April 2013 / Victoriah Szirmai
Wir schreiben das Jahr 1964. Stan Getz reitet mit seinem ein Jahr zuvor aufgenommenen Album Getz/Gilberto auf dem Höhepunkt der Bossa Nova-Welle – dem kollektiven Rausch, verursacht durch diese neue Musik aus Brasilien, die Ende der Fünfzigerjahre angetreten war, die Welt zu erobern. Die sinnlichen, dabei aber nie schwülstigen, sondern immer luftig-leichten Klänge erwiesen sich als ideale Hintergrundbeschallung mondäner Dinner-Partys – gemeinsam mit den Easy-Listening-Hits jener Zeit, wie etwa den Kompositionen Burt Bacharachs. Die knisterten in den Wohnzimmern nun elegant vom Vinyl, gilt die gute alte Schellackplatte doch zumindest in Westeuropa und Nordamerika gemeinhin seit spätestens 1960 als verschwunden.
Als hätte es das letzte halbe Jahrhundert nicht gegeben, knüpft Louise Gold mit dem Orchester von (Big-)Band-Leader Hans Quarz genau an diesem Punkt an, wenn Debut gänzlich unvermittelt von einem gedämpften Posaunenton, dezentem Bossa-Nova-Geschnassel und prätentiösem Diven-Gesang eröffnet wird. Zutaten, die zusammengenommen derart aus der Zeit gefallen zu sein scheinen, dass man versucht ist, die CD nochmals aus dem Spieler zu nehmen und das Kleingedruckte zu lesen: Hat man da wirklich ein 2013er-Album erwischt? Man hat.
Das Geheimnis dieses Sounds ist, dass Debut nicht nur oberflächlich nach Fünfziger-/Sechzigerjahre klingt, sondern nach dem echten Stoff: Das ganze Album wurde nämlich bei den Lightning Recorders in Berlin-Rummelsburg auf originalem Equipment – wie beispielsweise dem Telefunken M 10, das man ansonsten nur noch im Tonbandmuseum bewundern kann – aufgenommen. Und wo eine Bandmaschine ist, sind auch Bandecho beziehungsweise Bandhall (und mit ihnen Reminiszenzen an die ersten Rockabilly-Stücke von Elvis und Konsorten) nicht weit. Mehr Vintage geht kaum! Und es tut in einer Zeit, wo die Kids zwar reihenweise Swing- und Bigband-Sounds wiederentdecken, aber eben im Gewand der Electro Swing Revolution, auch einfach einmal wohl, die alten, ich möchte sagen: zeitlosen Sounds ohne darunterliegendes Unks-Unks-Unks zu hören.
Ebenso unvermittelt wie der Opener If I Don’t Have Love begonnen hat, startet auch Lied Nummer zwei durch. Man könnte auch sagen: Take This Longing fällt mit der Tür ins Haus. Ans Prinzip des Intros scheint man hier nicht zu glauben: Ungeduldig, nahezu nervös brennt man darauf, die Welt endlich teilhaben zu lassen an diesem unerhörten Album. Und auch ein Hauch My Definition of a Boombastic Jazzstyle der Dream Warriors s(ch)wingt hier mit. Boys Are Heroes dagegen klingt wie der Soundtrack eines kürzlich wiederentdeckten Bond-Streifens, handelt tatsächlich aber vom Bergsteigen, genauer: von zwei Bergsteigern, die ihre Mädchen im Dorf zurück gelassen haben, wobei nur einer von ihnen wieder heimkehren soll. Louise Gold, aus deren Feder alle Texte von Debut stammen, hat sich diese Geschichte nicht ausgedacht, sondern bei einer ihrer eigenen Bergtouren durch Südtirol selbst erlebt.
Leichter, nahezu Easy-Listening-artig mutet dagegen Tillerman & Comrade an, wobei Gold hier jedoch viel zu hintergründig ist, als dass man das Stück als bloße Klangtapete abtun könnte. Nicht ohne Grund wurde Tillerman zur ersten Single des Albums erkoren, dessen Essenz in diesem Stück zusammenzukommen scheint, selbst wenn die dem Titel geschuldete Blechtrommel manchmal gar allzu penetrant ertönt. Allein von seinem Groove her gefällt mir persönlich das Lullaby of Moabit mit seiner swingenden Django-Reinhardt-Gitarre am besten, noch dazu, da es mich an die einsamen Schichten meines – aus diesem Grund nur kurz ausgeübten – Studentenjobs im Keller des Jüdischen Museums Berlin erinnert, wo man an einer Lehrstation zum Thema „Swing tanzen verboten“ nur aus exakt zwei Liedern auswählen konnte: einer Reinhardt-Nummer und Ella Fitzgeralds My Little Yellow Basket, die ich gegen den latent lauernden Kellerkoller natürlich rauf und runter gespielt habe.
Faktisch aber beruht das Stück als eines der beiden Instrumentals von Debut auf einer Idee, die Quarz spätnachts zugeflogen ist, als er gedankenversunken aus seinem Proberaum ins laute Leben Berlin-Moabits zurückstolperte: ein Moabiter Wiegenlied eben, lässig schwingend und irgendwie auch ein bisschen über den Alltag erhaben, geht bei so einer Proberaumsession das Raum- und Zeitgefühl doch schon ganz gern mal verloren.
In Bezug auf die Zeit gilt das auch für Footloose Fancy-Free, bei dem man anfangs glauben könnte, mitten in einer Billie-Holiday-Aufnahme gelandet zu sein – allerdings einer Billie-Holiday-Aufnahme eher frivoler Natur. Den „Was kostet die Welt?“-Eindruck unterstreicht auch die Bigband, die Hans Quarz hier auffährt, um das ursprüngliche Sextett zum Tentett aufzublasen – und das im Wortsinne, denn auf Footloose Fancy-Free geht es vor allem um Bläser, Bläser und noch mehr Bläser, die die Nacht zum Tag machen.
Im direkten Vergleich dazu tatzt sich Any Human Heart nachgerade behäbig-schwül heran, entpuppt sich dann aber geradezu als Blaupause eines Songs, von dem meine Gesangslehrerin behauptet hätte, dass man sich in ihn wie in eine Hängematte hineinzufallen lassen habe, was Louise Gold hier auch definitiv tut – allerdings ohne je ihre Verantwortung, den Hörer an die Hand zu nehmen und durch das Stück zu führen, zu vergessen. Der kann sich dafür so gut unterhalten wie an Deck eines Transatlantikluxusdampfers der Zwanzigerjahre fühlen. Dennoch wird alle zur Schau gestellte Leichtigkeit den aufmerksameren Hörer nie über die große Kunstfertigkeit hinwegtäuschen, die hinter diesem Stück – ebenso wie allen übrigen auf Debut – steckt. Das ist schon ganz, ganz großes Kino.
Mit A Zoot Suit For My Sunday Gal, der die junge Swing-Szene zum Lindy-Hop-Tanzen bringen wird, präsentiert uns Louise Gold & The Quarz Orchestra dann nicht nur die einzige Fremdkomposition des Albums, sondern auch das einzige Duett, wobei das eine mit dem anderen zusammenhängt. Sie habe, so die Sängerin, unbedingt ein Stück mit Cherry Casino – dem Sänger der Fünfzigerjahre-R&B-Rockabilly-Band Cherry Casino & The Gamblers – aufnehmen wollen, hatte aber keinen Song.
Anstatt auf Naheliegendes wie ein Fitzgerald-Armstrong-Cover zu setzen, sei dann einer ihrer Musiker auf den Zoot Suit gestoßen, der zwar durch Aufnahmen der Andrews Sisters oder des legendären Bandleaders Kay Kyser und seines Orchesters leidlich bekannt ist, aber eben noch nicht so, dass sich die Leute daran überhört hätten. A Zoot Suit ist es allemal wert, wiederentdeckt zu werden – allein schon, weil man solch eine bestrickende Frivolität des Vortrags in der heutigen Popmusik nicht mehr finden wird, wo selbst der banalste Interpret noch an künstlerischer Ego-Migräne zu leiden scheint.
Kein Wunder, dass Unterhaltung, noch dazu leichte, heutzutage zum Schimpfwort geraten ist. In der Welt, in der sich Louise Gold mit dem Quarz Orchester bewegt und wohin sie ihre Hörer entführt, ist Unterhaltung dagegen keine Schande. In diesem Sinne ist Debut sicherlich sehr „amerikanisch“, wird doch in Amerika vor handwerklich perfekt gemachtem Entertainment bekanntermaßen nicht zurückgeschreckt.
Ohne uns jetzt in der Diskussion „europäischer versus amerikanischer Jazz“ verlieren zu wollen, sei Sinnsuchern mit Hush! Hush! Sweet Baby die einzige Ballade der Platte ans Herz gelegt, in der Gershwins Summertime anklingt – inklusive Operettenstimme der Interpretin, die es umso erstaunlicher macht, dass Louise Gold weder ein klassisches noch ein Jazz-Gesangsstudium absolviert haben will. Ich persönlich wurde mit diesem Stück zunächst so gar nicht warm, doch je öfter ich es höre, desto besser gefällt es mir. Hush! Hush! Sweet Baby braucht Zeit, sich zu entfalten – dann aber kann man sich nicht nur aus vollem Herzen an diesem wunderbaren, sich langsam entspinnenden Dialog zwischen Quarz‘ Posaune und Golds Stimme erfreuen, sondern sogar so etwas wie Neid verspüren: Nur einmal im Leben das Glück haben, mit solch einem einfühlsamen, die eigene künstlerische Persönlichkeit vollends erfassenden Arrangeur wie Hans Quarz arbeiten zu dürfen!
Es sei ihm gegönnt, dass er auf Hush! Hush! Bolero, dem hypnotisch groovenden Schlussstück und zweitem Instrumental der Platte, dann auch mal solo glänzen darf, indem sein Posaunenton die Leadstimme übernimmt. Sie können sich nicht vorstellen, ein Stück für Posaune zu mögen, weil Ihnen dabei immer unglückliche Assoziationen Ihrer volksmusikbegeisterten Großeltern in die Quere kommen? Hören Sie Hans Quarz! Dafür verrate ich Ihnen auch, dass das mit dem Schlussstück nur die halbe Wahrheit ist: Auf der Vinylversion von Debut gibt es noch ein elftes Stück – und zwar das Bigband-Cover des Queen-Klassikers Don’t Stop Me Now.
Aber auch ohne dieses Highlight ist Debut ein Album, das noch lange nachklingt. Wer schon einmal die ganze Nacht nicht schlafen konnte, weil ihm Tillerman und seine Kameraden durch den Kopf spukten oder er den Boys are Heroes-Refrain einfach nicht mehr los wurde, kommt nicht umhin festzustellen, dass Debut nichts Geringeres als eine Handvoll Stücke versammelt, die jetzt schon Klassiker sind.