Inhaltsverzeichnis
- 1 Berlin Lounge | Martina Topley Bird | Andreya Triana | Kathrin Scheer | Peder af Ugglas | Fredrika Stahl | Thomas Quasthoff | Stephan Scheuss
- 2 Berlin Lounge / The Finest German Downtempo Selection
Das Ganze war eine Erfindung der New Economy. Ob Sie es nun Chillout, Ambient, Lo-fi, Lounge, Downtempo, Smooth Jazz oder schlechterdings Klangtapete nennen möchten - die unaufdringlichen, halb elektronischen, halb organischen Klänge störten weder bei Business Lunch noch Afterwork Party. Kein Wunder, dass sie fortan wie Pilze aus dem Boden schossen, und mit ihnen die neuen, leisen Helden einer ganzen Generation von Musikhörern: Massive Attack, Morcheeba, Moloko oder Thievery Corporation, Nightmares on Wax, Kruder & Dorfmeister hat wohl ein jeder in seinem CD-Regal stehen. Das Problem mit dieser Musik ist: Sie gefällt jedem. Als kleinsten gemeinsamen Nenner zeitgenössischen Musikgeschmacks setzte ihr Benjamin Stuckrad-Barre, einer der Hauptakteure des ebenfalls der New Economy entsprungenen Phänomens namens „Pop Literatur“, in seinem Roman Soloalbum ein Denkmal. Dort bittet eine Partybekanntschaft den Erzähler, die DJ Kicks des Wiener Duos Kruder & Dorfmeister aufzulegen:
„Platten wie eben die oder auch Portishead, Daft Punk, Massive Attack oder so sind ein echtes Problem - gute Musik, aber eben doch von allen so gnadenlos gerngemocht, dass man wirklich wieder dieses gymnasiale Abgrenzungsproblem aufkeimen spürt: Die sind blöd, die können also auch keine gute Musik hören. Und Umkehrschluss: Dann ist ja vielleicht doch die Musik doof? Ist sie natürlich nicht. Trotzdem ist DJ Kicks jetzt schon mit ziemlicher Sicherheit die Köln Concerts dieser Generation.“
Mehr als eine Dekade später und lange nachdem die New Economy zugrunde gegangen ist, erfreut sich Loungemusik in all ihren Spielarten immer noch ungebrochener Beliebtheit. Die damaligen Protagonisten arbeiten mal mehr, mal weniger erfolgreich an der Erneuerung des Genres (siehe zum Beispiel: Thievery Corporatio, Morcheeba), und auch einschlägige Sampler werden in die jeweils nächste Runde geschickt. Gelangweilt davon? Das wäre schade, denn hier kommt eine Compilation, die Sie nicht verpassen sollten, und das aus gleich drei Gründen.
Erstens: Warum in die Ferne schweifen oder: Es muss nicht immer Morcheeba sein. Auch in Deutschland gibt es großartige Downbeat-Acts. Wenn Sie diese bislang noch nicht kennen, können Sie durch Berlin Lounge. The Finest German Downtempo Selection von Wagram Music eine musikalische Bildungslücke schließen. So kompakt bekommen Sie die etablierten heimischen Genre-Vertreter, bei denen es sich keinesfalls nur um Berliner handelt, nie wieder. Hier tummelt sich alles, was Rang und Namen hat, von Micatone und Boozoo Bajou über RE:Jazz und Jazzanova bis hin zu Lützenkirchen und De-Phazz, deren Album Lala 2.0 ich, nebenbei bemerkt, bislang für das Album des Jahres halte - und das nicht nur wegen des genialen Titels! Für den Frischekick sorgen ausgesuchte Newcomer der Szene, die das Doppel-Album auch für Kenner interessant machen.
Zweitens: Berlin Lounge ist um Klassen cooler als es Café del Mar je war. Vielleicht haben Sie ja auch die eine oder andere Party zu beschallen und einen Ruf zu verlieren ... Und schließlich drittens: Neben ausgemachten Electro-, Lounge- und Chillout-Acts finden Sie hier das großartige Duett Come Marry Me der Berlin-Balkan-Connection Ms Platnum und Peter Fox. Sollten Sie dieses bisher aus welchen abstrusen Gründen auch immer noch nicht kennen, etwa, weil Sie die letzten zwei Jahre auf dem Mond verbracht haben, dann wird es jetzt höchste Zeit. Ein Über-Song, der sich überraschend gut in diesen Sampler einfügt - das muss daran liegen, dass hier eigentlich nur tolle Titel vertreten sind. Ein Sampler ohne Schwachpunkt. Das ist auch selten.
Martina Topley Bird / Some Place Simple
Weil wir schon einmal dabei sind: Bleiben wir doch bei „Downtempo“ und „großartig“, schon haben wir die Zutaten für das dritte Werk der Topley-Bird. Regelmäßigen Lesern muss die Pop Noir-Musikerin wohl nicht mehr vorgestellt werden, schließlich hatte es mir ihr Album The Blue God zu sehr angetan.
Neu im eigentlichen Sinne sind die Songs auf Some Place Simple nicht. Vielmehr hat Martina Topley-Bird ihre persönlichen Favoriten aus den beiden letzten Alben Quixotic und The Blue God mit brüchiger Stimme zu den trockenen Klängen von entweder gedämpfter Akustikgitarre, afrikanischem Daumenklavier, Glockenspiel oder Orgel im Rahmen ihrer Live-Auftritte neu eingespielt. Stellenweise sogar komplett a capella ist Some Place Simple eher ein Unplugged- denn klassisches Live-Album. Bis auf wenige Ausnahmen spielt Martina Topley-Bird solo, oftmals nur ergänzt um Englands Top-Perkussionisten Fergus Gerrand, der allerlei Schlagwerk clever und versiert bedient.
Da gibt es den Topley-Bird Klassiker Baby Blue, der auf drei Akkorde eines mexikanischen Party-Songs zurückgeht oder meinen Favoriten Phoenix, dessen knödelige Keyboardparts die Affinität der Musikerin zu kambodschanischer 60er-Jahre-Musik anklingen lassen. Das karibisch anmutende Da Da Da, das gänzlich ohne Lyrics auskommt. Oder Poison mit seiner treibenden Xylofonbegleitung. Rockig wird es bei den Sandpaper Kisses mit schweren Gitarren und Hau-drauf-Schlagzeug. Schlagzeuglastig bleibt es auch bei All Day, einem Duett zwischen Stimme und Drums. Beim nächsten Song Ilya dann Vocals und Fingerschnippen, begleitet von der live multiplizierten Gesangsstimme - eine Loopstation macht den Effekt möglich.
Dank der minimalistischen Herangehensweise wird hier, was auf The Blue God noch düster und unheilvoll daherkommt, leicht und hell. Die reduzierte Instrumentierung lässt keinen Platz für Überproduktion; die Songs sind oftmals nur ein oder zwei Minuten kurz und erinnern mit ihren tröstlichen Melodien an Schlaflieder, die man jeden Abend gern wieder hören möchte. Eigentlich hat die Topley-Bird mit Some Place Simple eine Folk-Platte gemacht. Tragischer TripHop wird hier volkstümlich im besten Sinne. Und trotzdem nicht simpel, denn dieses feine Wunderwerk entfaltet mit jedem neuen Hören einen weiteren Teil seiner - zunächst verborgenen - Komplexität.
Andreya Triana / Lost Where I Belong
Der britische Produzent und DJ Simon „Bonobo“ Green, der schon Bajka zum Durchbruch verhalf, hat ein Händchen für ungewöhnliche Vokalistinnen mit Wurzeln im Spoken Word-Sektor. Kein Wunder, dass er auch für das Debütalbum Lost Where I Belong der Londoner Autodidaktin Andreya Triana verantwortlich zeichnet. Diese begann bereits im zarten Alter von sieben Jahren mit dem Schreiben eigener Lieder, wobei sie sich von ihrer multikulturellen Südlondoner Umgebung inspirieren ließ. Zehn Jahre später konnte man sie nachts auf diversen Open Mic-Veranstaltungen antreffen, während sie sich tagsüber ihrem Tonmeisterstudium widmete. Nach ihrem Abschluss entschied sich Andreya Triana jedoch für die andere Seite der Regler, tourte als Frontsängerin mit verschiedenen Formationen aus dem Funk-, Nu Soul- und Latin Jazz-Bereich, um schließlich eine Solokarriere einzuschlagen. Eine Anzahl von Gastauftritten auf den Alben anderer Künstler folgte, bei denen sie ihren experimentellen Gesangsstil vervollkommnete, der schließlich in von ihr „FreeFlo Sessions“ getauften Home-Recording-Sitzungen seinen vorläufigen Niederschlag fand.
Mit Lost Where I Belong teilt Andreya Triana ihren musikalischen Kosmos nun auch mit dem Rest der Welt. Schon der Opener Draw The Stars nimmt den Hörer behutsam an die Hand und führt ihn ins Triana’sche Klangreich ein. Die Marimbas erinnern an die Topley-Bird, doch mildert Triana den ungewöhnlichen Sound mit einlullenden Streichern ab. Das gefällt sofort, ohne aber je gefällig zu sein.
Der zweite, titelgebende Track, ist zwar rhythmusgetriebener, aber immer noch schläfrig. Überhaupt haftet dem ganzen Album etwas angenehm Verschlafenes an.
Andreya Triana haucht sich durch die neun Tracks; mühelos erklimmt ihre Stimme jene Höhen, die bei Sängern wie Mariah Carey einfach nur anstrengend wirken, hier aber als luftig-leichte Hochseilakrobatik daherkommen. Und selbst wenn sie ihre Message nachdrücklich auf den Punkt bringt, klingen die mal rauchig-heiseren, mal spielerisch losgelösten Vocals von Andreya Triana immer noch tiefenentspannt. Wie Neneh Cherry oder Lauryn Hill nach Einnahme eines Muskelrelaxans, wie Sade gepaart mit etwas Jazzclub und einigen urbanen Szenen. Bei allem bleibt sie aber immer unverbindlich und schwerelos, selten schön, um genau zu sein. Anspieltipp: Daydreamers, vom Lie In The Sound-Kollegen Christoph Brandl aufs Treffendste als „zauberhafte Verflüsterung“ bezeichnet.
Kathrin Scheer / Rare
- 3 CD-Besprechung: Peder af Ugglas | Fredrika Stahl | Thomas Quasthoff | Stephan Scheuss - fairaudio
Diese Ausgabe unserer Musik-Kolumne enthält acht neue Platten von folgenden Künstlern: Berlin Lounge | Martina Topley Bird | Andreya Triana | Kathrin Scheer | Peder af Ugglas | Fredrika Stahl | Thomas Quasthoff | Stephan Scheuss
Peder af Ugglas / [ohne Titel]
Nach so viel geballter Weiblichkeit tut etwas Kontrastprogramm gut und not. Meditativ allerdings bleibt es auch auf dem aktuellen Album von Peder af Ugglas. Audiophilen Jazz-Heads dürfte der schwedische Slide-Gitarrist vor allem durch sein 2005 erschienenes Debüt Autumn Shuffle bekannt sein – schließlich wurde dieses wie auch der Nachfolger Beyond (2007) als Hybrid-SACD veröffentlicht.
Schon damals hat man sich gefragt, weshalb dieser Mann, der sowohl als Instrumentalist als auch als Produzent seit gut fünfzehn Jahren eine feste Größe in der skandinavischen Musikszene ist, so lange auf sein erstes Soloalbum warten ließ. Manche finden erst über Umwege zum eigenen Ton, und dass af Ugglas jetzt beim dritten Album keinen Titel mehr benötigt und nur noch seinen Namen für sich sprechen lässt, zeugt deutlich vom Angekommensein in seinem Klangkosmos.
Auch das aktuelle Album wird von handgemachter Roots Music auf technisch höchstem Niveau dominiert. Peder af Ugglas spielt die elektrischen und akustischen Gitarren, Slides, Balalaika und Mandoline, darüber hinaus aber auch alles, was der Tastenkosmos hergibt: Keys, Piano, Hammond, Rhodes, Harmonium und Akkordeon. Ach ja, Bass, Schlagzeug und Percussion beherrscht er auch noch. Und er singt. Sein einziger Mitmusiker ist Henrik Wartel, der im Song 1987 Schlagwerk und Tibetanische Gebetsschale bedient. Gerade dieser klingt dann trotzdem nicht nach der Entspannungsmusik aus dem Massagestudio, sondern groovt ganz erstaunlich mit seinem Pianobasslauf und dem besengetriebenen Schlagzeug, das ist eher Jazzclub als Klangtherapie.
Peder af Ugglas’ Kompositionen sind durch ihre Vielfalt gekennzeichnet. Eben noch Nachtclub, schon monumentale Filmmusik. Seine aktuelle CD ist bluesgetränkt wie die Vorgänger, und dabei ein bisschen Nordic Folk, ein bisschen Delta Blues, ein bisschen Jazz-Rock, ein bisschen Zen-Meditation. Wunderhübsch finde ich die Songs Way Out, Wedding und Another Day. Insbesondere Letzterer besticht durch seine zum Weinen schöne Melodie. Hören Sie mal rein!
Fredrika Stahl / Sweep Me Away
Bleiben wir in Schweden. Und, um es vorweg zu sagen: Ich bin begeistert. Begeistert von einer Platte, vor deren Rezension ich mich einige Tage lang gedrückt habe. Ich glaubte, dass mich auf Fredrika Stahls Sweep Me Away netter nordischer Durchschnittsvokaljazz ohne Ecken und Kanten erwartete. Konventionell, lahm und auf jeden Fall langweilig. Und dann das. Schon beim ersten Track komme ich aus dem Staunen nicht heraus.
Hier nämlich folgt auf ein Satzgesangsintro, wie es schöner von Boys to Men oder En Vogue nicht kommen könnte, der mit Jungmädchenstimme gesungene Titeltrack Sweep Me Away, eine folk-rockige Pilgerfahrt mit keltischen Anklängen, die auf gewaltige Naturbildsprache von Sinken und Morast, Sternen und Flut sowie geballte Streicherkraft setzt. Poppiger wird es auf dem verträumten Fast Moving Train, jazziger beim koketten Rocket Trip To Mars, das im Refrain an Lutricia McNeals Ain’t That Just The Way erinnert. Und so langsam geht einem auf, was der „Waschzettel“ des Albums meinte, als er großmaulig von „perfektem Pop“ kündete – den die Sängerin zudem noch im Alleingang komponiert, getextet und arrangiert hat. Die warmen Arrangements lassen in Kombination mit Stahls wohltemperiertem Klavierspiel keine Sekunde das Bild der unterkühlten nordischen Schönheit aufkommen, die sich oft genug in distanzierter Musik niederschlägt. Fredrika Stahl bedient vielmehr ein weites emotionales Spektrum, von verträumt über verführerisch zu ausgelassen.
Mit jedem weiteren Song entwickelt sich das Album mehr in Richtung Funk und Soul. Der sechste Track, der gospelige Sechsachtler M.O.S.W. (My Own Special Way), hat das Zeug zu einem meiner ganz persönlichen All-Time-Favorite-Tracks, wo er sich in der funky Gesellschaft von beispielsweise Joss Stones Fell In Love With A Boy, Zascha Moktans Gimme Luv oder Choklates What’s About To Go Down befindet. So ein Song ist das.
Diejenigen, die die beiden Vorgängeralben der 25-jährigen Schwedin kennen, sind dann auch ob ihrer musikalischen Metamorphose bass erstaunt. Bislang dominierte frankophilier, zarter Jazz Fredrika Stahls Schaffen. Und jetzt Pop, Soul, gar Funk? Die Künstlerin selbst kann mit solchen Kategorisierungen allerdings wenig anfangen:
„Die Frage, ob ich eine Popsängerin oder eine Jazzsängerin bin, schockt mich immer. Wo ich hingehöre. In welche Kategorie man mich einordnen soll. Für mich ist Kunst eines der wenigen Dinge, die man nicht eingrenzen kann. Für mich ist das einfach Musik. Hauptsache, sie klingt gut.“
Das nötige künstlerische Selbstbewusstsein, den eigenen Weg zu gehen, hat jemand, der schon mit Jazz-Größen wie Herbie Hancock, Richard Bona und Maceo Parker auf der Bühne stand, wohl zwangsläufig.
Thomas Quasthoff / Tell It Like It Is
Wir schreiben das Jahr 1988, als die Musikwelt erstmals flächendeckend auf Thomas Quasthoff aufmerksam wird. Schließlich gewinnt der kleine Mann mit der großen Stimme damals nichts Geringeres als den ersten Platz im Stimmfach „Bariton“ beim Internationalen Musikwettbewerb der ARD. Zehn Jahre später debütiert er in der legendären New Yorker Carnegie Hall, und spätestens jetzt sind ihm die Herzen der weltweiten Hörerschaft endgültig zugeflogen. Ob Des Knaben Wunderhorn, Die Winterreise oder Die Schöne Müllerin – mit seinen Interpretationen der klassischen Kunstliedzyklen setze sich der „Mann mit der schönsten Stimme der Welt“ (Stern) im kollektiven Gehör fest. Wer ihn einmal in Begleitung von Barenboim die Winterreise hat singen hören, möchte deren bisherige Aufnahmen der Wertstoffverwertung zuführen. Und ebenso wie besagter Pianobegleiter, der keine Genre-Grenzen akzeptiert, lässt sich auch Quasthoff nicht auf die Rolle des klassischen Sängers limitieren. 2006 nahm er gemeinsam mit Künstlern wie Till Brönner, Chuck Loeb oder Alan Broadbent The Jazz Album – Watch What Happens auf.
Und jetzt also Soul. Für Tell It Like It Is hat Quasthoff ganz tief in seiner Plattenkiste gekramt und seine Lieblingssongs aus Funk, Soul und R&B, aber auch Pop und Country zu Tage gefördert. Das Programm könnte, so der Bass-Bariton, auch „my favorite things“ heißen. Er habe nicht darauf geachtet, unter welchem Label das ganze stilistisch zusammenfassbar sei, ob nun Jazz oder Soul; vielmehr habe er sich von der Frage „Was mag ich gern, was möchte ich machen?“ leiten lassen. Befürchtungen, durch seine musikalischen Grenzgänge die Gunst des klassischen Publikums zu verlieren, weist er weit von sich:
„Es gibt wirklich nur gute und schlechte Musik, das ist für mich das Kriterium. Wenn mir Musik zusagt und wenn mir Musik etwas zu sagen hat, dann möchte ich das einfach auch tun. Es geht auch gar nicht immer nur um den Transport von wertvollen Texten, die sind im Soul – es geht um Liebe, Drama, Wahnsinn – wie in der klassischen Musik auch.“
Im Gegensatz zu Künstlern, die auf Teufel-komm-raus ernst genommen werden möchten, hat Quasthoff keine Profilierung mehr nötig. Er muss nicht verstören, erschrecken und beweisen, dass gute Kunst nur durch Leiden erzeugt wird. Gelassen zieht er das Fazit, dass es letzten Endes doch nur darum ginge, das Publikum zu erfreuen und zu unterhalten. Dass ihm dies, ob nun mit italienischen Arien oder amerikanischen Songs gelingt, beweisen die Reaktionen des Publikums – die Welt will in diesem Zusammenhang „grenzenlosen Jubel“ ausgemacht haben – einmal mehr. Das Material von Tell It Like It Is wurde vor den Studioaufnahmen seit Februar 2010 live erprobt, darunter auf dem Salzburger Sommer, und mit jedem Auftritt nahmen die Interpretationskraft des Sängers und seiner Begleiter (u.a. Bruno Müller, Frank Chastenier, Dieter Ilg und Wolfgang Haffner) zu. Dem Album hört man dann auch an, dass sich hier keine bunt zusammen gewürfelte Truppe einfach mal an Soulsongs versucht, sondern dass Zusammenspiel und Arrangements über eine lange Zeit gewachsen sind.
Hörenswert das verjazzte Ain’t No Sunshine, die Orgel auf Please Send Me Someone To Love oder das funky The Whistleman! Ich persönlich mag Have A Talk With God sehr gern; das für mich schönste Stück des Albums aber ist eindeutig Georgia On My Mind. Nur die Stimme von Thomas Quasthoff und Frank Chasteniers Piano – da kommt, jenseits aller Genrebegrenzungen, wieder das Gänsehautgefühl wie schon bei der Winterreise auf.
Stephan Scheuss / One Pure Soul
Und gleich nochmal Soul. Dass den auch bleiche Jüngelchen im Blut haben können, wurde an dieser Stelle mit Künstlern wie Daniel Merriweather oder Mayer Hawthorne wohl schon oft genug bewiesen. Dass auch bleiche deutsche Jüngelchen dazugehören, sollte jetzt spätestens mit Stephan Scheuss auch dem Letzten klar werden. Mich persönlich freut es immer, wenn gute Musik aus heimischen Gefilden kommt; das ist so ähnlich wie der Kauf von regional angebautem Obst und Gemüse im Supermarkt. Irgendwie ethisch korrekter. Schmackhaft ohnehin.
Ähnlich wie sich die konventionellen, auf Hochglanz polierten und nicht nur völlig gleich aussehenden, sondern auch ewig gleich schmeckenden Äpfel im Supermarkt zu ihren nicht ganz so stromlinienförmigen Brüdern und Schwestern vom Markt verhalten, stehen die austauschbaren Produkte der Plattenmultis dem Album von Stephan Scheuss gegenüber. Nicht nur, dass er um Klassen origineller ist – er macht auch die bessere Musik. Schließlich ist der 37-jährige Leverkusener nach fünf Jahren bei Purple Schulz ein alter Hase. Mit One Pure Soul legt er nun sein erstes Soloalbum vor, und das im Wortsinne, denn fremde Hilfe benötigt Stephan Scheuss nicht. Man hört seine Gitarre, seine Stimme und einige Vokal-Overdubs, die hier und da an Bobby McFerrin erinnern. Mehr nicht.
Alles begann damit, dass Scheuss, noch ohne an ein Programm oder gar ein Album zu denken, seinen Lieblingssongs aus Soul und Jazz völlig neue Arrangements verpasst hat, nur so zum Spaß. Michael Sembellos Maniac beispielsweise klingt nach der Bearbeitung durch Scheuss wie ein Jazz-Standard, Marvin Gayes What’s Going On wie ein Stück Kammermusik, der Jazz-Klassiker My Funny Valentine hingegen wird zur Gitarren-Schrammel-Nummer mit leicht südlichem Einschlag. Werktreue ist nicht das, was sich der Sänger/Gitarrist auf die Fahnen geschrieben hat. Im Gegenteil, die Originale werden hier der musikalischen Welt des Stephan Scheuss angepasst.
Drei Eigenkompositionen hat er auf das Album geschmuggelt. Die könnten aber ebenso aus dem großen Repertoire der Soul- und Jazz-Klassiker stammen. Scheuss profiliert sich mit ihnen nicht nur als seriöser Songwriter, sondern auch als außergewöhnlicher Sänger. Insbesondere Just Go zeigt sein großes stimmliches Spektrum. Im Falsett klingt er wie Maxwell oder ein ähnlich verdienter Crooner. Das Herzstück von One Pure Soul aber bildet nach wie vor die autarke Bearbeitung bestehenden Liedgutes. Behutsam zergliedert Stephan Scheuss den Isley Brothers-Klassiker Harvest For The World, um ihn erst im Refrain wieder zusammenzufügen, afrikanisiert den Gamble & Huff-Song Drowning In The Sea Of Love und haucht dem Beatles-Hit Baby You Can Drive My Car ungeahnte Seele ein. Bei Tears Of A Clown musste ich erst einmal ins Booklet gucken, ob es wirklich um den Smokey Robinson-Song handelt, den Scheuss da in der Mangel hat.
Stephan Scheuss hat so wenig Respekt vor den Originalen, wie es sich nur jemand mit sehr viel Talent und künstlerischer Souveränität leisten kann. Und ist mit seiner Herangehensweise doch so viel näher an der Seele der Songs dran als so manches uninspirierte Cover, was dann doch wieder von vermehrtem Respekt vor den Originalen zeugt.
Plattenkritik: Berlin Lounge | Martina Topley Bird | Andreya Triana | Kathrin Scheer | Peder af Ugglas | Fredrika Stahl | Thomas Quasthoff | Stephan Scheuss
- 1 Berlin Lounge | Martina Topley Bird | Andreya Triana | Kathrin Scheer | Peder af Ugglas | Fredrika Stahl | Thomas Quasthoff | Stephan Scheuss
- 2 Berlin Lounge / The Finest German Downtempo Selection
Das Ganze war eine Erfindung der New Economy. Ob Sie es nun Chillout, Ambient, Lo-fi, Lounge, Downtempo, Smooth Jazz oder schlechterdings Klangtapete nennen möchten - die unaufdringlichen, halb elektronischen, halb organischen Klänge störten weder bei Business Lunch noch Afterwork Party. Kein Wunder, dass sie fortan wie Pilze aus dem Boden schossen, und mit ihnen die neuen, leisen Helden einer ganzen Generation von Musikhörern: Massive Attack, Morcheeba, Moloko oder Thievery Corporation, Nightmares on Wax, Kruder & Dorfmeister hat wohl ein jeder in seinem CD-Regal stehen. Das Problem mit dieser Musik ist: Sie gefällt jedem. Als kleinsten gemeinsamen Nenner zeitgenössischen Musikgeschmacks setzte ihr Benjamin Stuckrad-Barre, einer der Hauptakteure des ebenfalls der New Economy entsprungenen Phänomens namens „Pop Literatur“, in seinem Roman Soloalbum ein Denkmal. Dort bittet eine Partybekanntschaft den Erzähler, die DJ Kicks des Wiener Duos Kruder & Dorfmeister aufzulegen:
„Platten wie eben die oder auch Portishead, Daft Punk, Massive Attack oder so sind ein echtes Problem - gute Musik, aber eben doch von allen so gnadenlos gerngemocht, dass man wirklich wieder dieses gymnasiale Abgrenzungsproblem aufkeimen spürt: Die sind blöd, die können also auch keine gute Musik hören. Und Umkehrschluss: Dann ist ja vielleicht doch die Musik doof? Ist sie natürlich nicht. Trotzdem ist DJ Kicks jetzt schon mit ziemlicher Sicherheit die Köln Concerts dieser Generation.“
Mehr als eine Dekade später und lange nachdem die New Economy zugrunde gegangen ist, erfreut sich Loungemusik in all ihren Spielarten immer noch ungebrochener Beliebtheit. Die damaligen Protagonisten arbeiten mal mehr, mal weniger erfolgreich an der Erneuerung des Genres (siehe zum Beispiel: Thievery Corporatio, Morcheeba), und auch einschlägige Sampler werden in die jeweils nächste Runde geschickt. Gelangweilt davon? Das wäre schade, denn hier kommt eine Compilation, die Sie nicht verpassen sollten, und das aus gleich drei Gründen.
Erstens: Warum in die Ferne schweifen oder: Es muss nicht immer Morcheeba sein. Auch in Deutschland gibt es großartige Downbeat-Acts. Wenn Sie diese bislang noch nicht kennen, können Sie durch Berlin Lounge. The Finest German Downtempo Selection von Wagram Music eine musikalische Bildungslücke schließen. So kompakt bekommen Sie die etablierten heimischen Genre-Vertreter, bei denen es sich keinesfalls nur um Berliner handelt, nie wieder. Hier tummelt sich alles, was Rang und Namen hat, von Micatone und Boozoo Bajou über RE:Jazz und Jazzanova bis hin zu Lützenkirchen und De-Phazz, deren Album Lala 2.0 ich, nebenbei bemerkt, bislang für das Album des Jahres halte - und das nicht nur wegen des genialen Titels! Für den Frischekick sorgen ausgesuchte Newcomer der Szene, die das Doppel-Album auch für Kenner interessant machen.
Zweitens: Berlin Lounge ist um Klassen cooler als es Café del Mar je war. Vielleicht haben Sie ja auch die eine oder andere Party zu beschallen und einen Ruf zu verlieren ... Und schließlich drittens: Neben ausgemachten Electro-, Lounge- und Chillout-Acts finden Sie hier das großartige Duett Come Marry Me der Berlin-Balkan-Connection Ms Platnum und Peter Fox. Sollten Sie dieses bisher aus welchen abstrusen Gründen auch immer noch nicht kennen, etwa, weil Sie die letzten zwei Jahre auf dem Mond verbracht haben, dann wird es jetzt höchste Zeit. Ein Über-Song, der sich überraschend gut in diesen Sampler einfügt - das muss daran liegen, dass hier eigentlich nur tolle Titel vertreten sind. Ein Sampler ohne Schwachpunkt. Das ist auch selten.
Martina Topley Bird / Some Place Simple
Weil wir schon einmal dabei sind: Bleiben wir doch bei „Downtempo“ und „großartig“, schon haben wir die Zutaten für das dritte Werk der Topley-Bird. Regelmäßigen Lesern muss die Pop Noir-Musikerin wohl nicht mehr vorgestellt werden, schließlich hatte es mir ihr Album The Blue God zu sehr angetan.
Neu im eigentlichen Sinne sind die Songs auf Some Place Simple nicht. Vielmehr hat Martina Topley-Bird ihre persönlichen Favoriten aus den beiden letzten Alben Quixotic und The Blue God mit brüchiger Stimme zu den trockenen Klängen von entweder gedämpfter Akustikgitarre, afrikanischem Daumenklavier, Glockenspiel oder Orgel im Rahmen ihrer Live-Auftritte neu eingespielt. Stellenweise sogar komplett a capella ist Some Place Simple eher ein Unplugged- denn klassisches Live-Album. Bis auf wenige Ausnahmen spielt Martina Topley-Bird solo, oftmals nur ergänzt um Englands Top-Perkussionisten Fergus Gerrand, der allerlei Schlagwerk clever und versiert bedient.
Da gibt es den Topley-Bird Klassiker Baby Blue, der auf drei Akkorde eines mexikanischen Party-Songs zurückgeht oder meinen Favoriten Phoenix, dessen knödelige Keyboardparts die Affinität der Musikerin zu kambodschanischer 60er-Jahre-Musik anklingen lassen. Das karibisch anmutende Da Da Da, das gänzlich ohne Lyrics auskommt. Oder Poison mit seiner treibenden Xylofonbegleitung. Rockig wird es bei den Sandpaper Kisses mit schweren Gitarren und Hau-drauf-Schlagzeug. Schlagzeuglastig bleibt es auch bei All Day, einem Duett zwischen Stimme und Drums. Beim nächsten Song Ilya dann Vocals und Fingerschnippen, begleitet von der live multiplizierten Gesangsstimme - eine Loopstation macht den Effekt möglich.
Dank der minimalistischen Herangehensweise wird hier, was auf The Blue God noch düster und unheilvoll daherkommt, leicht und hell. Die reduzierte Instrumentierung lässt keinen Platz für Überproduktion; die Songs sind oftmals nur ein oder zwei Minuten kurz und erinnern mit ihren tröstlichen Melodien an Schlaflieder, die man jeden Abend gern wieder hören möchte. Eigentlich hat die Topley-Bird mit Some Place Simple eine Folk-Platte gemacht. Tragischer TripHop wird hier volkstümlich im besten Sinne. Und trotzdem nicht simpel, denn dieses feine Wunderwerk entfaltet mit jedem neuen Hören einen weiteren Teil seiner - zunächst verborgenen - Komplexität.
Andreya Triana / Lost Where I Belong
Der britische Produzent und DJ Simon „Bonobo“ Green, der schon Bajka zum Durchbruch verhalf, hat ein Händchen für ungewöhnliche Vokalistinnen mit Wurzeln im Spoken Word-Sektor. Kein Wunder, dass er auch für das Debütalbum Lost Where I Belong der Londoner Autodidaktin Andreya Triana verantwortlich zeichnet. Diese begann bereits im zarten Alter von sieben Jahren mit dem Schreiben eigener Lieder, wobei sie sich von ihrer multikulturellen Südlondoner Umgebung inspirieren ließ. Zehn Jahre später konnte man sie nachts auf diversen Open Mic-Veranstaltungen antreffen, während sie sich tagsüber ihrem Tonmeisterstudium widmete. Nach ihrem Abschluss entschied sich Andreya Triana jedoch für die andere Seite der Regler, tourte als Frontsängerin mit verschiedenen Formationen aus dem Funk-, Nu Soul- und Latin Jazz-Bereich, um schließlich eine Solokarriere einzuschlagen. Eine Anzahl von Gastauftritten auf den Alben anderer Künstler folgte, bei denen sie ihren experimentellen Gesangsstil vervollkommnete, der schließlich in von ihr „FreeFlo Sessions“ getauften Home-Recording-Sitzungen seinen vorläufigen Niederschlag fand.
Mit Lost Where I Belong teilt Andreya Triana ihren musikalischen Kosmos nun auch mit dem Rest der Welt. Schon der Opener Draw The Stars nimmt den Hörer behutsam an die Hand und führt ihn ins Triana’sche Klangreich ein. Die Marimbas erinnern an die Topley-Bird, doch mildert Triana den ungewöhnlichen Sound mit einlullenden Streichern ab. Das gefällt sofort, ohne aber je gefällig zu sein.
Der zweite, titelgebende Track, ist zwar rhythmusgetriebener, aber immer noch schläfrig. Überhaupt haftet dem ganzen Album etwas angenehm Verschlafenes an.
Andreya Triana haucht sich durch die neun Tracks; mühelos erklimmt ihre Stimme jene Höhen, die bei Sängern wie Mariah Carey einfach nur anstrengend wirken, hier aber als luftig-leichte Hochseilakrobatik daherkommen. Und selbst wenn sie ihre Message nachdrücklich auf den Punkt bringt, klingen die mal rauchig-heiseren, mal spielerisch losgelösten Vocals von Andreya Triana immer noch tiefenentspannt. Wie Neneh Cherry oder Lauryn Hill nach Einnahme eines Muskelrelaxans, wie Sade gepaart mit etwas Jazzclub und einigen urbanen Szenen. Bei allem bleibt sie aber immer unverbindlich und schwerelos, selten schön, um genau zu sein. Anspieltipp: Daydreamers, vom Lie In The Sound-Kollegen Christoph Brandl aufs Treffendste als „zauberhafte Verflüsterung“ bezeichnet.
Kathrin Scheer / Rare
- 3 CD-Besprechung: Peder af Ugglas | Fredrika Stahl | Thomas Quasthoff | Stephan Scheuss - fairaudio