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Kokko Quartet – Like A River

Juni 2013 / Victoriah Szirmai

Habe ich Ihnen zuletzt im Rahmen der Triosence-Rezension vorgeschwärmt, dass für mich zum aktuellen Zeitpunkt neben den Turning Points von Triosence noch In-between Seasons & Places vom Peter Schwebs Quintet aus der vorletzten Ausgabe von Victoriah’s Music und Like A River vom Kokko Quartet das Zeug zur Platte des Jahres hätten, möchte ich Ihnen nun auch die letzte dieser drei vorstellen.

Kokko Quartet Like a River Cover

Auf das Kokko Quartet bin ich durch „Music Finland“ gestoßen, eine recht neue Organisation, die sich gemäß ihrem Motto „everything and anything for Finnish music“ dachverbandartig der Förderung finnischer Musik im Ausland, kurz: dem klingenden Kulturexport verschrieben hat. Anlässlich der Jazzahead! 2013, wo Music Finland in Kooperation mit der Finnish Jazz Federation einen sogenannten „Umbrella Stand“ für finnische Labels, Agenturen, Künstler und Vereine zur Verfügung gestellt hat, packte man den anreisenden Journalisten auch noch ein Päckchen, das neben der großartigen, vor allem durch ihre in Buchform gebundenen, wahnsinnig ausführlichen Liner Notes bestechenden Compilation Jazz from Finland 2013 eben auch ein Exemplar der neuen Veröffentlichung des Kokko Quartet enthielten. Gehört hatte ich die Gruppe allerdings schon früher – auf der offiziellen Jazzahead! 2013 Compilation, wo sie mit „Yasmin“ Appetit auf das European Jazz Meeting machen sollte. In meinem Falle mit Erfolg. Der Live-Showcase des Kokko Quartet wurde umgehend im Messekalender vermerkt.

Kokko Quartet 1.2

Und schon dort fiel mir auf, was ich auch angesichts der Platte nicht umhinkomme, festzuhalten, obwohl ich lange gezögert habe, ob ich das auch schreiben soll: Das den Kokko-Klang dominierende, von Kaisa Siirala gespielte Saxophon klingt nicht so, als würde es von einer Frau gespielt. Sie können mir jetzt gleichstellungsbewegte Leserbriefe schreiben – oder aber auch noch einmal genau nachhören. Schon beim von Pianistin Johanna Pitkänen komponierten Opener „Letters“ klingt doch viel eher der Ton eines Jonas Knutsson von „Syskonöga“ oder meinetwegen auch, um den skandinavischen Referenzrahmen hinter uns zu lassen, der eines Bob Malach von „Black Is The Color Of My True Love’s Hair“ durch, wobei das Stück selbst easy-listening-mäßiger daherkommt – spätestens, wenn Pitkänens Pianokaskaden perlen, ist das mehr James Last als ECM.

Tatsächlich jedoch entführen die „Letters“, folgt man den Liner Notes, den Hörer „deep into the forest“. Der Wald als Symbol für etwas Konstantes, der etwas Verlorenem oder Abwesendem Form zu geben weiß, scheint nicht nur Inspiration für so manchen schwermütigen finnischen Tango zu sein, sondern gebiert auch den Geist des finnischen Jazz – zumindest, wenn er sich in der Interpretation des Kokko Quartet zeigt, die skandinavischen Jazz mit arabischen und indischen Einflüssen, ja selbst kubanischen Rhythmen zu kombinieren weiß. In der Tat hat schon „Letters“ durch seinen punktgenau gesetzten Bass und ein unheimlich elegantes Schlagzeug einen packenden, tighten Groove, zu verdanken Bassist Timo Tuppurainen und Drummer Risto Takala, die hier von Ricardo Padilla an den Percussions verstärkt werden.

Kokko Quartet 1.3

Wer den speziellen Sound des Neuen Nordischen Jazz vom Kokko Quartet erwartet, wird dagegen auf Stück Nummer zwei fündig. „Flying“ gibt sich ganz offen als (fenno-)skandinavisch zu erkennen – nicht nur in seiner Schnörkellosigkeit, sondern vor allem dank dieser nur schwer fassbaren, glückseligmachenden Komponente, die Fans von Nils Landgren, Bugge Wesseltoft & Co. mit grenzdebilem Grinsen durch die Gegend laufen, oder in diesem Falle, über weite, unglaublich schöne Landschaften fliegen lässt. Das bezaubernde Kontrabasssolo und ein catchy, fast schon disneyesk-süßliches Thema tun ihr Übriges dazu, dass „Flying“ mit seinem Retro-Charme das Zeug dazu hat, eine Brücke vom rotweintrinkenden Jarrett-Fan zum jungen Neujazzhörer, der sich, angefixt vom Songwriterjazz einer Madeleine Peyroux beispielsweise, langsam zu den rein instrumentalen Sachen des Genres vorarbeitet, zu schlagen.

Ein einprägsames Thema findet sich auch auf „Gokulam“, das aber vor allem durch Siiralas „dirty horn“ besticht, das nach einem überraschend sanften Beginn mit zunehmend anziehendem Tempo mit fast schon gewalttätigem Ansatz zum Tragen, oder vielmehr: Tröten kommt. Auch der Waltz-Beat erinnert jetzt eher an eine Nummer aus Zirkus oder Varieté, stoppt aber abrupt, um dem Ganzen wieder eine einschmeichelnd-langsame, besänftigend säuselnde Passage inklusive leicht verquerer Harmonik gegenüberzustellen, was das von Kaisa Siirala in Indien komponierte Stück nicht nur ungewöhnlich kontrastreich, sondern einfach mal hochspannend macht. Spontan schießt mir durch den Kopf: Das hier ist eine Saxophon-Platte (auch) für Nicht-Saxophon-Liebhaber!

Dank leichter Pentatonik und der von Mikko Koivisto gespielten Tabla weist der von der Gita-Mehta-Erzählung „A River Sutra“ inspirierte Titelsong „Like A River“ ein dezent indisch-orientalisches Feeling auf. Wie die Erzählung selbst, die alte indische Traditionen mit moderner Erzählkunst verquickt, paart sich der östliche Rahmen des Stücks mit einer nahezu greifbaren Nordizität des Themas und generiert einmal mehr einen unheimlich spannenden Brückenschlag, der alles andere als beliebiges Multikulti ist. Das Saxophon geriert sich hier, wie im Vorgriff auf „Yasmin“, als sich zunehmend in Trance singende Schlangenbeschwörerflöte, konterkariert von der westlich-modernen, offensiv elektronischen Orgel, an die Pianistin Pitkänen hier gewechselt ist. Soviel Spannung schreit nach Er- oder zumindest Auflösung, die dann auch prompt mit „Indy“, einem beschwingten, nahezu vergnügten Stück geboten wird. Ebenfalls in Indien entstanden, wartet es neben einem prägnanten Saxophon-Thema mit mitreißenden kubanischen Rhythmen auf – und einem brillanten Pianosolo, das sich stellenweise wieder in der Pentatonik verstrickt.

Kokko Quartet 1.4

Pitkänens Orgel mutiert auf „At Land“ zum Vibraphon, was eigentlich so gar nicht mein Fall ist, in Verbindung mit dem luftig-schwebenden Saxophonton hier aber schönste Quellnymphromantik evoziert. Man könnte meinen, Pitkänen und Siirala seien Zwillingsgeschwister und teilten gemeinsam verbrachte Prägejahre, so sehr ist ihr Klang miteinander verwoben, so intuitiv ihr gegenseitiges Verstehen. Die Jungs aus der Rhythmusgruppe sind hier lediglich – wenn auch unverzichtbares – Beiwerk. Nach „Deep Minor“, das von seiner Tonalität her auch Freunde der Neuen Musik verzücken könnte, sich im B-Teil dann aber in eine reinrassige Herbie-Hancock-Fusionfunkjazznummer verwandelt und zurück, folgt das Intro zum Höhepunkt des Albums, das „Yasmin Intro“. Hier klapperschlängelt das Schlagwerk im Hintergrund bedrohlich, um in einen sinnlichen Belly-Dance-Beat zu explodieren, damit auch der Letzte weiß, wie er das Folgende geografisch einordnen soll.

„Yasmin“ nämlich entführt die Hörer in die Klanglandschaften Arabiens, traditionell begleitet von Daf und Darbuka – sowie dem weichen Timbre der Celesta. Doch ist es nicht die ungewöhnliche Instrumentierung, die hier frappiert, sondern die freie Improvisation des Saxophons, die mit ihrer bezwingenden Intensität und kaum gebändigten Wildheit gefangen nimmt. Als wäre das nicht genug, greift Siirala hier auch noch zur Bansuri genannten, nordindischen Bambusflöte, um ihr, zumindest für westliche Ohren, geheimnisvoll-heisere Töne zu entlocken. Nicht zuletzt schaut in diesem vielschichtigen Stück durch den Tango-Nuevo-Bass und das akzentuierte, als Rhythmusinstrument eingesetzte Piano auch Piazolla um die Ecke – so ganz ohne Tango können die Finnen dann also wohl doch nicht! Recht eigentlich aber gehört die Liebe von Johanna Pitkänen, aus deren Feder die meisten Stücke von Like A River stammen, dem Flamenco mit seinen arabischen Einflüssen, während Kaisa Siirala den freien Ausdruck schätzt – und die verschiedenen Klangmöglichkeiten, die ihr Blasinstrumente aus dem indischen Kulturraum bieten.

Kokko Quartet 1.5

Im Anschluss hieran ist das letzte Stück mit seinen großflächigen, weitgefächerten Piano-Soundscapes schon fast eine Enttäuschung. Spricht das Kokko Quartet hier von seinem „most cinematic piece on the album“, möchte ich es eher als plakativ bezeichnen – fast zu smooth, zu versöhnlich beendet es eine Platte, die doch im Grunde gerade durch die Spannung, die ihre ins Free-Jazzige abdrehenden Improvisationen ins Spiel bringen, gekennzeichnet ist. Schön aber, dass man endlich einmal den Schlagzeuger richtig hört, nämlich dann, wenn der „Rain“ zum Gewitter mutiert. Zudem ist das Stück ein tolles Beispiel für das unheimlich dichte, gewachsene, intuitive Zusammenspiel des Quartetts, das wie aus einem Guss wirkt. Kokko nämlich ist nicht nur das finnische Wort für Sonnwendfeuer, sondern wird im alten Finnisch auch schlicht für „Gruppe“ benutzt. Die Band möchte es allerdings anders verstanden wissen und verweist auf die finnische Kalevala-Mythologie, wo „Kokko“ einen gigantischen Adler bezeichnet, der viele Formen annehmen kann – so, wie auch die Musik des Quartetts.

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