stallungen geworfen wird, tasten sich Random Control mit schnurspselnden, brodelnden Elektronica heran, alldieweil Helbock in die tiefen Klaviersaiten haut, bevor man sich über einige ironische Takte hinweg an der Imitation spießigen Kreuzfahrtflairs versucht, bis das dunkel Drohende wieder überhandnimmt und sich der Hörer unwillkürlich vorbeugt, um ja keinen Takt dieses Was, zum Geier, machen die da nur?!? zu verpassen. In diesem Moment vereint sich alles, was diese kontrastreiche Platte ausmacht: das Dunkle, das Leichte, das Eigenwillige und das Konventionelle – kurz: der Respekt vor der Historie der Standards bei einem gleichzeitigen unbedingten Willen zum Verweilen im Heute.
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