Oktober 2015 / Victoriah Szirmai
Erna Rot und Otis Blue – was klingt, wie den Träumen eines Synästheten entsprungen, funktioniert auch für sinnlich Normalbefähigte, denn bis auf die Ohren benötigt man für diese Elementarfarbkombination nichts. Na gut, Augen, um vorher diesen Text zu lesen, wären auch nicht schlecht. Manchmal kann es zwar schön sein, so ganz unschuldig in ein Album hineinzustolpern, aber letzten Endes gilt auch in Sachen Musik: Wer mehr weiß, hört besser.
Beispielsweise in Sachen Erna Rot, dem Alter Ego von Constanze Klaue, dieser vormals in elektronischen Gefilden wandelnden Sängerin, deren Mentorin Lisa Bassenge ihr zu mehr Mut zum Ich riet. Das Ergebnis ist Ode an die Freude, mit dem Ozella – das kleine Label mit der zauberhaften Adresse Schloss Hamborn und starkem Hang zu skandinavischem Jazz, das uns erst kürzlich mit seiner Piano-Trio-Compilation etwas Magie in den tristen Nachurlaubsalltag gebracht hat – neue Wege zu beschreiten scheint. Denn Rots Debütalbum ist alles andere als nordisch unterkühlt, und ob das Jazz ist, was sie und ihre vierköpfige Band da treiben, sei zumindest in Frage gestellt.
Los geht’s mit der rumpelig-schleppenden Akkordeonode an die Freude. Wer auf deutschsprachigen Chanson Noir irgendwo zwischen Element of Crime und Prag mit einem Hauch Varieté Tiger Lillies’scher Provenienz abfährt und dabei in Kauf nimmt, das sich das Ganze schon mal zum High-Speed-Kasatschok auswächst, ist hier richtig, und zwar sowas von, so schnell kann der folgende Walking-Bass-Samtpföter gar nicht heranschleichen, wobei angesichts dieser schwergewichtigen Katze eher von heranstampfen gesprochen werden sollte! Behäbig oder nicht, auch hier kommt im Refrain, der sich um den rosa Schlüpfer von Rosina dreht, polkaeskes Tempo auf, und den Hörer beschleicht der Verdacht, dass Rots Band lieber eine Ska- beziehungsweise Balkan-Kombo à la BudZillus wäre, ungezähmt, schnell und laut. Es folgt der Sechsachtler „Ohne Dich“, der dem an Selig denken lassenden Titel zum Trotz nah am Schlageridiom baut, mit starker Tendenz zum Neoschlagerdeutschchanson à la Annett Loiusan. Dem Muster Schönklangstrophe vs. Saurausrefrain bleibt man aber auch hier treu.
Bei „Grauer Beton“ ist es genau andersrum: Auf eine Uptempostrophe folgt ein balladesker Refrain, und nicht nur dank der schick gedämpften Trompete scheint der graue Beton mit Element of Crimes weißem Papier zu korrespondieren. Nicht minder melancholisch geht’s mit „Zeitumstellung“ weiter, einer wabernen Winterkummernummer, deren zarte Atmosphäre vom terzselige Schlagerwelten evozierenden, christlich inspirierten Refrain zunichte gemacht wird, hinsichtlich dessen man nur hoffen kann, dass er ironisch gemeint ist, gleichzeitig aber fürchten muss, dass nicht. Glücklicherweise rückt mit „Blöde Kuh“ eine ukulelenbegleitete LoFi-Nummer nach, die an den Wohnzimmerklang so mancher Stücke von Illute erinnert. Und mit „Moskau“ kommt dann auch die balkanverliebte Spielfreude von Simon Doetsch an Akkordeon und Trompete, Peter Kowal an Gitarre und Ukulele, Stefan Rey am Kontrabass und Felix Günther am Schlagzeug wieder zum Tragen, samt Imitation eines wodkagetränkten Kosakenchors.
Die Kreisler-Interpretation „Liebesleid“ – die es übrigens auch in einer ganz feinen Version der Lisa-Bassenge-Band Nylon gibt – hebt sich deutlich vom bisher Gehörten ab, was schlicht daran liegt, dass die Komposition in einer ganz anderen Liga spielt. Die Stücke von Erna Rot sind allemal unterhaltsam, auch berührend, aber Kreisler … Kreisler ist zeitlos. Danach hat es die Folgenummer besonders schwer, Gnade vor dem Hörerohr zu finden. Zum Glück besticht „Fort“ durch einen Bläsersatz, der macht Spaß, heb dein Glas! Endgültig versöhnt ist man mit der abschließenden Säuferballade „Valentines Day“, der einzigen englisch-sprachigen Nummer des Albums. Doch warum nur denkt man bei einem langsamen Dreiertakt automatisch an einen Tom-Waits-Waltz, auch wenn Rot einen Blues darüber singt und ganz zum Schluss noch ein gniedeliges Gitarrensolo vom Stapel gelassen wird? Offen bleibt auch die Frage, ob dieses von Martin Englert (2raumwohnung) produzierte Album nun eigentlich Circus-Variaté, Balkan-Ska, Schlager-Chanson, eine Mischung aus all dem oder nichts davon ist.
Womit wir es bei Blue, dem legendären, vor fast genau fünfzig Jahren veröffentlichten Album von Otis Redding zu tun haben, ist dagegen glasklar: mit gutem, alten, schweißtreibenden Southern Soul der ersten Stunde. Sollte es jemand (noch) nicht in seiner persönlichen Plattensammlung haben, dem sei gesagt, dass Blue als eines der wichtigsten Alben der Musikgeschichte gilt, zumindest, wenn man als Bewertungsmaßstab die Rolling Stone’s 500 Greatest Albums of All Time, die Time Magazine’s list of the All-Time 100 Greatest Albums und Robert Dimerys Referenzwerk 1001 Albums You Must Hear Before You Die zugrunde legt. Nicht zuletzt ist Otis Ray Redding Jr. der Mann, dem wir Songs wie „(Sittin‘ On) The Dock Of The Bay“ oder den später von Aretha Franklin zum Welthit gemachten Song „Respect“ zu verdanken hat.
Letzterer findet sich auch auf Otis Blue: Otis Redding Sings Soul. Das Album wurde im September 1965 beim Motown-Konkurrenten Stax als Reddings drittes Studioalbum veröffentlicht und gilt als jenes Album, mit dem für Stax eine neue Zeitrechnung beginnen sollte, indem erstmals eine größere, weiße Hörerschaft angesprochen werden konnte. Zehn der elf Songs entstanden während einer vierundzwanzigstündigen Songwritingsession am 9. und 10. Juli 1965 in den Stax-eigenen Studios Memphis, Tennessee, wo sie im selben Atemzug aufgenommen wurden. Drei der Songs – neben „Respect“, das innerhalb eines Tages geschrieben und innerhalb von zwanzig Minuten fertig arrangiert war, „Ole Man Trouble“ und „I’ve Been Loving You Too Long“ – schrieb Redding selbst, drei weitere stammen aus der Feder des im Jahr zuvor auf tragische Weise verstorbenen Sam Cooke, darunter dessen wohl bekanntestes Stück „Wonderful World“.
Zum fünfzigsten Geburtstag des Albums wird die 2008 erstmals aufgelegte Collector’s Edition von Rhino Records wieder aufgelegt. Die enthält zwei CDs mit dem Originalmaterial des Blue-Albums, einmal in der Mono-, einmal in der Stereo-Fassung. Diese verdanken sich der Skepsis, von der der Einsatz des damals neuartigen 2-Kanal-Stereo-Aufnahmegeräts begleitet wurde. Man war sich schlicht nicht sicher, ob durch die strenge Spuraufteilung der Instrumente ein authentischer Sound erreicht werden konnte, weshalb Tonmeister Tom Dowd beschloss, die Sessions gleichzeitig in Mono und in Stereo mitzuschneiden. Zusätzlich gibt’s jede Menge Bonusmaterial, darunter auch bis dato Unveröffentlichtes. Wer es anlässlich der Feierlichkeiten richtig krachen lassen will, kann aber auch noch bis zum 30. Oktober warten – dann nämlich erscheint die 12-CD-Box Soul Manifesto, die alle Studio- und Live-Alben Reddings von 1964-1967 sowie vier posthum erschienenen Alben enthält.