September 2016 / Victoriah Szirmai
Wir schreiben die Neunzigerjahre des 20. Jahrhunderts, als sich der Musikhistoriker und Diskograph Rainer Lotz auf den Weg macht, den Katalog des Schallplattenlabels Semer zu rekonstruieren, dessen Veröffentlichungen den Soundtrack des jüdischen Berlins der Dreißigerjahre einfingen. Die Plattenfirma wurde von Hirsch Lewin ins Leben gerufen, der in den Zwanzigerjahren eine hebräische Buchhandlung in der Grenadierstraße führte. Lotz verfolgt kurzzeitig eine falsche Fährte, da zu ebenjener Zeit ein weiterer Lewin eine Schallplattenfirma namens Lukraphon betrieb. Schnell sollte sich jedoch herausstellen, dass weder die Lewins noch ihre Labels in engerer Beziehung zueinander standen, sondern unabhängig nebeneinander existierten.
Wo Moritz Lewins Lukraphon auf die moderne Kunstmusik jener Zeit setzt, steht das von Hirsch Lewin 1932 gegründete Semer-Label ganz im Zeichen seiner Judaika aller Art offerierenden Buchhandlung im Scheunenviertel. So wird auf Semer vor allem Sakrales veröffentlicht, sprich: synagogale Musik, aber auch jiddisches Kabarett sowie Musik aus der Tradition des Ostjudentums, jedoch – für uns erst einmal überraschend – kein Klezmer, schließlich gilt der zu jener Zeit noch als unfein. Fünf Jahre lang produziert Lewin, der als eine Art Arche Noah für die unter der NS-Herrschaft von Berufsverboten gebeutelten jüdischen Musiker fungiert, fieberhaft Aufnahme um Aufnahme. Der Semer-Katalog wächst, das Label gilt als jenes, das unter den Nationalsozialisten am längsten durchhält. Doch während der Novemberpogrome 1938 werden auch Lewins Buchhandlung samt Lager, darunter 4500 Schallplatten und 250 Matrizen, nahezu vollständig zerstört, Lewin selbst wird 1939 in Sachsenhausen inhaftiert. Unter der Bedingung, Deutschland umgehend zu verlassen, setzt man ihn ein halbes Jahr später auf freien Fuß. Er flieht nach Palästina, wo er wieder ins Schallplattengeschäft einsteigt.
Obgleich manche der Platten den Zweiten Weltkrieg nur als Einzelexemplar überstanden haben, konnten die Kataloge beider Labels nahezu vollständig rekonstruiert werden. Lotz, stolz darauf, „diese Originaltöne der Vergangenheit entrissen zu haben“, veröffentlicht den Semer-Katalog unter dem Titel Beyond Recall als ein elf CDs, eine DVD und ein 5-Kilogramm-schweres Booklet umfassendes Box-Set bei Bear Family. Dieses gibt im Jahr 2012 den Impuls für die Sonderausstellung Berlin Transit des Jüdischen Museums Berlin. Da man hier verhindern will, dass das gefundene Material zur musealen Klangkonserve verkommt, beauftragt Berlin Transit-Kurator Fabian Schnedler mit Alan Bern einen der Protagonisten des in den 1970er-Jahren in Nordamerika eingeläuteten Yiddish Music Revivals wiederum mit der Aufführung ausgewählter Beispiele aus dem Semer-Katalog.
Bern stellt das Semer Ensemble zusammen – eine Art All-Star-Band, zu der auch Schnedler mit seinem irgendwo zwischen Heldentenor und Kantor angesiedelten Timbre zählt. Das Ensemble setzt sich neben Alan Bern als musikalischem Direktor an Klavier und Akkordeon mit Klezmatics-Gründer Lorin Sklamberg, Jazzbassist Martin Lillich, Sänger Daniel Kahn, den Maxim-Gorki-Ensemble-Mitgliedern Sasha Lurje und Fabian Schnedler, Klezmer-Geiger Mark Kovnatskiy und Trompeter Paul Brody aus lauter Solisten zusammen, was Bern zufolge „nicht immer ganz einfach“ ist – doch das Ergebnis spricht für sich.
Drei Jahre lang feilt das Ensemble, das extreme Verfremdungen gleichberechtigt neben historischer Aufführungspraxis zulässt, an seinem Programm, bis es sein Repertoire schließlich unter Regie des Produzenten Ben Mandelson während dreier exklusiver Konzerte im Studio des Berliner Gorki Theaters im November 2015 auf CD einspielt. Bei den zwölf Stücken auf Rescued Treasure handelt es sich immer dann um Re-Interpretationen, wenn die leichte Unterhaltungsmusik der damaligen Zeit dramatisiert wurde, um den emotionalen Inhalt eines Stücks zu transportieren, denn, so Bern: „Nach Jimi Hendrix kann man musikalisch nicht mehr zurückhaltend sein, wenn man Wut ausdrücken möchte“.
Und die spielt, neben anderen starken Emotionen, eine Hauptrolle in diesen geretteten Schätzen über Liebe, Krieg, Eifersucht, Sozialismus, Thora und Tanz, die dank der virtuosen Aufführungspraxis des Semer Ensembles nicht nur zu neuem Leben erweckt, sondern auch mit erstaunlicher Aktualität angefüllt wurden. Der historisch Interessierte erfreut sich an einem schillernden Sammelsurium von Dreißigerjahre-Schlagern, russischer Folklore, jiddischen Theaterhits, Opernarien und Liturgischem, der Musikfan tanzt, lacht und weint derweil zu den in exzellenter Studioqualität eingefangenen Klängen und lässt sich zu guter Letzt mit dem kuriosen „Im Gasthof zur Goldenen Schnecke“ noch von einem gefährlichen Ohrwurm infizieren, den er so schnell nicht mehr los wird.
Alle Bilder sind beim Record Release Konzert am 25. Juni 2016 im Jüdischen Museum Berlin entstanden.