Juli 2013 / Victoriah Szirmai
Ist es Ihnen auch schon aufgefallen? Veröffentlichungen von Platten, die komplett aus der Zeit gefallen zu sein scheinen, weil sie klingen, wie über Jahrzehnte im Archiv vergessene Originale, häufen sich in den letzten Monaten dermaßen, dass man beinahe schon von einem aktuellen Phänomen sprechen müsste.
Da gibt es Reminiszenzen an die Achtziger und Neunziger mit Delicious Date, [re:jazz] oder Beady Belle, während Louise Gold mit ihrem Quarz Orchestra die Vierziger bis Sechziger umpflügt. Und nun auch Kat Edmonson, deren Musik und vor allem Gesangsstil an die Plattensammlungen unserer Väter oder sogar Großväter erinnert, dabei aber so frisch daherkommt wie ein leichter Sommerregen auf der Haut.
Wäre fairaudio ein Modemagazin mit einschlägiger Diktion, müsste man formulieren: Gestern ist das neue Heute. Wer zur Avantgarde gehören will, verschreibt sich dem Vintage-Look, pardon, Vintage-Sound. Der erfreut sich einer derart wachsenden Beliebtheit, dass man eigentlich schon wieder einen elektrifizierten Gegentrend ausmachen müsste. Aber nichts. Nach wie vor halten bärtige Barden das Zepter fest in ihrer folkigen Hand, während ihre elfengleichen Kolleginnen wie eine Mischung aus einem weiblichen Paul Simon und Billie Holiday klingen, denn die bluessingende Lady dient zuverlässig als fester Referenzpunkt jener Old Fashies, die sich irgendwo zwischen Jazz-Spelunke, Beatniktum und Flower Power eine ganz persönliche Nische geschaffen haben.
Also alles Retro, oder was? Davon will Kat Edmonson nichts wissen. Als sie 2009 in Eigenregie ihr Debütalbum Take to the Sky mit ihren Interpretationen von Great American Songbook-Klassikern wie „Summertime“, „Night and Day“ oder „Just One Of Those Things“ veröffentlichte, habe sie mehr oder weniger konkurrenzlos dagestanden. Es sei keine kalkulierte Entscheidung, sondern vielmehr ein inneres Bedürfnis gewesen, denn dies seien die Songs, die sie liebe. Wie aber kommt eine moderne junge Frau dazu, mit Haut und Haar dem klassischen Liedgut der Dreißiger- bis Sechzigerjahre zu verfallen? Schuld sei ihre Mutter, verrät Edmonson im Interview, die sich als Vollzeit arbeitende Alleinerziehende ein Beschäftigungsprogramm für ihr Kind überlegen musste. Sie griff zu Videokassetten mit alten Schwarz-Weiß-Filmen, die ihre Tochter sofort in den Bann zogen – geschuldet vor allem den Soundtracks, die sich oft genug aus ebenjenen Songklassikern zusammensetzten.
Sie habe versucht, modern zu sein und für American Idol – die US-Variante von Deutschland sucht den Superstar – vorgesungen, doch „wenn immer ich nicht authentisch bin, merkt es das Publikum – das funktioniert einfach nicht für mich“. Kat Edmonson fällt eine unpopuläre Entscheidung: Sie bricht ihre vielversprechende Teilnahme ab und nimmt stattdessen das erwähnte Debüt auf. Und dann geht alles ganz schnell. Die Country-Größen Willie Nelson und Lyle Lovett verlieben sich in Edmonsons Stimme, sie darf für beide vor tausenden von Menschen Konzerte eröffnen. Mit Lovett nimmt sie das Duett „Baby It’s Cold Outside“ auf, das auf einem seiner Soloalben erscheint. Und endlich fühlt sich die mittlerweile Neunundzwanzigjährige selbstbewusst genug, den Superstar ihrerseits darum zu bitten, auf ihrem neuen Album Way Down Low, das erstmals Originalkompositionen von Kat Edmonson präsentiert, zu singen. Das Ergebnis „Long Way Home“ kann man nun endlich auch in Europa bewundern, wo das Album am 12. Juli erschienen ist.
US-Kritiker wie Steve Greenlee vom Boston Globe bejubeln das rein akustische Way Down Low als „one of the greatest vocal albums I’ve ever heard”. Bei der Genre-Zuordnung ist sich Edmonson selbst allerdings nicht so sicher. „Es ist Folk“, meint sie, „es ist Jazz, es ist Acoustic Rock, es ist Pop, es ist Country …“ – vor allem aber populäre Musik längst vergangener Epochen. Früher, so Edmonson weiter, hätte man auf derselben Radiostation ein und denselben Song hören können, mal interpretiert von einem Country-Sänger, mal von einem Jazz-Vokalisten. Das sei beim heutigen Spartenradio mit seiner Aufsplitterung in Sub- und Sub-Sub-Genres undenkbar. Aus diesem Grunde bevorzuge sie es, ihre Musik schlicht als „Vintage-Pop“ zu bezeichnen. Und der verzichtet stellenweise sogar auf jenen Indikator, mittels dem man eine Musikaufnahme dann doch einer konkreten Epoche zuordnen kann: das Schlagzeug. Ein cleverer Schachzug, der die Musik Edmonsons noch zeitloser wirken lässt, als sie es ohnehin schon ist.
Schon der Opener „Lucky“ entführt den Hörer in Kat Edmonsons zauberhafte, beatlose Welt (es sei denn, sie bestehen jetzt allzu pedantisch darauf, dass die beiden Vibraphone im Grunde Schlaginstrumente sind), in der Orgel, Keys und die keiner Mode unterworfene Stimme Edmonsons einen butterweichen Relaxsoundteppich kreieren, der eher Hochflor-Flokati als Auslegeware ist. Dem aus der Feder der Sängerin stammenden Stück gelingt es auf Anhieb, alle Hektik aus unserem Leben herauszunehmen, allen Großstadtstress herunterzufahren. Das ist wie der Tag am Meer in der bekannte Bier-Reklame: Keine Staus. Keine Hektik. Keine Kompromisse.
Das von Jazz-Gitarrist Sonny Henry geschriebene „I Don’t Know“ besticht durch sein leichtfüßiges It never rains in Southern California-Flair, hat aber auch ein bisschen etwas vom fluffig-hippieesken Be My Baby, das Lenny Kravitz Anfang der Neunziger für Vanessa Paradis geschrieben hat – in jedem Falle also eine geballte Portion akustikgitarrenlastiges Flower-Power-Feeling. Mit Lagerfeuercharme allerdings hat Edmonson nichts am Hut, was man spätestens dann merkt, wenn das Streichquartett, das hier auch noch mit von der Partie ist, seinen Einsatz hat.
Dem Cello des Quartetts gelingt es dann auch, sich auf „What Else Can I Do“ hinüberzuretten, einer weiteren Eigenkomposition Edmonsons, die mit entspannten Bossa-Beats, Blue Vocals und einem probaten Pianosolo für die Jazzgemeinde aufwartet.
Diese Tiefenentspanntheit trägt Kat Edmonson auch durch das mit grandioser Bläsersektion bestückte „I Just Wasn’t Made For These Times“, dem Schlüsselstück des Albums. Brian Wilson und Tony Asher haben es 1966 für das legendäre Pet Sounds-Album der Beach Boys geschrieben – dem ersten Album, das Edmonson jemals auf CD geschenkt bekam. Sie blieb an dem Stück hängen, schien es doch, als spreche es zu ihr, so sehr habe sie sich mit dem Gefühl, in der falschen Ära geboren zu sein, identifizieren können. Doch wo Brian Wilson sich als zu „advanced“ für seine Zeit empfand, ist es bei Kat Edmonson genau umgekehrt: In einer Epoche, wo allein ein Wettbewerb um das lauteste Mastering zu herrschen scheint, möchte sie ihre Zuhörer zum Hinhören und Innehalten zwingen. Da verzeiht man auch das gitarrenschrappelige „This Was The One“.
„Champagne“ wiederum könnte locker als Frank-Sinatra- oder Tony-Bennett-Klassiker durchgehen. Hier merkt man Edmonsons Bewunderung für die großen Entertainer, die es wie niemand nach ihnen verstanden, einen Song an sich zu schätzen. Der gezupfte Bass ihres Co-Songwriters Danton Boller gibt dem schlagzeuglosen Stück einen entspannten Twist und zeigt, dass die Quartettbesetzung der etwas anderen Art – Stimme, Gitarre, Piano und Bass – ihren ganz eigenen Zauber entfalten kann.
Zur klassischen Besetzung wechselt Edmonson bei „Whispering Grass“, die dem 1940 erstmals von Erskine Hawkins und seinem Orchester aufgenommenen Stück mehr Tiefe verleiht. Ohnehin ist es schon allein aufgrund seiner Superlänge von 7:15 etwas anders als die anderen Stücke des Albums. Da klingt im Vorspann Experimentelles an, während die Vokalteile an Billie-Holiday-Klassiker wie „Don’t Explain“ gemahnen und Way Down Low endgültig zur Jazzplatte werden lassen.
Der kleine Waltz „I’m Not In Love“ hat nur thematisch etwas mit dem ebenso bekannten und vielgecoverten, 1975 von Eric Stewart und Graham Gouldman geschriebenen Stück gleichen Titels zu tun: Auch Edmonson behauptet hier, nicht an Paris und Frühling, kurz: die Liebe, zu glauben – tut es insgeheim natürlich aber doch. Mit dem Dixie-Swinger „Long Way Home“, besagtem Duett mit Lyle Lovett, kommt ein bisschen Trucker-Country-Roots-Gefühl auf, was nicht nur an dem Gaststar liegt, sondern auch daran, dass Matt Munisteris Gitarre hier wie ein Banjo klingt.
Ganz pur im Gegensatz dazu die nur vom Piano begleitete Ballade „Nobody Knows That“, die, obgleich von Kat Edmonson im Alleingang geschrieben, schon sehr realbookig daherkommt. Irgendwie, denkt man, hat man das alles schon einmal gehört. Und das ist durchaus im positiven Sinne zu verstehen: Dieser Vokalansatz, dieses leicht Vernuschelte daran, das ist ganz wunderbar – und anhand des verträumten, folkpoppigen Albumopeners hätte man nie erwartet, welch immense Entwicklung dieses Album nimmt und was für eine stimmliche Intuition in Edmonson steckt! Da kommt mein persönlicher Favorit, der von Miles Zuniga geschriebene Sechsachtler „Hopelessly Blue“, genau richtig, lässt er dem Fragilen in Edmonsons traumwandlerisch stilsicherer Stimme, die sich spätestens jetzt durch die Gehörgänge in Hirn und Herz ihrer Hörer gearbeitet hat, doch allen Raum dieser Welt.
Das gilt auch für die spärlich instrumentierte Reprise von „I Don’t Know“, deren verzögertem, sporadischem Schlagzeugbeat man gar nicht lange genug hinterherspüren kann und die definitiv eines der Highlights des Albums bildet, das einmal mehr bestätigt, dass Way Down Low so viel mehr ist als die Platte einer weiteren zauberhaften Folk-Pop-Elfe, auch wenn es nicht dazu angetan ist, Single oder Konzertopener zu werden.
Um uns endgültig zu überzeugen, hätte es der wie beiläufig wirkenden, im Grunde aber großen Gesangsleistung auf dem Gershwin-Klassiker „S’Wonderful“ nun nicht mehr unbedingt bedurft. Tatsächlich ist das Stück auf der US-Version des Albums auch nicht enthalten und bei der EU-Auflage nur auf Betreiben der Plattenfirma zu hören. Edmonson selbst hätte es bevorzugt, Way Down Low weiterhin mit der „I Don’t Know“-Reprise abzuschließen, konnte sich aber zu einem Kompromiss durchringen. Und das ist auch gut so, entlässt der Gershwin-Song den Hörer doch mit einem beschwingten, positiven Gefühl – sieht sich Kat Edmon doch selbst als hoffnungslose Optimistin, die immer einen Silberstreif am Horizont sieht. Mit Way Down Low ist ihr jedenfalls ein unvergängliches Album für mehr als nur einen Sommer gelungen.