August 2016 / Lorina Speder
PJ Harveys neuntes Studioalbum The Hope Six Demolition Project ist eine Aufforderung an die Menschheit. Was passiert gerade in der Welt? Als hätte sie die Trump-Nominierung als Präsidentschaftskandidat und den Brexit geahnt, provoziert Harvey auf dem politischen Album mit plakativen Texten und marschähnlichen Kompositionen, die trotz der düsteren Aussagen durchweg unterhaltsam sind. Besonders die Konzentration auf Bläserinstrumente, die akzentuierend, aber auch als tonale Orientierung eingesetzt werden, verleiht dem Album eine besondere Tiefe. Dass die Stimmung der Lieder oft an ein Arrangement einer Blaskapelle aus den USA erinnert, ist sicherlich kein Zufall.
Die Inspiration für ihre Platte bekam die 46-Jährige Britin PJ Harvey auf ihren Reisen nach Washington D.C., in den Kosovo und nach Afghanistan. In den USA besuchte sie die Armenviertel der Hauptstadt, auch Hope Six Demolition Projects genannt, was nicht zuletzt mit dem Albumtitel aufgegriffen wird. Die Texte des gleichnamigen ersten Liedes stammen fast direkt von den Beschreibungen des Journalisten Paul Schwartzman, der ihr dort eine Einführung in die Lebensumstände gab. Die heruntergekommenen Gegenden abseits vom Weißen Haus hinterließen einen bleibenden Eindruck auf Harvey. Sie verarbeitet ihre Erlebnisse in den Songtexten des Albums. Die beschwingte Atmosphäre des ersten Songs täuscht, wenn sie über die Drogengesichter und die Benning Road, die auch die Todesstraße („Pathway of Death“) genannt wird, singt.
Im nächsten Lied wird dann auch die musikalische Stimmung dunkel. In „The Ministry of Defense“ setzt die Multi-Instrumentalistin eingängige Gitarrenriffs auf prägnante Gesangspassagen, in denen sie vom militärisch marschierenden Schlagzeug untermalt eine Schreckensvision von Krieg und Zerstörung zeichnet. Es sind die Eindrücke aus Afghanistan und den besuchten Flüchtlingscamps, über die sie hier singt. Die dunklen Töne ihres Solo Saxophons machen dabei deutlich, wie ernst es der Künstlerin ist – so drastisch ist die Musik.
Die gedrückte Stimmung wird im nächsten Song weitergeführt. In „A Line In the Sand“ warnt sie davor, dass die Menschheit ihre Geschichte vergisst und nichts aus ihr gelernt hat. Neben der Sologitarre, die durch die Strophen in hohen hallunterlegten Tönen heult, stechen in diesem Song besonders die Bläserspuren hervor. Sie akzentuieren und hauchen dem Song Leben ein. Am Ende kann man sogar ein bisschen Zuversicht vernehmen – PJ Harvey hat das Schlimmste im Menschen gesehen und besitzt trotzdem noch die Hoffnung, dass die gegenwärtigen Zeiten vernünftig gelöst werden.
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Das dritte Studioalbum A Raw Youth der Mexikanischen Band Le Butcherettes strotzt nur so vor knalligen Gitarrenriffs. Frontfrau Teri Gender Bender, die live auch gerne mal blutverschmiert auf die Bühne kommt, klingt so explosiv und ansteckend wie selten zuvor. Die Sängerin und Gitarristin wählte den Künstlernamen als Provokation und Betonung ihrer feministischen Einstellung, die sich durch das Album zieht.
Schon das erste Lied überzeugt mit einem rollenden Sound, den Produzent Omar Rodriguez-Lopez (The Mars Volta, At the Drive-In) über die Instrumente gelegt hat. Die trotzige Haltung von Gender Bender wird durch die verzerrte Stimme noch deutlicher. Dabei kommt ihr ungehaltenes Gemüt durch und gibt dem Lied eine außergewöhnliche Stimmung. Sie macht damit den letzten Zweiflern klar, dass auch Frauen Rockstars sein können.
Die Platte wäre aber nicht von Omar Rodriguez-Lopez produziert, wenn es keine progressiven Tendenzen gäbe. Die experimentelle Seite der Band kommt auf der Platte nicht zu kurz und zeigt sich in vielen außergewöhnlichen Sounds. So klingt das Intermezzo „La Uva“ mit Iggy Pop wie ein dämonischer Tanz in der Unterwelt. Die spanisch gesprochenen Worte Iggy Pops am Ende des Songs scheinen vom Teufel persönlich zu kommen.
Auch der Gitarrist und Sänger John Frusciante kommt auf der Platte zu einem Auftritt. In „My Half“ reichen geloopte Stimmen der Frontfrau für das Gerüst des Songs, der ohne Schlagzeug auskommt. Frusciantes mit Effekten angereicherte Gitarre sticht zwischendurch in mehreren Soli hervor und dudelt sonst fast ohne Pause herrlich trivial hinter Gender Benders Stimme. Auch der Synthiebass stammt von ihm. Dieser betont die säuselnden Hintergrundstimmen staccato-artig und gibt dem Lied einen eigenwilligen Rhythmus. Wer die progressiven Soloplatten des ehemaligen Red-Hot-Chili-Peppers-Mitglieds kennt, erkennt sofort, dass er perfekt ins Albumkonzept passt.
Auf der Deluxe-Version des Albums findet man außerdem akustische Versionen vom Opener und „F**k You Over“, die auch in dieser sanfteren Atmosphäre glänzen. Besonders hervorzuheben ist aber die wunderbar ironische Live-Interpretation von Miley Cyrus’ „Wrecking Ball“ als letztes Lied, in der die Band ihrem Namen alle Ehre macht.
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Nach zehn Jahren bringen Circa Survive ihr imposantes Debut-Album erneut auf den Markt. Es wurde nach der latinischen Quellennymphe und Göttin der Wasserquellen Juturna benannt und bisher über 162.000-mal verkauft. Die Ten-Year-Edition ist eine besondere Auflage, die mehr als zwei Stunden Material enthält und mit ungeahnten Demo-Aufnahmen und Bonus-Tracks das Fan-Herz höher schlagen lässt. Besonders die Linden-House-Demos geben interessante Einblicke in die Instrumentierung, da durch den unterschiedlichen Mix andere Akzente gesetzt werden.
In allen Liedern bestimmt Anthony Greens markante Stimme den Sound der Band und fliegt wie im Sturz über die Instrumente. In „Act Appalled“ wird er von den Becken des Schlagzeugs in ungeahnte Höhen getragen. Diese energetische Kombination zieht sich durch die ganze Platte. Dabei fügen die beiden repetitiven Gitarren den Drums eine neue Rhythmus-Ebene hinzu und beleben die Songs auf ihre eigene Art und Weise. Der Bass wird von Nick Beard dagegen ausgleichend tragend und ruhig gespielt. So kommt ein schöner Kontrast zwischen den Instrumenten zum Vorschein. Die Songtexte, die viel mehr beinhalten als die Titel vermuten lassen, geben der Musik eine neue Dimension. Greens Worte bilden dabei fast philosophisch anmutende, alles offen lassende Fragen und regen uns mit Sätzen wie „Patience, we and our words are over produced by influence“ zum Nachdenken an.
Die Single-Veröffentlichung von „Act Appalled“ aus dem Jahr 2005 würde einen bestimmt gerade bei Livekonzerten zum völligen Loslassen bewegen. Plötzlich empfindet man Nostalgie für die Zeit, in der Emo in aller Munde war und man nie so richtig wusste, was diese Bezeichnung für Musik eigentlich heißen sollte. Ob das Werk nun Progressive, Emo oder Post-Hardcore ist – das „Verschubladen“ in eines der dominanten Genres der Nuller-Jahre würde die Musik auf diesem Album nur einschränken.
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