Inhaltsverzeichnis
- 1 Puder | Melissmell | First Aid Kit | Smith & Burrows | The BossHoss | Adam Cohen | VA: Geisterbahn | Joe Fleisch
- 2 Puder / Puder
Dieses Jahr fängt gut an: Nämlich mit der Veröffentlichung der Puder-Platte, hinter der sich die Hamburger Sängerin Catharina Boutari verbirgt. Weshalb mich das so freut? Nun, Puder hat mir gewissermaßen den letzten Sommer gerettet – und den Herbst gleich mit. Denn nicht nur das Projekt, sondern auch einer der vorab veröffentlichten Songs der Platte heißt „Puder“, und der, ja, der hatte mich gepackt, mit seinem atemlosen „und ich steh nicht und ich dreh mich, und ich tanze, ich beweg mich, meine Hände, meine Träume, meine Haut ist ihre Beute, Funken fliegen, ich erliege und die Crowd vor mir macht aah“!
Selbst in der auf lediglich zwei im Terzabstand harmonierende Gesangsstimmen mit Gitarrenbegleitung heruntergebrochenen Version, die ich während eines Akustik-Gigs von Boutari und ihrer Pussy-Empire-Labelkollegin Chantal de Freytas zu hören bekam, versprühte „Puder“ immer noch die selbe unglaubliche Energie, die auch dem fertig produzierten Track innewohnt. Allein der Start in den als Opener des Puder-Albums dienenden Songs mit einer fetten Hammond wirkt als Initialzündung, die die ganze Platte hindurch wirkt. Puder brennt und glitzert, Puder packt zu und lässt nicht mehr los. „Let’s Pop“, sagt Puder, und der Hörer folgt willig.
Erst nachdem ich „Puder“ kannte, habe ich die ungeheuer erfolgreichen Frida Gold und ihren Song „Komm zu mir nach Hause“ entdeckt – die Energie, den Hedonismus und den Glamour des „discoisierten Indie-Pops“ der Hattingener hat Puder schon längst und besticht noch dazu durch die raffiniertere Produktion und nicht zuletzt die tiefgründigeren Texte, denn trotz des im Vordergrund stehenden Imperativs „Tanz!“, der schon mehr Befehl als bloße Aufforderung ist, kann Puder mehr als die urbane Hedonistin zu geben. Klar, dass nach drei Alben, einer EP und einer längeren Pause, in der Boutari ein Kind bekommen hat, auch Zeit für den einen oder anderen leisen Ton ist.
Bestes Beispiel: Die aktuelle Single „Großstadtkonkubinen“, eine zerbrechliche Akustikballade. Boutari denkt nach über das Großstadtleben und seine Schattenseiten, über Obdachlosigkeit und Dramen an der Bordsteigkante; und als verantwortungsvolle Mutter auch darüber, welche Welt sie ihrem Kind vermachen wird. Ist „Meinen Kindern diese Welt“ oberflächlich betrachtet eine Reminiszenz an Peter Fox’ „Haus am See“, setzt sich tatsächlich aber mit Krieg und Völkermord auseinander, wobei das Schlagzeug den Groove hinter sich herschleppt, als hätte er das Gewicht von tausend Steinen. Da verwundert es kaum, dass sich Catharina Boutari eine Zeitmaschine wünscht, um die Geschichte neu zu schreiben („Straßenrand“). Und auch Dampfplauderer, die mehr versprechen, als sie halten, bekommen von Puder ihr Fett weg: „Du hast Parolen/und ich hab ‘nen Sack voll Gold!“
Ob Sack voll Gold oder vielschichtige Fundgrube – je öfter man die Puder-Platte hört, desto mehr Facetten und Anspielungen entdeckt man, von offensichtlichen Anklängen an die Neue Deutsche Welle ganz zu schweigen. Fast lupenreinen „Trio“-Klang bietet der überdrehte Shake-It-Baby-Song „Click Clack“, genauso wie der nervöse Mein-Land-ist-abgebrannt-Refrain „Straßenrand“. Neben dem stoischen Minimalismus von Trio ist aber auch der dichte Satzgesang von Ray Charles’ Backgroundsängerinnen ein Einfluss für „Puder“, ebenso wie der Oldschool-HipHop der Achtziger. Nicht zuletzt erinnert die oftmals mit wabernder Retro-Orgel und lickenden Gitarren gespickte dichte Atmosphäre an die überschäumenden Funk-Parties von James Brown oder George Clinton, wobei Puder kein Funk ist, kein Soul und schon gar kein R&B. Puder ist Zucker, ohne Soul zu sein, Puder ist Disco, Tanzbarkeit und Groove, dabei aber immer Pop.
Ganz en passant deckt Boutari dann noch die Formel fürs Lebensglück („Heyoh!“) auf und erdet das Ganze mit einem abschließenden Spoken-Word-Epilog. Absoluter Ohrwurm neben dem Titeltrack aber ist „Post vom Meer“, dessen Dann-kann-ich-das-Meer hören-Refrain man nicht mehr loswird. Ich kann mir vorstellen, dass dieses Ding der Sommerhit 2012 wird. Meiner auf jeden Fall.
Melissmell / Ecoute s'il pleut
Bekanntermaßen bin ich ja ein großer Fan von Ukulele-spielenden Sängerinnen/Illustratorinnen, allen voran der wunderbaren Illute. Jetzt gibt es mit Ecoute s’il pleut, dem Debütalbum der französischen Künstlerin Melissmell, neues Futter für diesen hawaiianisch-voyeuristischen Teil meiner Seele.
Melissmell, die die zu ihren Einflüssen CocoRosie ebenso zählt wie Nirvana, Gainsbourg wie Patty Smith, Sparkelhorse wie Janis Joplin, die Sex Pistols wie Björk und Jaques Brel wie die Doors, hat ein wildes, fast gewalttätiges Post-Punk-Album im Geiste Bertrand Cantas geschaffen, dessen Rohheit und Unmittelbarkeit aber immer wieder durch zärtliche Momente unterbrochen wird. Wie schon die eklektizistische Wahl ihrer Vorbilder ist auch Ecoute s’il pleut voller Gegensätze, irgendwo zwischen lyrischer Liedpoesie und der großen Rock’n’Roll-Hymne, bei der schon mal ein komplettes Streichquartett aufgefahren wird, arrangiert von Mels-Haus-Cellist Thomas Nicol, der gemeinsam mit Stefano Bonacci an der Gitarre das Soundbett für die wütende junge Sängerin bereitet, ergänzt durch Gastspiele von Hugo Cechosz am Bass, Philippe Entressangle am Schlagzeug und Matu am Klavier. Auch M-Gitarrist Seb Martel steuert das eine oder andere Riff bei.
Und dann gibt es da ja noch die Ukulele, die von Melissmell auf Ecoute s'il pleut im Gegensatz zu ihren Live-Auftritten nur sehr sehr spärlich eingesetzt wird und hier fast in den üppigen Arrangements verschwindet. Überhaupt fehlen auf dem Album die Ukulelen-Nummern wie beispielsweise „Marlene“, mit denen sich Melissmell eine kleine, aber feine Fangemeinde erspielt hat, ob im Rahmen der Fête de la Musique oder in den sozialen Medien.
Ecoute s’il pleut beginnt mit dem Ticken eines Weckers und lässt somit allerlei chansonesques Kleinkunstgeräusch erahnen, doch entwickelt sich der Opener „Aux Armes“ schon bald Richtung Le Rock denn zum ausgewachsenen Chanson. Auch das Cello-dominierte „Je me souviens“ schleicht in in bester Jaques-Brel-Manier an, entwickelt sich dann aber zu einer E-Gitarren-überlasteten Shouter-Nummer – und das ist schade, denn die leisen, akustischen Momente, wie sie am Anfang und Ende dieses Songs zu hören sind, machen für mich den Zauber der Französin aus. Überzeugen kann man sich davon auf „Viens“, das mit Klavier, Jazzbesenschlagzeug, Cello und Stimme schon fast Jazz-Quartett-Charakter hat. Der dritte Track, „Sobre Le Muerte“, hingegen macht wahnsinnig Spaß und zeigt entgegen dem verbreiteten Klischee: Doch, die Franzosen können rocken!
„Le Mouton“ mit seinem Reggae-artigen Rhythmus steht dem in Sachen Hörvergnügen in nichts nach, und doch ist es allenfalls der 38-Sekünder „Goûte“, der mit seinem Spieluhrcharakter noch an die Experimentierfreude der Melissmell von vor ein, zwei Jahren erinnert - doch leider soll er nur Präludium für die pathetische Rocknummer „Le Silence De L’agneau“ sein, und diese sagt ganz klar: Zu früh gefreut, denn sie vereint all jene überflüssigen Elemente, die französischer Rockmusik ihren zweifelhaften Ruf eingebracht haben. Gerade, wenn man so richtig desillusioniert ist, reißt Melissmell das Ganze mit dem energetischen „Sens Ma Fatigue“ wieder heraus. Der wohl beste Track des Albums!
Was mir noch an Melissmell gefällt: Dass sie sich nicht als singendes Hochglanzkätzchen vermarkten lässt, denn hübsch genug wäre die gelernte Illustratorin allemal. Stattdessen ziert das Cover ihres Debütalbums ganz uneitel eine (selbst-)gemalte Melissmell, die mit ihren aufgenähten Knopfaugen leicht unheimlich wirkt, irgendwo zwischen Emily the Strange und Kinderbuch, und sich durch das ganze Cover-Artwork zieht. So verleiht Melissmell ihrer Musik auch noch eine visuelle Komponente, die Ecoute s'il pleut zu einem kleinen, in sich geschlossenen Gesamtkunstwerk macht.
First Aid Kit / The Lion’s Roar
Im Gegensatz dazu kommt hier eine Platte, von der ich restlos begeistert bin. Ja, ich bin versucht zu sagen: The Lion’s Roar hat jetzt schon das Potenzial zur Platte des Jahres! Unbestreitbar ist der Zweitling der schwedischen Söderberg-Zwillinge –nachdem sie mit The Big Black and the Blue 2010 ein starkes Debüt hingelegt hatten – zumindest für diesen Teil des Jahres wie gemacht, denn ich kann mir keinen besseren Soundtrack zu einem verregneten Januar-Wochenende vorstellen als die Musik von First Aid Kit, der in der Tat etwas von einem Erste-Hilfe-Set an sich hat: Indie-Folk für die Seele.
War The Big Black and the Blue noch spärlich bis intim instrumentiert, fährt The Lion’s Roar eine komplette Band auf. Benkt Söderberg, der Vater der Mädchen, ist hier am Bass zu hören, Matthias Bergquist am Schlagwerk sowie eine Handvoll Musiker aus dem Umfeld des Projektes Bright Eyes aus Omaha, Nebraska, wie Conor Oberst , Mike Mogis und Nate Walcott. Mogis zeichnet auch für die Produktion von The Lion’s Roar verantwortlich, und auch das ist neu, denn Klara und Johanna hatten bislang noch nie mit einem Produzenten gearbeitet. Infolge ist die Platte auch mehr Honkey-Tonk als Lagerfeuer, und das im besten Sinne. Nicht zuletzt macht die professionelle Produktion den Sound der Schwestern recht eingängig und leicht fassbar.
Geblieben ist ihr Faible für das Bittersüße. So beispielsweise ist „This Old Routine“ typische Country-Ballade, die den Verlust vergangener Glanzpunkte und die Trauer über den sich allmählich einschleichenden Alltag beschreibt und für die sich selbst Dolly Parton nicht schämen müsste. Und auch die fröhlich-brutale Version der Mörderballade „Knoxville Girl“ des Close-Harmony-Duos Louvin Brothers muss zumindest als Zitat herhalten, um zu demonstrieren, wie nahe Süßes und Saures, Freude und Schmerz, liegen. Dann wären da noch Songs wie „Emmylou“, die zwar fröhlich klingen, aber „der Text ist die traurigste Sache, die du je gehört hast“, wie Johanna Söderberg erklärt. Schließlich setzen sich die Zwillinge in dem Song – neben Gram Parsons, Johnny Cash und June Carter – mit Country-Größe Emmylou Harris auseinander, und mit der Traurigkeit, die sich trotz einer erfolgreichen Karriere durch das Leben und Werk der Künstlerin zieht.
Neben dem Titeltrack „The Lion’s Roar“ und dem großartigen „I Found A Way“ ist mein persönlicher Favorit des Albums „Dance To Another Tune“, welches es perfekt versteht, den Appeal langer skandinavischer Winter mit traditionellen Americana zu verschmelzen – wobei dies im Grunde genommen die Kurzformel ist, auf die man First Aid Kit herunterbrechen könnte: Nord-europäische Schwermut trifft auf amerikanisch-beschwingten Country-Folk-Rock. Und das ist erst der Anfang. Ich freue mich auf alles, was von den als Fleet-Foxes-Coverband gestarteten Mädels noch kommen wird!
Smith & Burrows / Funny Looking Angels
- 3 Various Artists / GeisterBahn
Victoriah Szirmai / Januar 2012
Diese Ausgabe unserer Musik-Kolumne enthält acht neue Platten von folgenden Künstlern: Puder | Melissmell | First Aid Kit | Smith & Burrows | The BossHoss | Adam Cohen | VA: Geisterbahn | Joe Fleisch
Puder / Puder
Dieses Jahr fängt gut an: Nämlich mit der Veröffentlichung der Puder-Platte, hinter der sich die Hamburger Sängerin Catharina Boutari verbirgt. Weshalb mich das so freut? Nun, Puder hat mir gewissermaßen den letzten Sommer gerettet – und den Herbst gleich mit. Denn nicht nur das Projekt, sondern auch einer der vorab veröffentlichten Songs der Platte heißt „Puder“, und der, ja, der hatte mich gepackt, mit seinem atemlosen „und ich steh nicht und ich dreh mich, und ich tanze, ich beweg mich, meine Hände, meine Träume, meine Haut ist ihre Beute, Funken fliegen, ich erliege und die Crowd vor mir macht aah“!
Selbst in der auf lediglich zwei im Terzabstand harmonierende Gesangsstimmen mit Gitarrenbegleitung heruntergebrochenen Version, die ich während eines Akustik-Gigs von Boutari und ihrer Pussy-Empire-Labelkollegin Chantal de Freytas zu hören bekam, versprühte „Puder“ immer noch die selbe unglaubliche Energie, die auch dem fertig produzierten Track innewohnt. Allein der Start in den als Opener des Puder-Albums dienenden Songs mit einer fetten Hammond wirkt als Initialzündung, die die ganze Platte hindurch wirkt. Puder brennt und glitzert, Puder packt zu und lässt nicht mehr los. „Let’s Pop“, sagt Puder, und der Hörer folgt willig.
Erst nachdem ich „Puder“ kannte, habe ich die ungeheuer erfolgreichen Frida Gold und ihren Song „Komm zu mir nach Hause“ entdeckt – die Energie, den Hedonismus und den Glamour des „discoisierten Indie-Pops“ der Hattingener hat Puder schon längst und besticht noch dazu durch die raffiniertere Produktion und nicht zuletzt die tiefgründigeren Texte, denn trotz des im Vordergrund stehenden Imperativs „Tanz!“, der schon mehr Befehl als bloße Aufforderung ist, kann Puder mehr als die urbane Hedonistin zu geben. Klar, dass nach drei Alben, einer EP und einer längeren Pause, in der Boutari ein Kind bekommen hat, auch Zeit für den einen oder anderen leisen Ton ist.
Bestes Beispiel: Die aktuelle Single „Großstadtkonkubinen“, eine zerbrechliche Akustikballade. Boutari denkt nach über das Großstadtleben und seine Schattenseiten, über Obdachlosigkeit und Dramen an der Bordsteigkante; und als verantwortungsvolle Mutter auch darüber, welche Welt sie ihrem Kind vermachen wird. Ist „Meinen Kindern diese Welt“ oberflächlich betrachtet eine Reminiszenz an Peter Fox’ „Haus am See“, setzt sich tatsächlich aber mit Krieg und Völkermord auseinander, wobei das Schlagzeug den Groove hinter sich herschleppt, als hätte er das Gewicht von tausend Steinen. Da verwundert es kaum, dass sich Catharina Boutari eine Zeitmaschine wünscht, um die Geschichte neu zu schreiben („Straßenrand“). Und auch Dampfplauderer, die mehr versprechen, als sie halten, bekommen von Puder ihr Fett weg: „Du hast Parolen/und ich hab ‘nen Sack voll Gold!“
Ob Sack voll Gold oder vielschichtige Fundgrube – je öfter man die Puder-Platte hört, desto mehr Facetten und Anspielungen entdeckt man, von offensichtlichen Anklängen an die Neue Deutsche Welle ganz zu schweigen. Fast lupenreinen „Trio“-Klang bietet der überdrehte Shake-It-Baby-Song „Click Clack“, genauso wie der nervöse Mein-Land-ist-abgebrannt-Refrain „Straßenrand“. Neben dem stoischen Minimalismus von Trio ist aber auch der dichte Satzgesang von Ray Charles’ Backgroundsängerinnen ein Einfluss für „Puder“, ebenso wie der Oldschool-HipHop der Achtziger. Nicht zuletzt erinnert die oftmals mit wabernder Retro-Orgel und lickenden Gitarren gespickte dichte Atmosphäre an die überschäumenden Funk-Parties von James Brown oder George Clinton, wobei Puder kein Funk ist, kein Soul und schon gar kein R&B. Puder ist Zucker, ohne Soul zu sein, Puder ist Disco, Tanzbarkeit und Groove, dabei aber immer Pop.
Ganz en passant deckt Boutari dann noch die Formel fürs Lebensglück („Heyoh!“) auf und erdet das Ganze mit einem abschließenden Spoken-Word-Epilog. Absoluter Ohrwurm neben dem Titeltrack aber ist „Post vom Meer“, dessen Dann-kann-ich-das-Meer hören-Refrain man nicht mehr loswird. Ich kann mir vorstellen, dass dieses Ding der Sommerhit 2012 wird. Meiner auf jeden Fall.
Melissmell / Ecoute s’il pleut
Bekanntermaßen bin ich ja ein großer Fan von Ukulele-spielenden Sängerinnen/Illustratorinnen, allen voran der wunderbaren Illute. Jetzt gibt es mit Ecoute s’il pleut, dem Debütalbum der französischen Künstlerin Melissmell, neues Futter für diesen hawaiianisch-voyeuristischen Teil meiner Seele.
Melissmell, die die zu ihren Einflüssen CocoRosie ebenso zählt wie Nirvana, Gainsbourg wie Patty Smith, Sparkelhorse wie Janis Joplin, die Sex Pistols wie Björk und Jaques Brel wie die Doors, hat ein wildes, fast gewalttätiges Post-Punk-Album im Geiste Bertrand Cantas geschaffen, dessen Rohheit und Unmittelbarkeit aber immer wieder durch zärtliche Momente unterbrochen wird. Wie schon die eklektizistische Wahl ihrer Vorbilder ist auch Ecoute s’il pleut voller Gegensätze, irgendwo zwischen lyrischer Liedpoesie und der großen Rock’n’Roll-Hymne, bei der schon mal ein komplettes Streichquartett aufgefahren wird, arrangiert von Mels-Haus-Cellist Thomas Nicol, der gemeinsam mit Stefano Bonacci an der Gitarre das Soundbett für die wütende junge Sängerin bereitet, ergänzt durch Gastspiele von Hugo Cechosz am Bass, Philippe Entressangle am Schlagzeug und Matu am Klavier. Auch M-Gitarrist Seb Martel steuert das eine oder andere Riff bei.
Und dann gibt es da ja noch die Ukulele, die von Melissmell auf Ecoute s’il pleut im Gegensatz zu ihren Live-Auftritten nur sehr sehr spärlich eingesetzt wird und hier fast in den üppigen Arrangements verschwindet. Überhaupt fehlen auf dem Album die Ukulelen-Nummern wie beispielsweise „Marlene“, mit denen sich Melissmell eine kleine, aber feine Fangemeinde erspielt hat, ob im Rahmen der Fête de la Musique oder in den sozialen Medien.
Ecoute s’il pleut beginnt mit dem Ticken eines Weckers und lässt somit allerlei chansonesques Kleinkunstgeräusch erahnen, doch entwickelt sich der Opener „Aux Armes“ schon bald Richtung Le Rock denn zum ausgewachsenen Chanson. Auch das Cello-dominierte „Je me souviens“ schleicht in in bester Jaques-Brel-Manier an, entwickelt sich dann aber zu einer E-Gitarren-überlasteten Shouter-Nummer – und das ist schade, denn die leisen, akustischen Momente, wie sie am Anfang und Ende dieses Songs zu hören sind, machen für mich den Zauber der Französin aus. Überzeugen kann man sich davon auf „Viens“, das mit Klavier, Jazzbesenschlagzeug, Cello und Stimme schon fast Jazz-Quartett-Charakter hat. Der dritte Track, „Sobre Le Muerte“, hingegen macht wahnsinnig Spaß und zeigt entgegen dem verbreiteten Klischee: Doch, die Franzosen können rocken!
„Le Mouton“ mit seinem Reggae-artigen Rhythmus steht dem in Sachen Hörvergnügen in nichts nach, und doch ist es allenfalls der 38-Sekünder „Goûte“, der mit seinem Spieluhrcharakter noch an die Experimentierfreude der Melissmell von vor ein, zwei Jahren erinnert – doch leider soll er nur Präludium für die pathetische Rocknummer „Le Silence De L’agneau“ sein, und diese sagt ganz klar: Zu früh gefreut, denn sie vereint all jene überflüssigen Elemente, die französischer Rockmusik ihren zweifelhaften Ruf eingebracht haben. Gerade, wenn man so richtig desillusioniert ist, reißt Melissmell das Ganze mit dem energetischen „Sens Ma Fatigue“ wieder heraus. Der wohl beste Track des Albums!
Was mir noch an Melissmell gefällt: Dass sie sich nicht als singendes Hochglanzkätzchen vermarkten lässt, denn hübsch genug wäre die gelernte Illustratorin allemal. Stattdessen ziert das Cover ihres Debütalbums ganz uneitel eine (selbst-)gemalte Melissmell, die mit ihren aufgenähten Knopfaugen leicht unheimlich wirkt, irgendwo zwischen Emily the Strange und Kinderbuch, und sich durch das ganze Cover-Artwork zieht. So verleiht Melissmell ihrer Musik auch noch eine visuelle Komponente, die Ecoute s’il pleut zu einem kleinen, in sich geschlossenen Gesamtkunstwerk macht.
First Aid Kit / The Lion’s Roar
Im Gegensatz dazu kommt hier eine Platte, von der ich restlos begeistert bin. Ja, ich bin versucht zu sagen: The Lion’s Roar hat jetzt schon das Potenzial zur Platte des Jahres! Unbestreitbar ist der Zweitling der schwedischen Söderberg-Zwillinge –nachdem sie mit The Big Black and the Blue 2010 ein starkes Debüt hingelegt hatten – zumindest für diesen Teil des Jahres wie gemacht, denn ich kann mir keinen besseren Soundtrack zu einem verregneten Januar-Wochenende vorstellen als die Musik von First Aid Kit, der in der Tat etwas von einem Erste-Hilfe-Set an sich hat: Indie-Folk für die Seele.
War The Big Black and the Blue noch spärlich bis intim instrumentiert, fährt The Lion’s Roar eine komplette Band auf. Benkt Söderberg, der Vater der Mädchen, ist hier am Bass zu hören, Matthias Bergquist am Schlagwerk sowie eine Handvoll Musiker aus dem Umfeld des Projektes Bright Eyes aus Omaha, Nebraska, wie Conor Oberst , Mike Mogis und Nate Walcott. Mogis zeichnet auch für die Produktion von The Lion’s Roar verantwortlich, und auch das ist neu, denn Klara und Johanna hatten bislang noch nie mit einem Produzenten gearbeitet. Infolge ist die Platte auch mehr Honkey-Tonk als Lagerfeuer, und das im besten Sinne. Nicht zuletzt macht die professionelle Produktion den Sound der Schwestern recht eingängig und leicht fassbar.
Geblieben ist ihr Faible für das Bittersüße. So beispielsweise ist „This Old Routine“ typische Country-Ballade, die den Verlust vergangener Glanzpunkte und die Trauer über den sich allmählich einschleichenden Alltag beschreibt und für die sich selbst Dolly Parton nicht schämen müsste. Und auch die fröhlich-brutale Version der Mörderballade „Knoxville Girl“ des Close-Harmony-Duos Louvin Brothers muss zumindest als Zitat herhalten, um zu demonstrieren, wie nahe Süßes und Saures, Freude und Schmerz, liegen. Dann wären da noch Songs wie „Emmylou“, die zwar fröhlich klingen, aber „der Text ist die traurigste Sache, die du je gehört hast“, wie Johanna Söderberg erklärt. Schließlich setzen sich die Zwillinge in dem Song – neben Gram Parsons, Johnny Cash und June Carter – mit Country-Größe Emmylou Harris auseinander, und mit der Traurigkeit, die sich trotz einer erfolgreichen Karriere durch das Leben und Werk der Künstlerin zieht.
Neben dem Titeltrack „The Lion’s Roar“ und dem großartigen „I Found A Way“ ist mein persönlicher Favorit des Albums „Dance To Another Tune“, welches es perfekt versteht, den Appeal langer skandinavischer Winter mit traditionellen Americana zu verschmelzen – wobei dies im Grunde genommen die Kurzformel ist, auf die man First Aid Kit herunterbrechen könnte: Nord-europäische Schwermut trifft auf amerikanisch-beschwingten Country-Folk-Rock. Und das ist erst der Anfang. Ich freue mich auf alles, was von den als Fleet-Foxes-Coverband gestarteten Mädels noch kommen wird!
Smith & Burrows / Funny Looking Angels
Erinnern Sie sich noch an „Wonderful Life“ des britischen Sängers Colin Vearncombe, besser bekannt als Black, von 1987? Nachdem die beiden Indie-Rockband-Frontmänner Tom Smith von den Editors und Andy Burrows von Razorlight den Herzensbrecher vor einigen Jahren gemeinsam live performten, entschloss man sich nun zur Aufnahme. Und weil man schon mal so schön dabei war, in den Achtzigersounds zu schwelgen, sattelte man gleich noch ein Cover von „Only You“, dem 1982er Riesenhit des aus Vince Clark und Alison Moyet bestehenden Duo Yazoo, oben drauf. Wer dessen „All I needed was the love you gave/All I needed for another day“-Refrain nicht im Schlaf mitsingen kann, hat die Achtziger nicht miterlebt! Okay, böse Stimmen behaupten, wer sich an die Achtziger erinnern könne, hätte sie nicht miterlebt, aber das ist eine andere Geschichte …
In jedem Falle ist Smith & Burrows Verneigung vor ihren großen Landsmännern gelungen, beide Cover überzeugen einerseits durch soviel Authentizität, wie es bei einem Cover der Natur der Sache nach überhaupt möglich ist, kommen andererseits schon allein durch die massive Verwendung von Hall äußerst stilecht daher. Traumschön das Cello auf „Wonderful Life“! Nicht ganz so bekannt sind die Britpop-Originale von „On and On“ (The Longpigs) und „Funny Looking Angels“, einem Titel der Birminghamer Kultband Delta, der gleichzeitig als Motto für das Smith & Burrows-Album herhalten musste.
Was die Platte schwierig macht, sind die Eigenkompositionen, beispielsweise „When The Thames Froze“, wo sich ein Lean-On-Me-Gospel-Klavier mit Weihnachtsoratoriums-Trompeten und Rührtrommeln mischt. Seltsam, mag man denken, doch bei einem neuerlichen Blick auf das Cover folgt die Erklärung auf dem Fuße: Funny Looking Angels ist dem Untertitel zufolge „An Album For Christmas“. Smith&Burrows zeigen sich gleichermaßen fasziniert von weihnachtlichen Konzeptalben, von den guten ebenso wie von den diese zahlenmäßig bei weitem übertreffenden schlechten. Schnell war man sich auch einig, dass heutzutage die Unschuld traditioneller Weihnachtslieder dem Kommerzgedanken gewichen war, und so beschloss man, ein Album aufzunehmen, welches zwar für Weihnachten konzipiert ist, aber auch danach noch funktioniert: als Soundtrack zum Dinner oder beim Lümmeln auf dem Sofa, während das Winterwetter draußen bleiben muss.
Über Weihnachten hinaus funktioniert tatsächlich das eingängige „As The Snowflakes Fall“, bei dem man ständig denkt, das habe ich doch schon mal gehört, sowie der einzige Song, der sich per Titel auf Weihnachten bezieht: der nur etwas mehr als zwei-minütige „The Christmas Song“. Letzterer verdankt dies vor allem der Vocal-Performance meiner Lieblingsdänin Agnes Obel, die den Song in ein (jahres-)zeitloses Duett im Stile Anna Ternheims und Dave Fergusons „The Longer The Waiting (The Sweeter The Kiss)“ verwandelt. Gänsehaut garantiert! Zudem schließt der „Christmas Song“ den Bogen zum getragenen Album-Opener „In The Bleak Midwinter“. Ach nein, beschweren kann man sich über diese Platte nicht. Man muss eben ein Faible für Fanfaren und Jingle Bells haben.
Wirklich überdauern werden von den Funny Looking Angels meiner Meinung nach nur die beiden Achtziger-Cover. Aber was heißt hier eigentlich nur? Sich an dermaßen berühmten Vorlagen versuchen und nicht zu scheitern – das sollen andere erst einmal nachmachen. Auch, wer mit Weihnachten die nächsten elf Monate nichts zu tun haben möchte, kommt nicht umhin zuzugeben, dass Smith& Burrows „Wonderful Life“ und „Only You“ für die Generation Britpop/Indie-Rock neu entdeckt haben.
Plattenkritik: Puder | Melissmell | First Aid Kit | Smith & Burrows | The BossHoss | Adam Cohen | VA: Geisterbahn | Joe Fleisch
- 1 Puder | Melissmell | First Aid Kit | Smith & Burrows | The BossHoss | Adam Cohen | VA: Geisterbahn | Joe Fleisch
- 2 Puder / Puder
Dieses Jahr fängt gut an: Nämlich mit der Veröffentlichung der Puder-Platte, hinter der sich die Hamburger Sängerin Catharina Boutari verbirgt. Weshalb mich das so freut? Nun, Puder hat mir gewissermaßen den letzten Sommer gerettet – und den Herbst gleich mit. Denn nicht nur das Projekt, sondern auch einer der vorab veröffentlichten Songs der Platte heißt „Puder“, und der, ja, der hatte mich gepackt, mit seinem atemlosen „und ich steh nicht und ich dreh mich, und ich tanze, ich beweg mich, meine Hände, meine Träume, meine Haut ist ihre Beute, Funken fliegen, ich erliege und die Crowd vor mir macht aah“!
Selbst in der auf lediglich zwei im Terzabstand harmonierende Gesangsstimmen mit Gitarrenbegleitung heruntergebrochenen Version, die ich während eines Akustik-Gigs von Boutari und ihrer Pussy-Empire-Labelkollegin Chantal de Freytas zu hören bekam, versprühte „Puder“ immer noch die selbe unglaubliche Energie, die auch dem fertig produzierten Track innewohnt. Allein der Start in den als Opener des Puder-Albums dienenden Songs mit einer fetten Hammond wirkt als Initialzündung, die die ganze Platte hindurch wirkt. Puder brennt und glitzert, Puder packt zu und lässt nicht mehr los. „Let’s Pop“, sagt Puder, und der Hörer folgt willig.
Erst nachdem ich „Puder“ kannte, habe ich die ungeheuer erfolgreichen Frida Gold und ihren Song „Komm zu mir nach Hause“ entdeckt – die Energie, den Hedonismus und den Glamour des „discoisierten Indie-Pops“ der Hattingener hat Puder schon längst und besticht noch dazu durch die raffiniertere Produktion und nicht zuletzt die tiefgründigeren Texte, denn trotz des im Vordergrund stehenden Imperativs „Tanz!“, der schon mehr Befehl als bloße Aufforderung ist, kann Puder mehr als die urbane Hedonistin zu geben. Klar, dass nach drei Alben, einer EP und einer längeren Pause, in der Boutari ein Kind bekommen hat, auch Zeit für den einen oder anderen leisen Ton ist.
Bestes Beispiel: Die aktuelle Single „Großstadtkonkubinen“, eine zerbrechliche Akustikballade. Boutari denkt nach über das Großstadtleben und seine Schattenseiten, über Obdachlosigkeit und Dramen an der Bordsteigkante; und als verantwortungsvolle Mutter auch darüber, welche Welt sie ihrem Kind vermachen wird. Ist „Meinen Kindern diese Welt“ oberflächlich betrachtet eine Reminiszenz an Peter Fox’ „Haus am See“, setzt sich tatsächlich aber mit Krieg und Völkermord auseinander, wobei das Schlagzeug den Groove hinter sich herschleppt, als hätte er das Gewicht von tausend Steinen. Da verwundert es kaum, dass sich Catharina Boutari eine Zeitmaschine wünscht, um die Geschichte neu zu schreiben („Straßenrand“). Und auch Dampfplauderer, die mehr versprechen, als sie halten, bekommen von Puder ihr Fett weg: „Du hast Parolen/und ich hab ‘nen Sack voll Gold!“
Ob Sack voll Gold oder vielschichtige Fundgrube – je öfter man die Puder-Platte hört, desto mehr Facetten und Anspielungen entdeckt man, von offensichtlichen Anklängen an die Neue Deutsche Welle ganz zu schweigen. Fast lupenreinen „Trio“-Klang bietet der überdrehte Shake-It-Baby-Song „Click Clack“, genauso wie der nervöse Mein-Land-ist-abgebrannt-Refrain „Straßenrand“. Neben dem stoischen Minimalismus von Trio ist aber auch der dichte Satzgesang von Ray Charles’ Backgroundsängerinnen ein Einfluss für „Puder“, ebenso wie der Oldschool-HipHop der Achtziger. Nicht zuletzt erinnert die oftmals mit wabernder Retro-Orgel und lickenden Gitarren gespickte dichte Atmosphäre an die überschäumenden Funk-Parties von James Brown oder George Clinton, wobei Puder kein Funk ist, kein Soul und schon gar kein R&B. Puder ist Zucker, ohne Soul zu sein, Puder ist Disco, Tanzbarkeit und Groove, dabei aber immer Pop.
Ganz en passant deckt Boutari dann noch die Formel fürs Lebensglück („Heyoh!“) auf und erdet das Ganze mit einem abschließenden Spoken-Word-Epilog. Absoluter Ohrwurm neben dem Titeltrack aber ist „Post vom Meer“, dessen Dann-kann-ich-das-Meer hören-Refrain man nicht mehr loswird. Ich kann mir vorstellen, dass dieses Ding der Sommerhit 2012 wird. Meiner auf jeden Fall.
Melissmell / Ecoute s'il pleut
Bekanntermaßen bin ich ja ein großer Fan von Ukulele-spielenden Sängerinnen/Illustratorinnen, allen voran der wunderbaren Illute. Jetzt gibt es mit Ecoute s’il pleut, dem Debütalbum der französischen Künstlerin Melissmell, neues Futter für diesen hawaiianisch-voyeuristischen Teil meiner Seele.
Melissmell, die die zu ihren Einflüssen CocoRosie ebenso zählt wie Nirvana, Gainsbourg wie Patty Smith, Sparkelhorse wie Janis Joplin, die Sex Pistols wie Björk und Jaques Brel wie die Doors, hat ein wildes, fast gewalttätiges Post-Punk-Album im Geiste Bertrand Cantas geschaffen, dessen Rohheit und Unmittelbarkeit aber immer wieder durch zärtliche Momente unterbrochen wird. Wie schon die eklektizistische Wahl ihrer Vorbilder ist auch Ecoute s’il pleut voller Gegensätze, irgendwo zwischen lyrischer Liedpoesie und der großen Rock’n’Roll-Hymne, bei der schon mal ein komplettes Streichquartett aufgefahren wird, arrangiert von Mels-Haus-Cellist Thomas Nicol, der gemeinsam mit Stefano Bonacci an der Gitarre das Soundbett für die wütende junge Sängerin bereitet, ergänzt durch Gastspiele von Hugo Cechosz am Bass, Philippe Entressangle am Schlagzeug und Matu am Klavier. Auch M-Gitarrist Seb Martel steuert das eine oder andere Riff bei.
Und dann gibt es da ja noch die Ukulele, die von Melissmell auf Ecoute s'il pleut im Gegensatz zu ihren Live-Auftritten nur sehr sehr spärlich eingesetzt wird und hier fast in den üppigen Arrangements verschwindet. Überhaupt fehlen auf dem Album die Ukulelen-Nummern wie beispielsweise „Marlene“, mit denen sich Melissmell eine kleine, aber feine Fangemeinde erspielt hat, ob im Rahmen der Fête de la Musique oder in den sozialen Medien.
Ecoute s’il pleut beginnt mit dem Ticken eines Weckers und lässt somit allerlei chansonesques Kleinkunstgeräusch erahnen, doch entwickelt sich der Opener „Aux Armes“ schon bald Richtung Le Rock denn zum ausgewachsenen Chanson. Auch das Cello-dominierte „Je me souviens“ schleicht in in bester Jaques-Brel-Manier an, entwickelt sich dann aber zu einer E-Gitarren-überlasteten Shouter-Nummer – und das ist schade, denn die leisen, akustischen Momente, wie sie am Anfang und Ende dieses Songs zu hören sind, machen für mich den Zauber der Französin aus. Überzeugen kann man sich davon auf „Viens“, das mit Klavier, Jazzbesenschlagzeug, Cello und Stimme schon fast Jazz-Quartett-Charakter hat. Der dritte Track, „Sobre Le Muerte“, hingegen macht wahnsinnig Spaß und zeigt entgegen dem verbreiteten Klischee: Doch, die Franzosen können rocken!
„Le Mouton“ mit seinem Reggae-artigen Rhythmus steht dem in Sachen Hörvergnügen in nichts nach, und doch ist es allenfalls der 38-Sekünder „Goûte“, der mit seinem Spieluhrcharakter noch an die Experimentierfreude der Melissmell von vor ein, zwei Jahren erinnert - doch leider soll er nur Präludium für die pathetische Rocknummer „Le Silence De L’agneau“ sein, und diese sagt ganz klar: Zu früh gefreut, denn sie vereint all jene überflüssigen Elemente, die französischer Rockmusik ihren zweifelhaften Ruf eingebracht haben. Gerade, wenn man so richtig desillusioniert ist, reißt Melissmell das Ganze mit dem energetischen „Sens Ma Fatigue“ wieder heraus. Der wohl beste Track des Albums!
Was mir noch an Melissmell gefällt: Dass sie sich nicht als singendes Hochglanzkätzchen vermarkten lässt, denn hübsch genug wäre die gelernte Illustratorin allemal. Stattdessen ziert das Cover ihres Debütalbums ganz uneitel eine (selbst-)gemalte Melissmell, die mit ihren aufgenähten Knopfaugen leicht unheimlich wirkt, irgendwo zwischen Emily the Strange und Kinderbuch, und sich durch das ganze Cover-Artwork zieht. So verleiht Melissmell ihrer Musik auch noch eine visuelle Komponente, die Ecoute s'il pleut zu einem kleinen, in sich geschlossenen Gesamtkunstwerk macht.
First Aid Kit / The Lion’s Roar
Im Gegensatz dazu kommt hier eine Platte, von der ich restlos begeistert bin. Ja, ich bin versucht zu sagen: The Lion’s Roar hat jetzt schon das Potenzial zur Platte des Jahres! Unbestreitbar ist der Zweitling der schwedischen Söderberg-Zwillinge –nachdem sie mit The Big Black and the Blue 2010 ein starkes Debüt hingelegt hatten – zumindest für diesen Teil des Jahres wie gemacht, denn ich kann mir keinen besseren Soundtrack zu einem verregneten Januar-Wochenende vorstellen als die Musik von First Aid Kit, der in der Tat etwas von einem Erste-Hilfe-Set an sich hat: Indie-Folk für die Seele.
War The Big Black and the Blue noch spärlich bis intim instrumentiert, fährt The Lion’s Roar eine komplette Band auf. Benkt Söderberg, der Vater der Mädchen, ist hier am Bass zu hören, Matthias Bergquist am Schlagwerk sowie eine Handvoll Musiker aus dem Umfeld des Projektes Bright Eyes aus Omaha, Nebraska, wie Conor Oberst , Mike Mogis und Nate Walcott. Mogis zeichnet auch für die Produktion von The Lion’s Roar verantwortlich, und auch das ist neu, denn Klara und Johanna hatten bislang noch nie mit einem Produzenten gearbeitet. Infolge ist die Platte auch mehr Honkey-Tonk als Lagerfeuer, und das im besten Sinne. Nicht zuletzt macht die professionelle Produktion den Sound der Schwestern recht eingängig und leicht fassbar.
Geblieben ist ihr Faible für das Bittersüße. So beispielsweise ist „This Old Routine“ typische Country-Ballade, die den Verlust vergangener Glanzpunkte und die Trauer über den sich allmählich einschleichenden Alltag beschreibt und für die sich selbst Dolly Parton nicht schämen müsste. Und auch die fröhlich-brutale Version der Mörderballade „Knoxville Girl“ des Close-Harmony-Duos Louvin Brothers muss zumindest als Zitat herhalten, um zu demonstrieren, wie nahe Süßes und Saures, Freude und Schmerz, liegen. Dann wären da noch Songs wie „Emmylou“, die zwar fröhlich klingen, aber „der Text ist die traurigste Sache, die du je gehört hast“, wie Johanna Söderberg erklärt. Schließlich setzen sich die Zwillinge in dem Song – neben Gram Parsons, Johnny Cash und June Carter – mit Country-Größe Emmylou Harris auseinander, und mit der Traurigkeit, die sich trotz einer erfolgreichen Karriere durch das Leben und Werk der Künstlerin zieht.
Neben dem Titeltrack „The Lion’s Roar“ und dem großartigen „I Found A Way“ ist mein persönlicher Favorit des Albums „Dance To Another Tune“, welches es perfekt versteht, den Appeal langer skandinavischer Winter mit traditionellen Americana zu verschmelzen – wobei dies im Grunde genommen die Kurzformel ist, auf die man First Aid Kit herunterbrechen könnte: Nord-europäische Schwermut trifft auf amerikanisch-beschwingten Country-Folk-Rock. Und das ist erst der Anfang. Ich freue mich auf alles, was von den als Fleet-Foxes-Coverband gestarteten Mädels noch kommen wird!
Smith & Burrows / Funny Looking Angels
- 3 Various Artists / GeisterBahn