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Es ist schon kurios. Gerade habe ich einen Roman ausgelesen, der von einer jungen Musikkritikerin im London der beginnenden New Wave-Ära handelt. Damals, in den 1970ern, wurde unter New Wave ja noch alles zusammengefasst, was neu und anders war, vom Punk-Rock der Sex Pistols bis hin zum Disco-Pop Blondies. Die musikalische Differenzierung und Herausbildung zu dem, was später von der Allgemeinheit unter diesem Begriff verstanden wurde, sollte erst später kommen. Jedenfalls beschreibt die Autorin, eine Art Nick Hornby für Mädchen (wen es genau interessiert: Jessica Adams, das Buch heißt „Ballroom Blitz“), mit viel Liebe zum klingenden Detail und ebenso großer Affinität zu Playlists die musikalische Schnittmenge der Protagonistin und ihres Verlobten, in der sich – zu unterschiedlich sind die Geschmäcker – fast nichts befindet bis auf Plastic Bertrand. Und was flattert mir da auf den Schreibtisch? Die neue, schlicht mit 3 betitelte Nouvelle Vague, die neben Stücken von (Post-)Punk- und New Wave-Ikonen wie Depeche Mode, Soft Cell, Police oder eben den Sex Pistols auch eines von – na? von wem wohl? genau! vom guten alten Plastic Bertrand covert. Immerhin ist das ja jemand, der selbst Popmusikforschern nicht jeden Tag über den Weg läuft, auch wenn sein Ça Plane Pour Moi 1977 weltweit ein Riesenhit war.
Wem nicht die Gnade der späten Geburt zuteil wurde, wer sich dieser seligen Zeiten also noch aktiv zu erinnern vermag und schon das Original ermüdend fand, dem sei versichert, dass es sich hierbei auch schon um die einzige schlechte Nachricht dieser Besprechung handelt: Das Ça Plane Pour Moi-Cover ist, sofern überhaupt möglich, sogar noch hektischer und nervtötender als das Original, was vor allem an dem Aufziehpüppchengesang von Gastchanteuse Leelou liegt.
Ansonsten werden die Jungs von NV der Laidbackness, für die sie berühmt sind, wieder vollends gerecht. Wie gehabt führen Marc Collin und Olivier Libaux ihre liebsten Elektro-, Punk- und New-Wave-Klassiker mittels komplettem Neuarrangement einer ganz persönlichen Zweitverwertung zu, doch anstatt wie auf dem Debütalbum Nouvelle Vague (2004) und dem Nachfolger Bande à Part (2006) die Originale im Bossa Nova-Rhythmus neu erstrahlen zu lassen, hüllen sie sie jetzt in schillernde Bluegrass-Country-Folk-Easy-Listening-Jazz-Gewänder.
Ohnehin gelingt es dem Produzenten-Duo, den Klassikern ihre überraschend beschwingte Seite abzutrotzen. Wer hätte gedacht, dass beispielsweise All My Colors der psychedelischen Düstercombo Echo & The Bunnymen wie eine lang verschollene Easy-Listening-Komposition klingen kann oder der leicht sadomasochistische Industrial-Song Master and Servant von Depeche Mode zur verhauchten Strip-Bar-Nummer wird? Auch den Originalkünstlern wie Ian McCulloch (Echo & The Bunnymen) oder Martin Gore (Depeche Mode) schien das Verwandlungsspiel ihrer Werke zu gefallen: Sie kamen höchstpersönlich ins Studio um die jeweiligen Backgroundvocals ihrer alten Songs neu einzusingen.
Wenn man die Originale nicht kennt, ist 3 einfach eine schöne leichte Sommerplatte, mal frischer, mal lasziver, flattert wie ein bunter Schmetterling durch die Gehörgänge, setzt sich mal hier fest, mal dort, um dann weiterzufliegen. Wer aber die Originale kennt, den wird 3 richtig amüsieren. Ein Hörspaß par excellence, der auch wieder Lust macht auf die fast vergessenen Helden einer ebensolchen Ära, der einen in der Plattenkiste nach alten Police-Scheiben kramen lässt … und wo verdammt noch mal ist eigentlich meine fast totgespielte Sex Pistols-Single abgeblieben? Ganz wunderbar kann man hier das Unmixed-Remixed-Spiel spielen. Und auch wer darauf keine Lust hat, wird bei 3 auf seine Kosten kommen, sorgen Nouvelle Vague doch dafür, dass man sich in jene Songs, die man schon lange kennt und liebt, noch einmal ganz frisch verliebt.
Da verwundert es nicht, dass vielerorts schon zu lesen ist, dass wir es hier mit Nouvelle Vagues bislang stärkster Compilation zu tun haben. Kritiker hingegen mögen einwenden, dass dieses Konzept – denn hier handelt es sich, wie bei allen anderen NV-Platten auch, ganz klar um ein Konzeptalbum – spätestens mit dem dritten Mal ausgereizt ist. Dem möchte ich entgegenhalten, dass hier einerseits vermittels der absolut stilsicheren Songauswahl zeitlose Songs einem neuen, jungen Publikum zugeführt werden, welches sich dann vielleicht auch bemüßigt fühlt, in das ein oder andere Original hereinzuhören und sich somit eine bis dato unbekannte musikalische Welt zu erschließen (und das kann schließlich nicht oft genug passieren!). Eben alles, was man hören muss. Reich-Ranicki für New Wave-Dummies, sozusagen.
Andererseits ist es NV nicht einfach darum zu tun, Songklassiker gegen den vielbeschworenen Strich zu bürsten, sondern vielmehr darum, deren ihnen ohnehin schon innewohnende andere Seite zu beleuchten – und sofern es sich nicht um eine Plastikfließbandproduktion handelt, hat jede Komposition ihre andere Seite! Produzentenkunst mit dem Seziermesser, gewissermaßen. Man kann einem Song nichts hinzufügen, was nicht von vorn herein in ihm selbst schon angelegt ist. Hier haben wir es also nicht nur mit der ersten Unschuld zu tun, repräsentiert von den jungen französischen Sängerinnen, denen die Bedeutung von Post-Punk und Wave überhaupt nicht bewusst ist und die deshalb den alten Klassikern eine ganz neue, ganz naive Frische einzuhauchen vermögen, sondern auch mit der zweiten Unschuld jener Hörer, die die Originale zwar kennen, diese aber über die Neuinterpretationen zu vergessen lernen. In diesem Sinne gelingt Nouvelle Vague nichts Geringeres als die Wiederverzauberung der Wave-Welt.
Plattenkritik: Daniel Merriweather | Nouvelle Vague